Macht und Ohnmacht
Macht und Ohnmacht
Die ETH will die Astronomie-Professorin Marcella Carollo entlassen. Doch die Schuld der angeblichen Mobberin ist nie überprüft worden. Der Fall gelangt an die Öffentlichkeit. Und ETH-Präsident Lino Guzzella stellt sich beim Krisenmanagement derart ungeschickt an, dass er die Abwahl fürchten muss. Der Fall ETH, Teil 2.
Von Silvan Aeschlimann, Dennis Bühler, Dominik Osswald (Text) und Dominic Nahr (Bilder), 20.03.2019
Die Gegendarstellung der ETH finden Sie am Ende des Artikels.
Elisabetta Marignano ist Doktorandin bei Marcella Carollo. Anfang 2017 erhebt Marignano Mobbingvorwürfe gegen ihre Betreuerin und wendet sich an den Ombudsmann der ETH. Der Konflikt eskaliert, als sich weitere Männer aus der ETH-Führungsriege einschalten. Keiner von ihnen hält sich an den vorgegebenen Konfliktlösungsprozess. Der «Fall Carollo» wird zum «Fall ETH»: Es entbrennt ein interner Machtkampf.
Dritter Akt: Der Präsident läuft ins Verderben
Rainer Wallny, rundes Gesicht, graue Haare, forscht zu den grossen Fragen des Lebens: Ihn interessiert, was die Welt im Innersten zusammenhält.
Im Studium fiel es dem gebürtigen Deutschen schwer, sich für eine Disziplin zu entscheiden. Er belegte Deutsche Literatur, Philosophie und Physik. Seit 2010 ist er ordentlicher ETH-Professor für Teilchenphysik, seit 2015 zudem stellvertretender Leiter des Physikdepartements. Weil Departementschef Simon Lilly mit Marcella Carollo verheiratet ist, ist der damals 47-jährige Wallny der Vorgesetzte der Astronomie-Professorin. Und damit auch zuständig für einen Haufen Probleme.
Am 4. Mai 2017, ein halbes Jahr nachdem der Streit zwischen der Professorin Carollo und der Doktorandin Elisabetta Marignano (Name geändert) eskalierte, führt Wallny eine Delegation an, die morgens um sieben im Hauptgebäude, Büro F 50.3, zu einer Unterredung mit ETH-Präsident Lino Guzzella und Vizepräsident Ulrich Weidmann eintrifft.
You can read this investigation also in English: «Systematic failure» (part one), «Power and Impotence» (part two) and «Rigged Game» (part three).
Die Affäre Carollo sorgt im Physikdepartement seit Monaten für Unruhe. Deshalb, findet Wallny, muss sich jetzt etwas ändern. Jedenfalls arbeitet er daran, wie Dokumente zeigen. Es reicht ihm nicht, dass man Carollo alle Doktoranden entzogen und ihr ein Coaching auferlegt hat. Um die Situation zu entschärfen, wäre es aus seiner Sicht besser, wenn man das Departement neu organisieren und so Carollo und ihren Ehemann isolieren könnte.
Am Astronomie-Institut gibt es zu diesem Zeitpunkt bloss drei vollwertige Professoren: Carollo, Lilly und Alexandre Refregier, der zwei Monate zuvor die Doktoranden von Carollo übernommen hat.
Seither erlebt der damals 48-jährige französische Astronom Refregier die Stimmung am Institut als feindselig. Darum will Rainer Wallny eine Neuorganisation. Aber auch, weil so endlich ein alter Zopf abgeschnitten werden könnte: Eine Doppelberufung eines verheirateten Paares ans gleiche Institut wäre heute nicht mehr regelkonform. Seit 2013 gelten die «Richtlinien über die Anstellung von Ehegatten/-gattinnen, Lebenspartnern/-partnerinnen und Verwandten an der ETH Zürich»: Um Interessenkonflikte zu vermeiden, müssen Professorenpaare in unterschiedlichen Departementen arbeiten.
Serie «Der Fall ETH»
«Eklat an der ETH: Professorin mobbt Studenten»: Diese Schlagzeile geht im Oktober 2017 um die Welt. Nur: Stimmt sie? Die Recherche zeigt: Der Fall der mobbenden Professorin ist ein Fall ETH.
Rainer Wallny hat eine mögliche Reorganisation vorab mit Vizepräsident Ulrich Weidmann besprochen. Dabei haben die beiden eine Tabelle angefertigt, in der sie allfällige Umplatzierungen sowohl von Carollo und Lilly als auch von Refregier mit ihren Kommentaren versehen haben:
Carollo umplatzieren? Schwierig – kein anderes Institut nähme sie auf («toxischer Export»).
Refregier umplatzieren? Ungerechtfertigt – «sieht aus wie ‹Bestrafung›».
Lilly und Carollo zu Einzelprofessuren machen? Möglich – auch wenn dies bei Lilly zur «Schwächung eines international sehr starken Forschers» führt.
Der Vorschlag, den Wallny Präsident Guzzella unterbreitet, ist denkbar einfach – und kommt vor allem Wallny selber zugute: Er will Refregier in sein eigenes Institut transferieren, das in «Institut für Teilchenphysik und Astrophysik» umbenannt werden soll. Das Astronomie-Institut möchte er auflösen und Carollo und Lilly zu unabhängigen Professoren ernennen, die losgelöst von der Hierarchie des Physikdepartements agieren. Ohne Zugehörigkeit zu einem Institut müsste Lilly als Departementsleiter abtreten, womit auch gleich das Problem der Befangenheit gegenüber seiner Ehefrau gelöst wäre.
Ein Geniestreich.
