«Die EU ist dominant, egal wie eng ein Land an sie angebunden ist»
Der Politologe Clive Church kennt zwei Länder sehr genau: Grossbritannien und die Schweiz. Im Interview sagt er, was sie in den Verhandlungen mit der EU voneinander lernen könnten.
Ein Interview von Simon Schmid, 12.03.2019
Clive Church, in wessen Schuhen würden Sie lieber stecken: in denen der britischen Premierministerin Theresa May oder in denen des Schweizer Aussenministers Ignazio Cassis?
Definitiv in den Schuhen von Ignazio Cassis.
Warum?
Die Schweizer Regierung scheint bei ihren Verhandlungen mit der Europäischen Union unendlich viel besser organisiert als die Regierung von Grossbritannien.
Wirklich? Der Bundesrat macht beim Rahmenabkommen einen ziemlich ratlosen Eindruck.
Ja, die Landesregierung ringt noch um ihre Position. Aber immerhin hat sie rund ums Verhältnis der Schweiz zur EU eine breite Diskussion lanciert. Es geht um konkrete Fragen: Marktzugang, Gerichtsbarkeit, Lohnschutz. Das garantiert zwar nicht, dass sich ein Konsens herauskristallisieren wird, aber immerhin findet eine produktive Debatte übers Rahmenabkommen statt.
«Momentan fehlen der britischen Regierung schlicht die Fähigkeiten und das qualifizierte Personal, um überhaupt irgendeine Vision umzusetzen.»
Wird Grossbritannien auch einen Konsens finden?
Hier ist die Regierung fast drei Jahre nach dem Referendum zum Brexit noch keinen Millimeter weiter. Das Parlament ist zerstritten, die Öffentlichkeit gespalten.
Woran liegt das?
Im Kern lieg es an der Tatsache, dass der Brexit per se ein inhaltsloses Konzept ist. Der ehemalige Premierminister David Cameron hat das Referendum nicht abgehalten, um irgendeine konkrete und positive Idee zu verwirklichen – sondern nur aus parteitaktischen Gründen, um die europhoben Hardliner bei den Tories zu besänftigen. Das sind Leute, die nichts über die EU wissen, aber trotzdem gegen alles sind, was damit zu tun hat.
Und allein deshalb ist der Brexit ein inhaltsloses Konzept?
Es gab ja nie einen Plan, wie es nach dem EU-Austritt mit Grossbritannien weitergehen würde. «Brexit means Brexit», lautete Theresa Mays nichtssagendes Mantra nach dem Referendum. Aus politikwissenschaftlicher Sicht ist das eine ziemlich dünne Ideologie. Der Begriff suggeriert, man habe ein klares Ziel vor Augen. Wahr ist das Gegenteil.
Danach kam die Idee vom «globalen Britannien» auf.
Man kann durchaus eine solche Vision von Grossbritannien als global vernetzter Handelsnation haben.
Aber?
Momentan fehlen der britischen Regierung schlicht die Fähigkeiten und das qualifizierte Personal, um überhaupt irgendeine Vision umzusetzen.
Ein Beispiel, bitte.
Laut Handelsminister Liam Fox müsste das Land bis Ende dieses Monats siebzig neue Handelsverträge mit Staaten aus aller Welt abgeschlossen haben. Aktuell sind es gerade einmal sieben, darunter einige mit Zwergstaaten. Und beim wichtigsten Vertrag ging die Initiative nicht einmal von den Briten, sondern vom Partnerland aus: der Schweiz.
Ist «Global Britain» also gestorben?
Man könnte durchaus an dieser Vision festhalten. Aber dann müsste man auch akzeptieren, auf den Status einer mittelmässigen Macht relegiert worden zu sein, die sich gerade dazu entschlossen hat, ihre Nachbarn und langjährigen Alliierten zu brüskieren. Und man müsste mit der Realität leben, gegenüber der Europäischen Union als Drittland zu gelten. Was das bedeutet, davon kann die Schweiz ein Liedchen singen.
Was bedeutet es denn?
Dass man gegenüber der EU als Bittsteller auftritt. Man kann es drehen und wenden, wie man will: Wirtschaftlich werden Länder wie Grossbritannien oder die Schweiz immer von der viel grösseren EU abhängig sein. Sie werden die Regulierungen schlucken, die Brüssel beschliesst, und sie werden Zugeständnisse machen müssen, um Marktzugang zu erhalten.
Das hören die Briten nicht gerne.
Natürlich. Doch die Brexiteers suggerierten stets, Grossbritannien könnte nach einem Brexit alle Privilegien beim Handel mit der EU behalten und obendrein in Rosinenpicker-Manier auf einige Dinge verzichten – etwa auf die Agrarpolitik und die Personenfreizügigkeit.
