Der mühsame Weg zur Gleichstellung der Geschlechter
Es gibt Fortschritte. Doch man braucht eine Lupe, um sie zu erkennen: Zahlen zum Erwerbsleben von Frauen und Männern über eine Generation.
Von Simon Schmid, 11.03.2019
27 Jahre: Dieser Zeitraum entspricht ungefähr einer Generation. In meinem Fall sogar genau – zumindest auf der einen Seite. Mein Vater ist 27 Jahre älter als ich. Meine Mutter ist etwas jünger als er, wie dies bei Paaren oft üblich ist.
Eine Generation, also – 27 Jahre. Ich muss gestehen, dass ich eigentlich kein Kulturpessimist bin. Ich glaube an den Fortschritt oder zumindest daran, dass Dinge sich ändern, wenn Gesellschaften dies wollen. Zum Beispiel bei den Geschlechterrollen im Erwerbsleben: Wenn hier Gleichstellung sozial erwünscht ist, dann wird sich Gleichstellung irgendwann auch einstellen.
Doch die Statistiken sind ernüchternd. Über die vergangene Generation hat sich bei den Geschlechterverhältnissen wenig verändert. Ja: Bescheidene Fortschritte gab es. Doch das Tempo des Wandels ist quälend langsam.
1. Partizipation
Die Männer gehen einer Erwerbsarbeit nach, die Frauen machen den Haushalt: Ich würde nicht sagen, dass dies vor 27 Jahren das ideale Rollenbild war. Doch bei uns war es so. Meine Mutter übernahm grösstenteils die Betreuung von uns Kindern.
Der Blick in die Statistiken zeigt, dass diese Konstellation nicht untypisch war. 1991 lag die Erwerbsquote der Frauen zwischen 15 und 64 Jahren bei knapp 70 Prozent. Das bedeutet: 7 von 10 Frauen nahmen am Erwerbsleben teil, 3 von 10 Frauen gingen keiner Arbeit ausserhalb des Haushalts nach. Die Erwerbsquote der Männer lag 1991 über 90 Prozent.
Inzwischen ist es zwar zu einer Angleichung gekommen. Die Erwerbsquote der Frauen ist von 70 auf fast 80 Prozent gestiegen; 8 von 10 Frauen gehen heute einer bezahlten Arbeit nach oder sind zumindest auf Stellensuche. Die Erwerbsbeteiligung der Frauen liegt damit nur noch knapp unterhalb jener der Männer, bei denen die Beteiligung in den letzten 27 Jahren sogar leicht unter 90 Prozent sank – so, dass sich die Erwerbsbevölkerung mittlerweile fast zu gleichen Teilen aus Männern und Frauen zusammensetzt.
Doch die restlichen Indikatoren, die das Bundesamt für Statistik im Bereich der Geschlechtergleichstellung führt, zeigen ein anderes Bild. Die Schere zwischen Mann und Frau: Sie schliesst sich bloss bei der Erwerbsquote. Bei anderen Statistiken bleiben grössere Diskrepanzen bestehen.
2. Beschäftigungsgrad
Zum Beispiel beim Beschäftigungsgrad – also beim Arbeitspensum, das Frauen und Männer in ihrem Job ausserhalb des Haushalts verrichten.
Hier dominiert bei den Männern noch immer das klassische Modell der Vollzeitarbeit, das in der Statistik mit einem Arbeitspensum von 90 Prozent oder höher gleichgesetzt wird. 8 von 10 Männern sind aktuell in diesem Umfang beschäftigt, besagen die Zahlen. Ein zaghafter Wandel hat allerdings auch hier eingesetzt: Vor 27 Jahren arbeiteten sogar 9 von 10 Männern Vollzeit.
Ganz anders sieht die Verteilung beim weiblichen Geschlecht aus. Nur 4 von 10 Frauen arbeiteten 2018 Vollzeit – von den restlichen 6 Frauen arbeiten 3 in Teilzeitpensen von über 50 Prozent und 3 in Pensen von unter 50 Prozent. Bei Frauen hat sich der Anteil der Teilzeit- gegenüber den Vollzeitstellen über die letzten 27 Jahre sogar leicht erhöht.
Man könnte versucht sein, aus dieser Darstellung zu schliessen, dass die Arbeitswelt immer unfairer wird und dass den Frauen immer weniger Vollzeitpensen zugestanden werden. Doch das wäre wohl falsch gedacht.
Wahrscheinlicher ist ein anderes Phänomen: dass der Zustrom von Frauen in den Arbeitsmarkt, der über die letzten 27 Jahre stattgefunden hat, vor allem in Teilzeitpensen gelenkt wurde. Gemessen an der Gesamtbevölkerung ist die Quote der Vollzeit arbeitenden Frauen nämlich relativ stabil. Doch weil insgesamt mehr Frauen in Teilzeit einer bezahlten Arbeit nachgehen, sinkt die Quote der Vollzeitpensen gemessen an der Erwerbsbevölkerung. Der Rückgang dieser Quote kann also auch eine Übergangserscheinung sein.