Nach einer Stunde ist Wallnys Plan an diesem Morgen des 4. Mai 2017 beschlossene Sache: Das Ehepaar Carollo/Lilly wird verdrängt. Das Astronomie-Institut, das die beiden während eineinhalb Jahrzehnten aufgebaut haben und in das rund 40 Millionen Schweizer Franken investiert wurden – es wird aufgelöst.
Die Nachfolge Lillys als Departementschef soll eine Findungskommission bestimmen, geleitet von Rainer Wallny, der sich einige Monate später selber finden und an die Spitze aufsteigen wird.
Nachfragen der Republik zu seinen Motiven lässt der Teilchenphysiker unbeantwortet.
Der dritte Akt ist lanciert.
Es ist ein weiterer entscheidender Moment in der Chronologie der Affäre Carollo. Die institutionellen Massnahmen implizieren, dass die Vorwürfe gegen Professorin Carollo stimmen. Das ist möglich – aber eben immer noch nicht geprüft. Carollo wurde das rechtliche Gehör immer noch nicht gewährt.
«Unerfreulich, aber nicht problematisch»
ETH-Präsident Guzzella glaubt, er habe den Fall Carollo innert Monatsfrist gelöst. Doch ein Brief von Ombudsmann Wilfred van Gunsteren setzt ihn erneut unter Druck. Er fordert Guzzella auf, Carollo zu entlassen: Sie zeige «keinen Zweifel an der eigenen Vorgehensweise und dem eigenen Aufgabenverständnis». Die Grundlage für seine Schlussfolgerung: Carollos Antwortschreiben zu den zusammengefassten Testimonials. Carollo hat den Brief als Rechtfertigung geschrieben, der Ombudsmann wertet ihn nun als Beweis für ihre Uneinsichtigkeit.
Dass die Testimonials nach wie vor nicht auf ihren Wahrheitsgehalt überprüft worden sind, spiele keine Rolle, schreibt van Gunsteren: «Die Ombudspersonen sind der Meinung, dass es wenig Sinn macht, versuchen zu überprüfen, ob alle in den verschiedenen Dokumenten erwähnten Fakten und Ereignisse korrekt sind oder nicht, weil sich solches im Nachhinein nicht mehr eindeutig feststellen lässt. Dies ist unerfreulich, aber nicht problematisch.»
Van Gunsterens Fazit: «Die Ombudspersonen sind der Meinung, dass ein Verbleib von Carollo als Professorin an der ETH einen Verstoss gegen Anstand und Ethik beinhaltet, und dass dies dem Institut für Astronomie, dem Departement Physik und der ETH mehr Schaden bringen wird als eine Entlassung.»
Damit bricht der Ombudsmann ein Tabu: Es ist nicht Aufgabe eines Ombudsmannes, eine Entlassung zu fordern. Sie müssen sich gemäss den ethischen Grundprinzipien der internationalen Ombudsvereinigung stets neutral, unabhängig, vertraulich und informell verhalten.
164 Jahre hat es die ETH vermieden, sich mittels einer Entlassung von einem Professor zu trennen. Um die freie Lehre zu gewährleisten, sind die Hürden absichtlich hoch gesteckt: Der Tatbestand muss gravierend sein, der Professor muss bei erwiesenem Fehlverhalten mindestens einmal schriftlich verwarnt worden sein und die Möglichkeit erhalten haben, sich zu verbessern.
Selbst wenn die Schulleitung all diese Punkte als erfüllt betrachtet, reicht das nicht: Erst muss sie eine Entlassungskommission einsetzen, die über die Angemessenheit der Kündigung befindet.
In Carollos Mitarbeiterakte aber ist nach wie vor nicht ein einziger Fehltritt notiert. Es gibt lediglich die ungeprüften Vorwürfe aus den Testimonials.
Darin werfen Doktoranden der Astronomie-Professorin vor, sie seien von ihr schikaniert worden, Carollo habe überhöhte Erwartungen an die Erreichbarkeit gehabt und bis spätnachts unfruchtbare Diskussionen geführt. Untereinander habe man von Sklavenhaltung gesprochen. Die Doktorandin Elisabetta Marignano schreibt in ihrem Testimonial: «Ich realisierte, dass ich Opfer von psychologischem Missbrauch durch meine eigene Betreuerin geworden bin.»
«Fall Carollo»: die Hierarchie in der ETH
ETH-Rat
Fritz Schiesser,
Präsident
Schulleitung
Ombudsstelle
Sarah Springman,
Rektorin
Ueli Weidmann,
Vizepräsident
Lino Guzzella,
Präsident
Wilfred
van Gunsteren
Antonio Togni,
Prorektor
Physikdepartement
Simon Lilly,
Vorsteher
Rainer Wallny,
stv. Vorsteher
Astronomie-Institut
Marcella Carollo,
Vorsteherin
Alexandre Refregier,
stv. Vorsteher
Simon Lilly,
ordentl. Professor
Kevin Schawinski,
SNF-Professor
Quelle: ETH Zürich Bilder: Keystone, ETH
«Fall Carollo»: die Hierarchie in der ETH
ETH-Rat
Fritz Schiesser,
Präsident
Schulleitung
Ueli Weidmann,
Vizepräsident
Lino Guzzella,
Präsident
Sarah Springman,
Rektorin
Antonio Togni,
Prorektor
Physikdepartement
Simon Lilly,
Vorsteher
Rainer Wallny,
stv. Vorsteher
Astronomie-Institut
Alexandre Refregier,
stv. Vorsteher
Marcella Carollo,
Vorsteherin
Simon Lilly,
ordentl. Professor
Kevin Schawinski,
SNF-Professor
Ombudsstelle
Wilfred
van Gunsteren
Quelle: ETH Zürich Bilder: Keystone, ETH
In den nächsten zwei Wochen treffen sich Präsident Guzzella und Vizepräsident Weidmann zweimal mit Lilly und Carollo, um sie über die Neuorganisation des Physikdepartements und die Auflösung des Astronomie-Instituts zu informieren.