Das ist Wunschdenken.
Ja, und langsam realisieren die Briten dies auch. Ganz im Gegensatz zu manchen Politikern, die nach wie vor an ihre eigene Propaganda glauben. Dominic Raab, der eine Weile als Brexit-Sekretär amtete, dachte, er sei am längeren Hebel und könne die EU unter Druck setzen. Dabei muss nur die Handelsroute von Calais nach Dover ein paar Tage lang behindert sein, und Grossbritannien hat bereits massive Versorgungsschwierigkeiten.
Ist das britische Politiksystem mit dem Brexit überfordert?
Solange eine Konfliktlinie entlang der Parteigrenzen verläuft, wird das Zweiparteiensystem mit fast allem fertig. Wird der Zwist aber innerhalb der Parteien ausgetragen – wie beim Brexit –, wird es schwierig. Davon zeugen die diversen Austritte von Parteimitgliedern, die es in den vergangenen Wochen sowohl bei den Tories als auch bei Labour gab.
Fallen die beiden Parteien jetzt auseinander?
Es gibt viele Hindernisse, die eine Reorganisation der Parteienlandschaft verunmöglichen. Das wichtigste davon ist das Majorzsystem bei den Unterhauswahlen: Die stärkste Partei in einem Distrikt erhält den Parlamentssitz, die anderen Parteien gehen leer aus.
Ein unfaires System?
Und trotzdem hält man es aus Traditionsgründen hoch. Würde man den Proporz einführen, wären negative Kommentare programmiert: Auswählen aus einer von 14 Parteien, wie soll denn das gehen? Dabei zeigen Länder wie die Schweiz, dass dies gar nicht so schwierig ist.
Was hätte Theresa May beim Brexit von der Schweiz lernen können?
Eigentlich eine ganze Menge. Aber für May war immer klar: Das EU-Anbindungsmodell eines anderen, kleineren Landes zu kopieren, kommt für Grossbritannien nicht infrage. Kommt hinzu, dass das Schweizer Modell aus britischer Sicht gewichtige Nachteile hat.
Welche Nachteile?
Die Grenzkontrollen. Sie würden nötig, weil Grossbritannien nicht mehr in einer Zollunion mit der EU wäre. Es ist dasselbe Problem, das Theresa May auch mit ihrem jetzigen Deal hat.
Wären Grenzkontrollen so schlimm?
Aus irischer und nordirischer Sicht schon. Es gibt dort eine kleine, aber unnachgiebige terroristische Strömung. Sobald deren Mitglieder etwas erblicken, dass einem Grenzposten gleicht, werden sie diese Einrichtung angreifen. Waren Sie schon einmal in Belfast?
Nein.
In den 1970er-Jahren musste ich dort Prüfungen von Studenten korrigieren. Die Stadt war damals in desolatem Zustand. Man wusste jeweils nicht: Sind das jetzt heruntergekommene Häuser, oder hat hier mal wieder eine Bombe eingeschlagen? Seit dem Friedensabkommen und der Öffnung der Grenzen ist Belfast eine moderne, progressive Stadt.
Dagegen kriseln viele Regionen in England.
Und von dort kommt auch der Hauptsupport für die Brexit-Bewegung. In ihrem Kern ist diese Bewegung zutiefst englisch-nationalistisch. Und sie ist obendrein verbittert darüber, dass Grossbritannien keine Imperialmacht mehr ist. Daraus speist sich der Hass gegen die EU.
Eine solche Vergangenheit hatte die Schweiz nie.
Zum Glück nicht. Vorbehalte gegenüber der EU gibt es natürlich auch in der Schweiz. Doch der pragmatische Euroskeptizismus obsiegt dann meist gegen die blindwütige Europhobie. In Grossbritannien ist das leider anders. Selbst unter den proeuropäischen Regierungen von Margaret Thatcher und Tony Blair wurde Europa nie wirklich als Chance verstanden.
Würde mehr direkte Demokratie den Briten guttun?
Auf jeden Fall. Statt regelmässiger Abstimmungen werden in Grossbritannien ja nur gelegentliche Volksbefragungen durchgeführt – wie es der Regierung gerade beliebt. Ein solches Vorgehen mag einem semiautoritären Regime vielleicht gut anstehen, aber einer westlichen Demokratie ist es eigentlich unwürdig.
Ist die direkte Demokratie der Schweiz denn kompatibel mit der Annäherung an die EU?
Fairerweise muss man sagen, dass es in diesem Bereich durchaus Schwierigkeiten gibt. Als 1992 über den EWR abgestimmt wurde, hielt man dies noch nicht für ein grosses Problem. Viele EU-Entscheidungen nahmen damals die Form von Direktiven an: Sie waren also bindend im Prinzip, aber nicht im Detail. Man ging davon aus, die Details national regeln zu können. Allerdings wurden die Regulierungen mit der Zeit immer engmaschiger. Und dann ist da noch die Guillotine-Klausel – in Grossbritannien nennt man sie «Schweizer Falle».