So oder so ist aber klar: Hinsichtlich des Beschäftigungsgrades unterscheiden sich Männer und Frauen nach wie vor deutlich. Vollzeitarbeit bleibt typisch Mann – demgegenüber arbeiten immer mehr Frauen in Teilzeitpensen.
Auch dieser Trend widerspiegelt sich in meiner Familiengeschichte. Als mein Bruder und ich in die Schule kamen, stieg meine Mutter nach und nach wieder ins Erwerbsleben ein. Sie arbeitete in der Gesundheitsbranche und in der Kommunikation – meistens in Teilzeit zwischen 50 und 80 Prozent, nur während ein paar Jahren in einem Vollzeitpensum. Mein Vater arbeitete derweil immer zu 100 Prozent. Und als Selbstständiger zuweilen auch mehr.
3. Führungspositionen
Später liessen sich meine Eltern scheiden; meine Mutter heiratete einen anderen Mann, den sie bei der Arbeit kennengelernt hatte, eine Person aus derselben Branche. Soziodemografisch typisch: Er ist eine Führungskraft, während sie in ihrem Unternehmen keine Leitungsfunktion innehat. Diese Aufgabenteilung entspricht nach wie vor der schweizerischen Normalität.
Gemäss den Zahlen des Bundesamts für Statistik bekleiden derzeit über 30 Prozent der erwerbstätigen Männer eine leitende Position. Das heisst, sie sind in der Unternehmensleitung oder haben eine Vorgesetztenfunktion. Bei den Frauen liegt dieser Anteil nur bei gut 20 Prozent. Demgegenüber sind fast 70 Prozent der Frauen in Positionen ohne Führungsverantwortung tätig. Der entsprechende Anteil bei den Männern liegt nur bei etwas über 50 Prozent. Daneben gibt es auch mehr selbstständige Männer als Frauen.
Wie sich der Anteil der beruflichen Positionen je nach Geschlecht verändert hat, ist schwierig zu eruieren, weil es seit 1991 mehrere Änderungen bei der Befragungsmethode gab: Was mit Führungsverantwortung genau gemeint ist, wurde vom BFS über die Zeit unterschiedlich eng oder breit definiert.
Das Bundesamt stellt dennoch einen Datensatz bereit, der Rückschlüsse über die Zeit ermöglicht: den Frauenanteil in Führungsjobs. Obwohl auch diese Zeitreihe nicht ganz einheitlich ist, wird schnell klar: Beim Frauenanteil unter den Führungskräften hat sich innerhalb einer Generation nicht wahnsinnig viel verändert. Von 1991 bis 2009 stieg dieser Anteil von 29 auf 33 Prozent, und bis 2018 stieg er auf gerade einmal 36 Prozent.
Rund zwei Drittel aller Chefs sind also nach wie vor Männer – wobei es in der Unternehmensleitung etwas mehr Männer sind als unter den restlichen Vorgesetzten, wie die feinere Aufgliederung der Daten ab 2011 zeigt.
Immerhin: Es gibt heute etwas mehr Frauen in Führungsjobs, als dies noch vor 27 Jahren der Fall war – damals, als mein Vater so alt war wie ich heute und meine Mutter ein wenig jünger. Doch man muss die Veränderungen bei der Geschlechtergleichstellung schon mit der Lupe suchen, um sie zu finden.
Schluss
Ich bleibe weiterhin Optimist. Und glaube daran, dass sich der Trend auch über die kommende Generation fortsetzen wird: Die Erwerbsquoten und die Arbeitspensen von Frauen und Männern werden sich weiter angleichen, und es werden auch mehr Frauen Verantwortung in Führungsjobs übernehmen.
Doch die realistische Sichtweise ist: Dieser Wandel wird seine Zeit brauchen. Gut möglich, dass die Führungsjobs auch in 27 weiteren Jahren – also im Jahr 2045, ausgehend von 2018 – noch immer nicht gleich verteilt sein werden. Obwohl dies eigentlich unserem heutigen Rollenideal entspricht.
Hätte ich Kinder, so würde ich ihnen sagen: Wenn ihr einmal so alt seid wie ich heute, dann ist die Gleichstellung von Mann und Frau im Berufsleben vielleicht erreicht. Aber nur vielleicht. Inzwischen lohnt es sich, weiterhin dafür zu kämpfen.
Das Bundesamt für Statistik hat kürzlich eine Reihe von Indikatoren für die Gleichstellung von Mann und Frau aufdatiert. Darunter finden sich neben den hier gezeigten Erwerbsquoten, dem Beschäftigungsgrad, der beruflichen Funktion und dem Frauenanteil in Führungspositionen auch Angaben zur Erwerbslosigkeit, zu den Löhnen und zur Unterbeschäftigung je nach Geschlecht. Die verschiedenen Datenreihen reichen allerdings nicht alle bis 1991 zurück.
Was wir in diesem Beitrag nicht berücksichtigt haben, ist die Gleichstellung bei den Löhnen. Ihr werden wir zu einem späteren Zeitpunkt separat nachgehen.
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