Die Gespräche verlaufen emotional. Simon Lilly zeigt sich zutiefst enttäuscht über die Pläne der Leitung. Er fühlt sich, seine Arbeit und die seiner Frau gering geschätzt und tritt sofort als Departementschef zurück.
Marcella Carollo beklagt sich, dass die Vorwürfe gegen sie unhinterfragt übernommen worden seien und man ihr ohne Schlichtungsversuch zwei Doktoranden entzogen habe. Dies widerspreche der Doktoratsverordnung. Vizepräsident Ulrich Weidmann blockt ab, sagt, er habe jederzeit einen ausreichenden Überblick über die Situation gehabt, um Massnahmen zu treffen. So steht es im Protokoll.
Das Vertrauensverhältnis ist zerrüttet. Man verständigt sich darauf, für Lilly und Carollo die Möglichkeit von Frühpensionierungen zu prüfen.
«Du bist das Problem!»
Als Ingenieur hat sich Lino Guzzella darauf spezialisiert, Verbrennungsmotoren zu optimieren. Seit er im Januar 2015 das ETH-Präsidium übernommen hat, will er Verbesserungen in der Hochschule herbeiführen. Um seine Untergebenen zu Höchstleistungen anzustacheln, wird er nicht selten laut, zuweilen verlangt er nach Nobelpreisen. In die Politik unterhält der damals 59-Jährige ausgezeichnete Kontakte, in der Öffentlichkeit weiss er sich zu inszenieren. Doch ETH-intern wird er als Choleriker gefürchtet. Das erfährt nun auch Marcella Carollo.
Guzzella habe getobt, als sie ihn gemeinsam mit Simon Lilly am 24. Mai traf: «Was glaubst du eigentlich, warum wir hier sind?! Ich bin nicht das Problem, Lilly ist nicht das Problem, du bist das Problem!»
Dabei begann das Gespräch ruhig.
Der Präsident sagt, man wolle eine Lösung finden, die ihr, Lilly und der ETH möglichst wenig Schaden zufüge. Dafür gebe es zwei Optionen: eine Frühpensionierung oder einen Verbleib an der Hochschule. Beides nach einem halbjährigen Sabbatical, um die Situation zu beruhigen. Eine Rückkehr an die ETH sei nur denkbar, wenn sich Carollo ändern und sich während des vereinbarten Coachings vorbildlich verhalten werde. Geschehe dies nicht, werde man sie zuerst schriftlich ermahnen und dann ein Kündigungsverfahren einleiten.
Carollo und Lilly schlucken leer, dann verlangen sie die Details für eine Frühpensionierung. Guzzella antwortet: reduziertes Salär für Lilly ab Ende Jahr und ab 65 eine gewöhnliche Rente, unter der Voraussetzung, dass Carollo ihrerseits die Kündigung einreicht und bis Dezember verschwindet.
Keine Frühpensionierung für sie? Kein Lohn bis zu ihrem regulären Pensionsalter? Carollo glaubt, sich verhört zu haben. Sie fragt nach und löst damit das Toben des ETH-Präsidenten aus. So jedenfalls erinnert sie. Gegenüber der Republik verweigert Guzzella auch zu diesem Treffen jeglichen Kommentar.
Die Chefsache
Das Gespräch hinterlässt Spuren. Lange lässt sich das Professorenpaar Carollo und Lilly Zeit, bevor sie über die von Guzzella vorgeschlagenen Optionen entscheiden. Fast einen ganzen Monat.
Zuerst ist für Carollo alles klar: Selber kündigen will sie auf keinen Fall. Sie fühlt sich unschuldig, eine Kündigung aber käme einem Schuldeingeständnis gleich. Doch im Gespräch mit ihrem Mann kommen ihr Zweifel. Sie ist müde. Sie mag nicht mehr. Ihrem Mann geht es ähnlich, und nach einem Sabbatical würde es auch nicht mehr wie früher werden.
Endlose Jahre als Aussätzige an der ETH, ist es das wert?
Nach nächtelangen Diskussionen überwiegt das Gefühl, gegen das in ihren Augen erlittene Unrecht ankämpfen zu müssen. Eine kühle Berechnung trägt dazu bei: Carollo und Lilly müssen einsehen, dass sie die Hypothek auf ihr Haus im Zürcher Unterland mit seiner Rente allein nicht würden abzahlen können. Gemeinsam sind sie vor fünfzehn Jahren an die ETH gekommen, gemeinsam wollen sie die verbleibenden Jahre bis zur Pensionierung durchstehen.
Am 23. Juni 2017 informiert Lilly ETH-Präsident Guzzella, dass er sein Angebot zur Frühpensionierung ablehne.
Eine Woche später treten Lilly und Carollo ihr Sabbatical an. Damit will Guzzella die Akte schliessen. Aber er hat sich nicht mit dem Physikdepartement abgesprochen. Dort wird über einen «Hinterzimmer-Deal» gemunkelt und über die Gründe gerätselt, warum Guzzella der Professorin derart weit entgegengekommen sei. Ein halbes Jahr bezahlter Urlaub, danach ein Coaching – für Professoren und Doktoranden klingt das nach Belohnung, nicht Bestrafung.
Sein intransparentes Vorgehen kostet Guzzella auf allen Hierarchieebenen Rückhalt.