Sie bedeutet: Die Schweiz kann keinen bilateralen Vertrag einzeln kündigen.
Genau. Wenn sie das tut, fallen gleich alle Verträge zusammen weg.
Warum ist das eine Falle?
Ich vergleiche die Guillotine-Klausel jeweils mit einem Stolperdraht, über den eine direkte Demokratie wie die Schweiz mehr oder weniger aus Versehen stolpern kann – etwa, wenn eine Vorlage wie die Masseneinwanderungsinitiative angenommen wird. In diesen Fällen gerät gleich das gesamte bilaterale Vertragswerk ins Wanken.
Die bilateralen Verträge gelten trotz allem als Erfolg. Können Sie erklären, warum sich die Schweiz mit dem Rahmenabkommen derart schwertut?
Erstens sehen – ähnlich wie in Grossbritannien – eine Reihe von Leuten jegliche Deals mit der EU als Teufelswerk an. Bei denen ist nicht viel zu machen. Zweitens sind viele Leute im Prinzip glücklich mit dem wirtschaftlichen Nutzen der Integration – doch sie mögen den politischen Preis dafür nicht: den freien Personenverkehr, die eingeschränkte Gesetzgebungsfähigkeit, die Übernahme von EU-Richtlinien für den Arbeitsmarkt.
Gibt es da einen schlauen Ausweg?
Schauen Sie: Die Schweizer wie auch die Briten sind ohnehin schon stark europäisiert – egal ob in der EU oder nicht. Hunderte von Gesetzen und Regulierungen sind eins zu eins von der EU übernommen. Manchmal nimmt man sich nicht einmal mehr die Mühe, ein Gesetz selbst zu schreiben, sondern verweist einfach wie bei einem Hyperlink auf die Dokumente der EU. Lustigerweise ignorieren die Euroskeptiker dies total. Und echauffieren sich stattdessen an symbolischen Dingen wie der Unterordnung unter den Europäischen Gerichtshof.
Der Europäische Gerichtshof soll nur ein Symbol sein?
Was ich meine, ist: Viele Politiker bekämpfen den EuGH, weil er als Symbol für den Bruch der Souveränität eines Landes steht. Doch die gegenseitigen Handelsbeziehungen sind in der Realität ohnehin so komplex, dass man sich fragen muss, was Souveränität überhaupt noch heisst. Die EU ist sehr dominant, egal wie eng ein Land institutionell an sie angebunden ist.
Sehen Sie die Schweiz eigentlich als Sonderfall?
Mir kommen da immer diese Süssigkeiten in den Sinn, die man in britischen Küstenstädten verkauft. Runde Pfefferminz-Zuckerstängel mit eingravierten Sprüchen: «Come to Brighton».
Was haben diese Stängel mit der Schweiz zu tun?
Wäre die Schweiz eine britische Küstenstadt, würde sie ihre Süssigkeiten mit «Sonderfall» beschriften. Das Wort bringt vieles auf den Punkt, was die Schweiz und das Denken der hiesigen Leute ausmacht.
Auch in Bezug auf Europa?
Ja. Trotz aller Relativierungen, was die Souveränität betrifft, fährt die Schweiz hier einen Sonderzug. Und sie behält mit den bilateralen Verträgen und dem Rahmenabkommen einen ziemlich massgeschneiderten Marktzugang zur Europäischen Union.
Wie gut ist denn das Rahmenabkommen?
Das Abkommen ist vielleicht nicht in jeder Hinsicht wundervoll, aber es ist der beste Deal, den die Schweiz kriegen kann. Mehr wird die Schweiz nicht herausholen können, wie auch für die Briten nicht mehr drinliegt als der aktuelle Brexit-Deal.
Was soll die Schweiz tun?
Sie muss sich entscheiden, ob sie das Opfer erbringen und die wirtschaftlichen Vorteile einer vertieften Anbindung an Europa nutzen oder ob sie es den Briten gleichtun will – und nach einem Bruch mit der Europäischen Union isolierter dastehen will, als sie es bis jetzt war.
Clive Church ist ehemaliger Professor an den Universitäten von Sussex und Kent. Der britische Politikwissenschaftler ist spezialisiert auf europäische Institutionen und einer der besten Kenner der Schweiz. 2013 erschien sein Buch «A Concise History of Switzerland», 2016 erschien «Political Change in Switzerland». Darin analysiert Church den Wandel der letzten Jahrzehnte und interpretiert die zeitgeschichtliche Politik der Schweiz.