Wütende Frauen, teure Wohnungen, fehlbare Konzerne – und ein Schnäppchenjäger
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (48).
Von Andrea Arezina, Elia Blülle, Dennis Bühler und Carlos Hanimann, 14.03.2019
Es ist Sonntagnachmittag. Der Saal des Bieler Volkshauses ist proppenvoll. Voll mit Frauen. Sie strecken ihre Faust in die Luft oder formen ihre beiden Hände zu einer Vagina. Die Frauen skandieren eine Parole nach der nächsten: «Streik! Streik! Frauenstreik!» Ans Aufhören denkt niemand.
Die 500 Frauen sorgen für Gänsehaut. Ihre Wut ist spürbar. Sie sind wütend, weil Frauen viel häufiger häusliche Gewalt erfahren als Männer. Oder weil sie es satthaben, sich gegen alltäglichen Sexismus wehren zu müssen.
Frauen aus der ganzen Schweiz sind an das nationale Koordinationstreffen zum Frauenstreik 2019 in Biel angereist. Der letzte derartige Streik liegt knapp dreissig Jahre zurück. Damals nahmen über eine halbe Million Frauen an Protest- und Streikaktionen teil. Die Idee dazu hatten Uhrenarbeiterinnen in der Vallée de Joux, die sich über die ungleichen Löhne in ihrer Branche empörten. Bis heute hat sich daran wenig geändert. Frauen verdienen im Schnitt immer noch 20 Prozent weniger als ihre männlichen Kollegen.
Und so ist auch die Forderung nach Lohngleichheit im Streikappell zu finden – neben Forderungen nach längerem Mutterschaftsurlaub, einem Bleiberecht für Migrantinnen und fünfzehn weiteren Forderungen, die so vielfältig sind wie die Frauen im Saal. Junge und alte Frauen sind hier, mit und ohne Migrationsvordergrund, Bäuerinnen und Professorinnen.
Die Planung der Streikaktionen vom 14. Juni: Sie geht nun richtig los.
Mehr zahlbare Wohnungen
Was bisher geschah: Das Parlament hat diese Woche die Volksinitiative «Mehr bezahlbare Wohnungen» abgelehnt und den indirekten Gegenentwurf des Bundesrats angenommen.
Was Sie wissen müssen: 5 Prozent der Wohnungen gehören heute gemeinnützigen Bauträgern wie Genossenschaften, Stiftungen oder Vereinen. Ihre Wohnungen sind langfristig preisgünstiger, weil sie für die Miete nur so viel verlangen, wie die Wohnung effektiv kostet. Es ist das Prinzip der Kostenmiete. Die Volksinitiative für mehr bezahlbare Wohnungen verlangt, dass bei mindestens 10 Prozent der neu gebauten Wohnungen die Bauträger nicht gewinnorientiert wirtschaften, sondern nach ebendiesem Prinzip. Dafür sollen Kantone und Gemeinden ein Vorkaufsrecht für geeignete Grundstücke bekommen. Der Bundesrat ist zwar auch der Ansicht, dass es eine Förderung des bezahlbaren Wohnraums braucht. Er möchte aber keine Vorschriften machen. Mit seinem Gegenentwurf will der Bundesrat den preisgünstigen Wohnraum mit einem Rahmenkredit von 250 Millionen Franken für die nächsten zehn Jahre fördern.
Wie es weitergeht: «Die Initiative wird nicht zurückgezogen», sagt die Generalsekretärin des Mieterinnen- und Mieterverbandes Natalie Imboden. Zur Abstimmung kommt die Initiative frühestens Anfang 2020. Sie dürfte an der Urne gute Chancen haben. In verschiedenen Städten (Zürich, Bern und Luzern) und Kantonen (Zürich, Waadt und Genf) hat das Stimmvolk vergleichbare Initiativen häufig angenommen.
Ständerat lehnt Konzerninitiative ab
Worum es geht: Die Konzerninitiative will Schweizer Unternehmen stärker in die Pflicht nehmen. Verletzen sie oder eine Tochtergesellschaft im Ausland Menschen- oder Umweltrechte, sollen sie dafür in der Schweiz vor Gericht gezogen werden können. Die Initiative und einen Gegenvorschlag dazu hat der Ständerat nun abgelehnt.