Auch Ombudsmann Wilfred van Gunsteren und der zukünftige Departementschef Rainer Wallny sind unglücklich mit der vom ETH-Präsidenten geschlossenen Vereinbarung. Beide wollen, dass Carollo nicht an die Hochschule zurückkommt, allerdings aus verschiedenen Gründen.
Van Gunsteren hat ihre Entlassung schon im Mai aus ethischer Überzeugung gefordert, Wallny will nicht die Verantwortung für die Personalie Carollo tragen müssen. Beide schreiben einen Brief. Der Wortlaut ist auffallend ähnlich. Ein Zufall? Oder haben sie sich abgesprochen? Erwiesen ist, dass sie im Vorfeld Kontakt zueinander hatten. Auf Anfrage wollen sich weder van Gunsteren noch Wallny zum Sachverhalt äussern.
«Rote Linie überschritten»
Der Ombudsmann adressiert seinen Brief vom 10. Juli 2017 nicht nur an den Präsidenten, sondern gleich an den gesamten ETH-Rat, das Aufsichtsorgan der Schulleitung. Er hat zwei Fälle ethisch und rechtlich unkorrekten Verhaltens zu melden: zum einen, wie sich Carollo gegenüber ihren Doktoranden und Mitarbeitern am Institut für Astronomie verhalten hat; zum anderen, wie der ETH-Präsident den «Fall Carollo» gehandhabt hat.
Im ersten Teil seines Briefes liefert er eine Zusammenfassung aus seiner Sicht und wiederholt die Forderung, die er bereits im Mai gegenüber Guzzella erhoben hat: Professorin Carollo sei aufgrund ihres ETH-unwürdigen Verhaltens zu entlassen.
Im zweiten Teil des Briefes geht van Gunsteren, der 12 Jahre zuvor selbst ETH-Präsident werden wollte, zum Frontalangriff auf Lino Guzzella über: «Die vom Präsidenten angeordnete ‹Lösung› des Problems durch eine Pause (Sabbatical) gefolgt von einem ‹Neuanfang› (Wiederaufnahme der Tätigkeiten) ist ein Schlag ins Gesicht der Opfer und deren Umfeld», schreibt er. Der Präsident habe mit seinem Entscheid, den Missstand unter den Teppich zu kehren, eine rote Linie überschritten. «Die Ombudspersonen haben den Eindruck, dass für den Präsidenten ‹Ruhe im Stall› und ‹keine Information über Missstände an der ETH› einen höheren Stellenwert haben als die ethische Integrität des Betriebs und die Interessen von jungen Menschen, die sich der ETH anvertraut haben.»
Der Brief endet mit der Warnung, irgendwann werde der «Fall Carollo» an die Öffentlichkeit gelangen. Oder ist es eine Drohung?
Wallnys Brief geht nicht an den gesamten ETH-Rat, sondern nur an Präsident Guzzella. Doch auch dieses Schreiben hat es in sich. Es beginnt mit der Befürchtung, dass man die «Causa Carollo» mit den bis zu diesem Zeitpunkt getroffenen Massnahmen nicht als abgeschlossen betrachten könne. Mitarbeiter des ehemaligen Astronomie-Instituts hätten sich besorgt gezeigt, dass alles beim Alten bleibe. Ausserdem werde auf Konferenzen gefragt, was denn an der ETH los sei.
Für aussenstehende Beobachter dürfe nicht der Eindruck entstehen, dass die Hochschule «die Vorfälle unter den Teppich kehren» wolle, schreibt Wallny. «Aus diesen Gründen ist äusserst wichtig, dass wir gemeinsam mit der Schulleitung zügig klare Signale nach innen und aussen schicken.»
Beiläufig erwähnt Wallny eine E-Mail von Professorin Carollo, in der sie sich über einen früheren Doktoranden beklagt. Sie äussert darin ihr Bedauern, dass ihr Antrag auf ein Beobachtungsfenster am Hubble-Space-Teleskop abgelehnt worden sei, weil der Doktorand seinen Teil des Antrags nicht eingereicht habe.
ETH-Präsident Guzzella reagiert drastisch auf Wallnys Schilderung: Er wirft Carollo per Einschreiben vor, den Doktoranden in ihrer E-Mail diffamiert zu haben, ermahnt sie und droht ihr im Wiederholungsfall mit der Kündigung.
Carollos damalige Anwältin weist den ETH-Rechtsdienst jedoch darauf hin, dass die Ermahnung nicht den juristischen Anforderungen entspreche. Die Hochschule sieht sich zum Rückzieher gezwungen: Sie teilt mit, es habe sich gar nicht um eine Ermahnung gehandelt, sondern um eine «informelle administrative arbeitsrechtliche Massnahme». Man habe diese bloss als «reprimand» (engl. für Ermahnung) bezeichnet für den Fall, dass Carollo das deutsche Wort nicht verstehe. Ihr heutiger Anwalt sieht darin den Versuch, eine Ermahnung auf trügerische Weise durchzusetzen.
Der Druck auf ETH-Präsident Guzzella wird nicht kleiner. Van Gunsterens Brief an den ETH-Rat, in dem er ihm vorwirft, im «Fall Carollo» zu lange untätig geblieben zu sein, dazu die fehlende Unterstützung aus dem Physikdepartement – beides könnte ihn im Frühling 2018 die Wiederwahl kosten.
Doch Guzzella ist kein Präsident, der sich einfach so aus seinem Amt schubsen lässt. Nach dem gescheiterten Versuch, Carollo zu ermahnen, schickt er Fritz Schiesser, dem Präsidenten des ETH-Rats, eine detaillierte Stellungnahme. Er hält fest, es gebe keinen Anlass, Carollo zu entlassen – in den fünfzehn Jahren ihrer Anstellung an der ETH habe sie sich gemäss ihrer Personalakte nichts zuschulden kommen lassen. Die in den Testimonials erhobenen Anschuldigungen deckten einen Zeitraum von vierzehn Jahren ab und seien im Nachhinein nicht eindeutig überprüfbar. Sie seien daher für personalrechtliche Massnahmen nicht verwertbar.
Ein letzter Versuch des Präsidenten, seinen bisherigen Kurs beizubehalten. Bald kämpfen innerhalb der ETH alle gegen eine. Und die ganze Schweiz schaut dabei zu.
Vierter Akt: Der Fall gelangt an die Öffentlichkeit
Herbst 2017: Ruhe ist eingekehrt um Marcella Carollo, zumindest oberflächlich. Im Zürcher Unterland schimmern die Bäume herbstlich rot, die Temperaturen steigen noch fast täglich auf über 20 Grad. Es ist ein Tag wie jeder andere, seit die Professorin am 1. Juli ihr Sabbatical angetreten hat. Bis Februar 2018 plant sie noch zwei kurze Forschungsaufenthalte in Harvard und Sydney, danach will sie mit neuem Elan an die ETH zurück.
Die Ruhe trügt.
Am 18. Oktober 2017 meldet sich die Sekretärin bei Marcella Carollo. Ein Journalist der «NZZ am Sonntag» habe angerufen, René Donzé. Er recherchiere zur Auflösung des Astronomie-Instituts, offenbar sind ihm die Vorwürfe gegen Carollo zu Ohren gekommen. Tags darauf schreibt Donzé die Professorin auch direkt an: Es sei ihm wichtig, beide Seiten der Geschichte zu hören. Und es sei auch in ihrem Interesse, ihre Sicht der Dinge darzulegen.
Carollo ist verunsichert. Umgehend informiert sie die Schulleitung, den Rechtsdienst und die Hochschulkommunikation. Trotz der Ereignisse der vergangenen Monate hat sie noch Vertrauen in die Institution ETH. Sie hofft, die Kommunikationsabteilung gebe eine Stellungnahme ab, die sowohl die ETH als auch sie schützt. Sie bittet darum, dass man ihr das Statement vorlegt, ehe es an den Journalisten geht.
In den nächsten Tagen schickt die ETH-Kommunikation Carollo drei E-Mails. Zwei gewollt. Und eine ungewollt.
In der ersten Mail dankt ihr die Abteilung, dass sie nicht direkt mit dem Journalisten gesprochen habe. Man werde die Sache in die Hand nehmen.
Die zweite E-Mail einen Tag später hätte wohl nicht bei ihr landen sollen. Ein Mitarbeiter der Hochschulkommunikation schreibt: «Liebe Alle, bin mir nicht so sicher, ob wir Frau Carollo unsere Statements schicken wollen, zumal wir nicht wissen, welche Quotes Donzé überhaupt gebrauchen wird (wohl kaum alle). Was meint ihr?»
Kurz darauf die dritte E-Mail: «Liebe Frau Prof. Carollo, wir haben die meisten unserer Aussagen mündlich im Kontext der Diskussion abgegeben. Ihnen konkrete Aussagen ohne Kontext zu geben, wäre nicht konstruktiv und insgesamt ist es nicht unsere Politik, unsere Stellungnahmen zu verbreiten. In dieser Hinsicht werden Sie vom Präsidenten kontaktiert, der Ihnen Informationen in einem breiteren Kontext geben wird.»
Drei Stunden später schreibt ihr Präsident Guzzella, man habe alles versucht, um sowohl die Institution ETH als auch die Professorin Carollo zu schützen. «Doch wir erwarten, dass der Artikel weder für die ETH Zürich noch für Sie positiv sein wird.»
Der vierte Akt ist lanciert.
Zwei Tage darauf, am 22. Oktober 2017, prangt die Schlagzeile in grossen schwarzen Lettern auf der Frontseite der «NZZ am Sonntag»: «Professorin mobbt Studenten». Journalist Donzé macht bekannt, dass das Astronomie-Institut aufgelöst wurde, schreibt von Machtmissbrauch, Mobbing und Abhängigkeiten.
Carollo und ihr Ehemann Simon Lilly werden anonymisiert, Donzé nennt sie «Gabriela M.» und «Paul F.». «Eine sehr gut informierte Person spricht von Clanwirtschaft innerhalb der ETH», steht im Artikel. Und: «ETH-Präsident Lino Guzzella wollte dafür sorgen, dass die Situation schnell bereinigt wird – und zwar möglichst so, dass keine grossen Wellen geworfen werden.»
«Nicht aktenkundig»
Dieser Sonntag ist für Marcella Carollo ein Albtraum. Lauter gravierende Vorwürfe gegen ihre Person in der Zeitung, garniert mit Zitaten einer Hochschulkommunikation, die sie bestenfalls halbherzig verteidigt. Sie ist empört, dass nirgends steht, dass die Anschuldigungen nie überprüft wurden. Und dass man es so aussehen lässt, als hätte die ETH das Astronomie-Institut allein ihretwegen aufgelöst.
Die Kommunikationsstelle hält einzig fest: Lange sei bei der ETH zu «Gabriela M.» nichts aktenkundig gewesen, deshalb habe man nichts unternommen. Ausserdem habe sie einigen Forschenden zu erfolgreichen Karrieren verholfen. Falls «Gabriela M.» aber in Zukunft wieder Doktoranden anstellen wolle, werde man sie sehr eng begleiten.