Was Sie wissen müssen: Letzten Sommer sah es noch gut aus für die Urheber der Initiative. Der Nationalrat hatte einen Gegenvorschlag ausgearbeitet, mit dem die Initianten zufrieden waren, und die ständerätliche Rechtskommission stimmte ebenfalls einem Gegenvorschlag zu, wenn auch einem verwässerten: Dieser sah vor, dass Verstösse einer Tochtergesellschaft im Ausland nur dann in der Schweiz eingeklagt werden können, wenn erwiesen ist, dass eine Klage im Ausland erschwert wäre. Trotz der Abschwächung hat der Ständerat den Gegenvorschlag nun abgelehnt. Er geht den Wirtschaftsverbänden und der bürgerlichen Mehrheit zu weit.
Wie es weitergeht: Die Konzerninitiative muss noch einmal eine Runde drehen – sie geht zurück an den Nationalrat. Gut möglich, dass die grosse Kammer nach dem Negativentscheid des Ständerates den eigenen Gegenvorschlag nun ebenfalls abstürzen lässt.
Tiefere Kinderrenten für IV- und AHV-Bezüger
Worum es geht: Bisher erhalten IV-Rentner mit Kind einen Zuschlag von 40 Prozent der eigenen Rente (sogenannte Kinderrenten). Der Nationalrat will diese Zulage nun auf 30 Prozent senken, um Fehlanreize zu korrigieren, die bei kinderreichen IV-Rentnern einer Integration in den Arbeitsmarkt entgegenstehen. Der Maximalbetrag pro Kind sänke von rund 950 auf 710 Franken, der durchschnittliche Betrag von etwa 530 auf 400 Franken.
Was Sie wissen müssen: Die Invalidenversicherung ist hoch verschuldet. Die Kürzung der Zusatzleistung für IV-Bezüger mit Kindern brächte dem Sozialwerk eine Entlastung von rund 110 Millionen Franken pro Jahr. Im Nationalrat stimmten die Vertreter von SVP, FDP, CVP und BDP dafür. Gleichzeitig beschlossen sie eine Änderung der Begrifflichkeit: Statt von Kinderrenten wollen sie künftig von «Zulagen für Eltern» sprechen. In den Augen der SP-Politikerin Silvia Schenker handelt es sich bei den gefällten Entscheiden um eine «unnötige Machtdemonstration gegenüber den Schwächsten», wie sie während der Nationalratsdebatte sagte.
Wie es weitergeht: Noch sind die Änderungen nicht beschlossen. Sie treten nur in Kraft, wenn im Juni auch der Ständerat zustimmt. Tut er das, müssen nach einer Übergangsfrist von drei Jahren nicht nur IV-Bezüger mit Kindern den Gürtel enger schnallen, sondern auch rund 26’000 AHV-Bezüger. So viele Pensionierte nämlich erhalten eine Zulage in identischer Höhe, da sie für Kinder aufkommen oder Jugendliche in Ausbildung unterstützen. Auch sie soll gestrichen werden. So liessen sich 72 Millionen Franken pro Jahr sparen. Der Betrag wuchs in den letzten Jahren stetig, da immer mehr Menschen im fortgeschrittenen Alter noch Kinder bekommen.
Schnäppchenjäger der Woche: Luzi Stamm (SVP)
Man könnte sagen: Es war ein Abgang mit einem Knall. Keiner hatte letzte Woche einen grösseren Auftritt als er – SVP-Nationalrat Luzi Stamm. Anfang letzter Woche hatte Stamm in den Gassen der Berner Altstadt ein wahres Schnäppchen gemacht: Er kaufte von einem Strassenmusiker ein Gramm Kokain für läppische 45 Franken. Die Absicht dahinter: der Drogenmafia in der Schweiz das Handwerk zu legen. Noch ehe man den Plan auch nur im Ansatz verstanden hatte, kam schon die nächste irre Meldung: Luzi Stamm war mit einer Million Euro Falschgeld durch das Bundeshaus spaziert.
Was war da los?
Offenbar beobachtet die Bundeshausfraktion der SVP Stamms Verhalten schon länger mit Sorge. Und die Aargauer Kantonalpartei hatte Stamm «aus gesundheitlichen Gründen» nicht für die Nationalratswahlen 2019 nominiert. Auch eine Petition pro Luzi Stamm konnte diesen Entscheid nicht mehr ändern: Der SVP-Nationalrat wird sich wohl spätestens im Herbst aus der nationalen Politik verabschieden.
Am Montag klemmte die SVP Aargau nun die Spekulationen um die jüngsten Verwirrungen ab: Stamm ziehe sich zurück, er befinde sich in ärztlicher Behandlung, schreibt die Partei in einer Medienmitteilung.
«Weitere Auskünfte: Keine.» Und das ist wohl gut so.
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