Innert Stunden schalten die meisten Schweizer Onlineportale eigene Beiträge über die Vorgänge an der ETH auf. Bald ist das ganze Land über die üblen Taten der Professorin mit dem Pseudonym «Gabriela M.» im Bild. Mit einem Klick lässt sich googeln, wer wirklich dahintersteckt.
Jetzt nimmt der Rufmord seinen Lauf.
Weitaus gravierender als der Zeitungsartikel wird für Marcella Carollo, was im späteren Verlauf dieses Sonntags geschieht: Um 20.37 Uhr verschickt ein ehemaliger Postdoktorand der britischen Portsmouth-Universität eine lange E-Mail an weltweit rund tausend Wissenschaftler des «Dark Energy Survey»-Projekts (DES), dem auch Carollo, Lilly und die Doktorandin Elisabetta Marignano angehören. Der Postdoktorand und Marignano haben sich bei DES-Treffen in Detroit und Stanford kennengelernt, seither stehen sie in Kontakt. Der junge italienische Wissenschaftler schreibt, er sei an seiner britischen Universität ebenfalls Opfer von Mobbing geworden. Auch Carollo kennt ihn. Er hat sich mehrmals bei ihr und Lilly beworben – stets erfolglos.
Die Community mischt sich ein
Mit seiner E-Mail macht der ehemalige Postdoktorand einen grossen Kreis bekannter und einflussreicher Astronomen auf den Fall von Mobbing an der ETH aufmerksam. Er zeigt sich empört, wie an der Zürcher Hochschule mit Doktoranden umgegangen wird. Seine Botschaft: Lasst uns zusammenstehen gegen solche Machenschaften. «Ich sage das um unserer selbst willen, um der Wissenschaft und dieser Zusammenarbeit willen», schreibt er.
Wieso informiert der ehemalige Postdoktorand wenige Stunden nach Bekanntwerden des Falls weite Teile der Astronomie-Community über die wahren Identitäten von «Gabriela M.» und «Paul F.»? Nachfragen der Republik zu ihrer Verbindung zum italienischen Nachwuchsforscher und zu dessen E-Mail lässt Marignano unbeantwortet.
Schnell wird der Artikel der «NZZ am Sonntag» ins Englische übersetzt und macht die Runde auf Social Media und Wissenschaftsblogs, wo respektable Astrophysiker wie Peter Coles von der Universität Cardiff gegen Carollo und Lilly wettern – obwohl Professor Coles weder das Ehepaar noch Details zum Fall kennt. In der Kommentarspalte seines Blogs wird Carollo gar mit Filmproduzent Harvey Weinstein verglichen, der in jenen Wochen beschuldigt wird, Frauen vergewaltigt oder sexuell genötigt zu haben.
Auch Chris Lintott, Professor für Astrophysik an der Universität Oxford und in Grossbritannien als Moderator der legendären BBC-Serie «The Sky at Night» bekannt, wird aktiv. Er zerpflückt einen «Letter of Support» für Carollo, den ehemalige Doktoranden und einige ihrer Arbeitskollegen verfasst haben. Sie äussern darin ihre Sorge, dass Carollo zu Unrecht als schlechter Mensch dargestellt werde, berichten über ihre persönlichen Erfahrungen und verbürgen sich dafür, dass sie keine Mobberin sei.
Lintott hat nie mit der Professorin gesprochen, wie er auf Anfrage der Republik bestätigt.
Innert weniger Tage werden Carollo und Lilly von den Universitäten Harvard und Sydney ausgeladen. Das renommierte Magazin «Science» berichtet über ihren Fall, genauso die indische Website «The Wire». Ein kanadischer Professor verfasst einen «Letter of Support» für die Doktoranden-Opfer, der von rund 700 Wissenschaftlern weltweit unterschrieben wird.
Auch ETH-Prorektor Antonio Togni setzt seinen Namen darunter.
Wenige Tage nach Erscheinen des Artikels in der «NZZ am Sonntag» liegt Carollo angezählt am Boden. Nun schlägt die Stunde der Profiteure.
«Gift im System»
Kevin Schawinski, Brillenträger mit dunklen Haaren, ist ein Mann mit einem starken Mitteilungsbedürfnis: Mehr als 27’000 Tweets hat er seit der Eröffnung seines Twitter-Kontos im Jahr 2011 verfasst. Die Medienaffinität wurde ihm in die Wiege gelegt: Er ist der Sohn von Roger Schawinski, dem bekannten Schweizer Radiopionier und Medienunternehmer.
Im selben Jahr, in dem Kevin Schawinski zu twittern beginnt, kommt er nach einem Doktorat in Oxford und einem vierjährigen Forschungsaufenthalt an der US-amerikanischen Eliteuniversität Yale als SNF-Professor ans Astronomie-Institut der ETH. Eine SNF-Professur ist eine auf sechs Jahre limitierte Anstellung an einer Schweizer Hochschule oder Universität, die vom Schweizerischen Nationalfonds (SNF) finanziert wird; eine Garantie, über die sechs Jahre hinaus an der Hochschule verbleiben zu können, gibt es nicht.
Dennoch liebäugelt Schawinski schon früh mit einer ordentlichen Professur. Noch bevor er das erste Mal einen Fuss in die ETH setzt, erkundigt er sich via E-Mail nach einer Möglichkeit zum dauerhaften Verbleib. Carollo, die ihm als Mentorin zugewiesen worden ist, wiederholt, was in Schawinskis SNF-Vertrag steht: Nein, die Professur ist zeitlich beschränkt.
Im Herbst 2015 schöpft Schawinski Hoffnung. Weil der vierte ordentliche Professor am Astronomie-Institut in die USA wechselt, wird überraschend ein Lehrstuhl frei. Die verbleibenden drei Professoren Carollo, Lilly und Refregier aber sind sich einig, dass der Lehrstuhl erneut mit jemandem aus dem Forschungsgebiet des Abtretenden besetzt werden soll. Schawinski passt nicht ins Anforderungsprofil.
Als die Doktorandin Elisabetta Marignano Anfang 2017 Anschuldigungen gegen Carollo erhebt, wendet sich auch Schawinski sofort gegen Carollo und Lilly. Der damals 35-Jährige rät der Doktorandin, sich einen Anwalt zu nehmen, und stellt für sie den Kontakt zu Präsident Guzzella her. Falls Schawinski in dieser Phase darauf spekuliert, bald den Posten Carollos erben zu können, hofft er vergebens. Mit der Auflösung des Astronomie-Instituts sieht er sich endgültig all seiner Zukunftsperspektiven an der ETH beraubt.
«Es gibt kein Institut mehr»
Bei seiner Befragung im Zuge der Administrativuntersuchung wird Schawinski zu Protokoll geben: «Meine Stelle läuft im August 2018 aus, und ich bin dann aus der Wissenschaft raus. Es wurde mir inoffiziell immer viel versprochen. Aber es gibt kein Institut mehr.»
Offenkundig lastet Schawinski dies primär dem Ehepaar Carollo/Lilly an, das er als «Gift im System» bezeichnet. Während der Administrativuntersuchung präsentiert er einen ganzen Katalog mit Vorwürfen, die sich alle als falsch herausstellen. Hier eine Auswahl davon:
Carollo sei vom Schweizerischen Nationalfonds hinausgeworfen worden, zudem werde gegen sie wegen Zweckentfremdung von Geldern ermittelt. – Beides ist falsch, wie der SNF auf Anfrage der Republik bestätigt.
Carollo habe ihn bei der Stellensuche sabotiert. – Die Professorin kann belegen, dass sie mehrere Empfehlungsschreiben für ihn verfasst und ihn wiederholt für Preise vorgeschlagen hat.
Carollo habe einen israelischen Postdoc am Institut aus nichtigem Grund gefeuert. – Dokumente, die der Republik vorliegen, zeigen, dass Carollo jahrelang gut mit ihm zusammenarbeitete, seine Anstellung über die vorgesehene Dauer hinaus verlängerte und ihm dabei helfen konnte, in Tel Aviv eine Professur zu ergattern. In seiner Abschiedsmail bedankt sich der Postdoc überschwänglich bei der Professorin: «Ich möchte Dir nochmals danken für den grossen Anteil, den Du zu meiner Erfahrung beigetragen hast. (...) Ich habe während meiner Zeit an der ETH (sowohl in Bezug auf Astrophysik als auch allgemein) viel gelernt, und ich werde die Erinnerungen an diese fünf unglaublichen Jahre immer hochhalten.»
Auf die Frage der Republik, ob er ein persönliches Interesse daran gehabt habe, dass Carollo schuldig befunden wird, schreibt Schawinski per E-Mail: «Carollo und Lilly haben so viele Studierende und Postdocs zerbrochen, dass der menschliche Schaden enorm ist. Es ist wichtig und richtig, dass sie zur Rechenschaft gezogen werden.»
Über Carollo herziehen wird nicht nur Schawinski junior, sondern auch sein Vater. In seiner Sendung «Roger gegen Markus» auf Radio 1 thematisiert Roger Schawinski am 5. November 2018 den «Fall Carollo», lästert über die Professorin und ETH-Präsident Guzzella und prahlt damit, er verfüge dank seines Sohnes über Insiderinformationen. «Die ETH – eine der zehn besten Universitäten weltweit – hat kein Institut für Astrophysik mehr, weil Herr Guzzella das Gefühl hatte, man müsse das Ganze unter dem Deckel halten», sagt Roger Schawinski. «Man merkt, welch unglaubliche Auswirkungen falsches Verhalten eines ETH-Präsidenten haben kann.»
Und sein Gesprächsgast Markus Somm, früherer Chefredaktor und Verleger der «Basler Zeitung», stimmt zu: Es sei unglaublich, dass man eine derart unerträgliche Professorin, deren Fehlverhalten erst noch von ihrem Ehemann gedeckt werde, nicht sofort entlassen könne.
Die Untersuchungen beginnen
Zurück in den Herbst 2017. Am Tag, nachdem der Artikel in der «NZZ am Sonntag» erschienen ist, trifft sich der ETH-Rat zu einer Sitzung. Die Lage ist ernst. Nun, da die Öffentlichkeit über die Vorgänge am Astronomie-Institut Bescheid weiss, ist dezidiertes Handeln gefragt.
Seit Wochen beschäftigt sich der ETH-Rat mit der Frage, wie er auf die Beschwerde von Ombudsmann Wilfred van Gunsteren reagieren soll, die er im Juli erhalten hat. Darin forderte van Gunsteren die Entlassung von Professorin Marcella Carollo und warf ETH-Präsident Lino Guzzella vor, er wolle die Angelegenheit «unter den Teppich kehren».
Nun beschliesst der ETH-Rat: Die Schulleitung soll eine Administrativuntersuchung zu den Geschehnissen am Astronomie-Institut einleiten. Bis anhin liege «im Dunkeln, ob die Vorwürfe ganz oder teilweise zutreffen und weshalb sie anscheinend über Jahre weder der Schulleitung noch vorgelagerten Stellen bekannt wurden».
Von der Untersuchung nimmt der ETH-Rat Präsident Guzzella aus. Es seien keine Anhaltspunkte für ein ethisch unkorrektes Verhalten ersichtlich. Es sei lediglich «mögliches Führungsfehlverhalten von X [Carollo] zu untersuchen».
Bei Carollo will er dagegen doppelt genau hinschauen. Auf einmal sollen nicht nur die Mobbingvorwürfe geprüft werden, sondern auch, ob sie sich wissenschaftlichen Fehlverhaltens schuldig gemacht habe.
Zur Erinnerung: Vor Monaten hat ETH-Vizepräsident Ulrich Weidmann gegenüber der Professorin versichert, dieser von Ombudsmann van Gunsteren erhobene Vorwurf sei unerheblich. Damals war es Carollo gewesen, die eine solche Untersuchung gefordert hatte, um ihre Unschuld zu beweisen. Doch inzwischen hat der Wind gedreht.
Ende November 2017 liegt Marcella Carollos Schicksal in den Händen zweier Männer: Professor Bernhard Plattner, der eine ETH-interne Voruntersuchung auf wissenschaftliches Fehlverhalten durchführen soll. Und Markus Rüssli, ein externer Anwalt, der mit der Durchführung der Administrativuntersuchung betraut wird.
Beide Untersuchungen werden zur Farce.
Gegendarstellung ETH
Die Republik schreibt (E-Mail an die Abonnenten): «Was wir wissen: Führungs-und Kontrollinstanzen der ETH haben die eigenen Abläufe grob missachtet.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Die im vorliegenden Zusammenhang involvierten Stellen haben die in den anwendbaren Gesetzen, Verordnungen und Weisungen vorgesehenen Verfahrensabläufe eingehalten.
Die Republik schreibt (S. 1): «Die Schuld der angeblichen Mobberin ist nie überprüft worden.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Der unabhängige externe Untersuchungsbeauftragte hat eine Untersuchung zur Klärung der Vorwürfe, die gegen die Professorin erhoben worden sind, durchgeführt.
Die Republik schreibt (S. 1): «Keiner von ihnen [Männern aus der ETH-Führungsriege] hält sich an den vorgegebenen Konfliktlösungsprozess.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Alle im vorliegenden Zusammenhang involvierten Stellen und Personen haben die in den anwendbaren Gesetzen, Verordnungen und Weisungen vorgesehenen Verfahrensabläufe eingehalten.
Die Republik schreibt: «Es reicht ihm [Wallny] nicht, dass man Carollo alle Doktorierende entzogen und ihr ein Coaching auferlegt hat.» Dass man ihr Doktorierende entzogen habe, trifft nicht zu.
Richtig ist, dass Carollo die Betreuung der Doktorandin Marignano einseitig niedergelegt hat und dass zwei andere Doktorierende den Wunsch nach einem Wechsel der Betreuungsperson geäussert haben, welchem die ETH entsprochen hat.
Die Republik schreibt (S. 3): «Das Ehepaar Carollo/Lilly wird verdrängt. Das Astronomie-Institut, das die beiden während eineinhalb Jahrzehnten aufgebaut haben und in das rund 40 Millionen Schweizer Franken investiert wurden – es wird aufgelöst.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Die wissenschaftliche Arbeit im Bereich Astronomie konnte weitergeführt werden. Dazu führte man eine organisatorische Restrukturierung durch, Prof. Lilly und Carollo setzten ihre Arbeit in selbstständigen Professuren fort, und die übrigen Teile des Instituts (eine ordentliche Professur, eine Assistenzprofessur und eine SNF-Förderprofessur) wurden ins neue Institut für Teilchen- und Astrophysik integriert.
Die Republik schreibt (S. 3): «Die Nachfolge Lillys als Departementschef soll eine Findungskommission bestimmen, geleitet von Rainer Wallny, der sich einige Monate später selber finden und an die Spitze aufsteigen wird.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Rainer Wallny war nicht Mitglied der Findungskommission. Die Findungskommission setzte sich aus den Professoren A. Vaterlaus (Vorsitz), M. Sigrist und A. Wallraff zusammen.
Die Republik schreibt (S. 3): «Carollo wurde das rechtliche Gehör immer noch nicht gewährt.» Das trifft nicht zu.
Zutreffend ist: Frau Carollo wurde wiederholt Gelegenheit geboten, zu den gegen sie erhobenen Vorwürfen Stellung zu nehmen, womit ihr das rechtliche Gehör gewährt worden ist.
ETH Zürich
Die Redaktion hält an ihrer Darstellung fest.
Der Fall ETH – das lesen Sie im dritten Teil
Für die ETH-Leitung ist klar: Professorin Carollo muss weg. Präsident Lino Guzzella, der sich lange gegen die Entlassung der Professorin gewehrt hat, verzichtet im Frühjahr 2018 überraschend auf eine zweite Amtszeit. Nur 74 Tage, nachdem Joël Mesot Guzzella abgelöst hat, lädt der neue ETH-Präsident zu einer für Carollo folgenschweren Medienkonferenz.
Silvan Aeschlimann ist Autor und Journalist in Zürich und Barcelona. Seine Romane «Glück ist teuer» (2017) und «Ungehört» (2013) kreisen um Themen wie Leistungsdruck, wirtschaftliches Wachstum und Materialismus.
Dominik Osswald ist gelernter Geologe, begeisterter Bergsteiger und freier Autor. Für Magazine und TV-Sender berichtet er über die AHV-Reform und die #MeToo-Debatte, extreme Bergtouren und den Klimawandel. Stationen bei «Basler Zeitung», «Tages-Anzeiger», SRF-«10 vor 10» und SRF-«Rundschau».
Dennis Bühler ist Redaktor der Republik.