Binswanger

Schutzengel Europas

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron weist der Europäischen Union den Weg – mit den richtigen Ideen, aber geringen Erfolgsaussichten.

Von Daniel Binswanger, 09.03.2019

Im Guten wie im Bösen: Emmanuel Macron ist der Heros, der Fackel­träger, das Symbol der Europäischen Union. Sein am Montag veröffentlichter Aufruf zur «Renaissance Europas» ist ein Akt des politischen Mutes, der strategischen Vision, der unerschrockenen Initiative. Obwohl der französische Präsident innenpolitisch angeschlagen und europa­politisch isoliert ist, zögert er nicht, Dringlichkeiten zu benennen, Tabuthemen anzusprechen, weitreichende Vorschläge zur Fort­entwicklung der Europäischen Union zu machen.

Gleichzeitig aber stellt sich immer penetranter die Frage, ob Macron mehr ist als die Symbol­figur des europäischen Scheiterns: Zum einen scheint bei den meisten seiner Vorschläge sehr zweifelhaft, ob sie die allergeringsten Aussichten haben, verwirklicht zu werden. Zum anderen sind die politischen Realitäten mittlerweile so harsch geworden, dass man sich teilweise fragen muss, ob ihre Verwirklichung überhaupt wünschenswert wäre. Die «europäische Renaissance» ist der Auftakt zum Europa­wahlkampf. Ob der Aufruf mehr darstellt als ein meisterliches Stück französischer Polit­rhetorik, muss sich erst noch weisen.

Da ist zunächst einmal der Vorschlag, den Schengen­raum «neu zu überdenken». Natürlich hat Macron recht: Es ist höchste Zeit, dass die Europäische Union die unwürdige Kooperations­unfähigkeit ihrer Mitglieds­staaten in der Asyl­politik überwindet (was nicht nur das Schengen-, sondern auch das Dublin-Abkommen betrifft), zu einer gemeinsamen Migrations- und Sicherheits­politik findet. Macrons Reform­appell ist desto berechtigter, als Schengen zu einer Rechts­fiktion zu verkommen droht: Weiterhin führen 5 von 22 EU-Schengen-Mitgliedern Grenz­kontrollen durch, auf mehr als fragwürdiger rechtlicher Basis und schon seit mehreren Jahren. Die Chancen, eine «gemeinsame Grenz­polizei und eine europäische Asyl­behörde» zu schaffen und die Asyl­politik und die Grenz­kontrolle tatsächlich einem neu zu instituierenden «Europäischen Rat für innere Sicherheit» zu überantworten, dürften jedoch nahe bei null liegen.

Die ungarische Regierung hat bereits angemeldet, dass sie von Macrons Plänen ganz und gar nicht angetan ist. Die EU-Partner sind in der Asylfrage ohnehin dermassen zerstritten und zu gemeinsamem Handeln unfähig, dass auch unabhängig von Orbáns Obstruktions­politik eine Änderung der Verträge als extrem unwahrscheinlich erscheint.

Es stellt sich auch die Frage, inwiefern die Realisierung dieser gemeinsamen Sicherheits­politik überhaupt wünschenswert ist. Sicherlich: Ein offener Schengen­raum setzt voraus, dass die Aussen­grenzen angemessen kontrolliert werden. Aber die EU-Staaten haben dermassen viel moralischen Kredit verspielt durch ihren Umgang mit der Flüchtlings­krise im Mittel­meer, dass die Frage, als wie förderlich eine verstärkte Grenzschutz­agentur Frontex überhaupt betrachtet werden kann, nicht von der Hand zu weisen ist. Damit die NGO-Boote dann noch effizienter in Schach gehalten werden können? Damit noch mehr Geld verteilt werden kann an libysche Milizionäre, die sich als Seenotretter neu erfunden haben?

Auf welchen humanitären Grundsätzen die Flüchtlings­politik und die Grenz­sicherung beruhen sollen – diese Frage wird von Macrons Reform­aufruf wohlweislich umgangen. Nur auf indirekte Weise, mit der Forderung, dass Europa mit Afrika einen «Pakt für die Zukunft» schmieden müsse, gibt er einen diskreten Hinweis darauf, dass Europa mit blossen Abwehr­massnahmen das Migrations­problem nicht lösen wird. Allerdings bleibt der Verweis auf «Investitionen, Universitäts­partnerschaften, Schul­unterricht für Mädchen» reichlich unverbindlich. Als Friedens­vermittler in Libyen ist der französische Präsident schon seit längerem aktiv, bisher ohne greifbaren Erfolg. Was wäre das Ergebnis einer erfolgreichen diplomatischen Initiative? Libysche Flüchtlings­lager, in denen etwas weniger horrende Zustände herrschten?

Einen couragierten Vorschlag macht Macron im Bereich der Sozial­politik. Die Forderung nach einem europaweiten Mindest­lohn wird zwar dadurch relativiert, dass dieser jedes Jahr neu ausgehandelt und für jedes Land einzeln festgesetzt werden müsste. Er würde dennoch einen fundamentalen Paradigmen­wechsel darstellen: Der Europäischen Union würde ein sozialpolitisches Koordinations­recht zugestanden, wie es bis anhin nie existiert hat. Das race to the bottom des innereuropäischen Niedrig­lohn­niveaus könnte potenziell gebremst werden. Das Grund­problem, dass zwischen einzelnen EU-Ländern das Prosperitäts­gefälle immer noch sehr stark ist und dass seit der Eurokrise die Lohnkonvergenz praktisch zum Stillstand gekommen ist, würde dadurch zwar nicht gelöst, aber immerhin gemildert. Allerdings ist in diesem Feld noch schwerer vorstellbar als im Bereich der Flüchtlings­politik, dass Macron mit seinen Vorschlägen auf Gehör stossen wird.

Am bemerkenswertesten an Macrons Appell erscheint die zentrale Rolle, die er dem Bedürfnis nach «Schutz» zugesteht. Die französische Regierung, die den «Schutz» zum neuen politischen Fundamental­begriff erheben will, hat die Zeichen der Zeit erkannt: Internationale Governance und supranationale Koordination können nur dann darauf hoffen, demokratische Mehrheiten hinter sich zu scharen, wenn glaubhaft gemacht werden kann, dass sie nicht nur die Wirtschafts­freiheit und die ökonomische Öffnung befördern, sondern dass sie die Bürger schützen, und zwar in jeder, das heisst auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Es ist kein Zufall, dass die politische Debatte in der Schweiz (und die Zürcher Wahlen) momentan vollständig von der Auseinander­setzung um Europa und den «Lohn­schutz» dominiert wird. Auch bei uns sollten die Fackel­träger der europäischen Idee schleunigst zur Einsicht kommen, dass eine Verstärkung der wirtschaftlichen EU-Integration ohne «Schutz» ganz einfach nicht zu haben ist.

Erneut ist Macron vorangegangen – und erneut wird alles von der deutschen Reaktion abhängen. Den wirklich entscheidenden Europa-Appell hat eigentlich nicht der französische Präsident, sondern der glücklose ehemalige Kanzler­kandidat Martin Schulz formuliert. Unmittelbar nach der Veröffentlichung von Macrons offenem Brief hat Schulz im «Spiegel» einen Gastbeitrag publiziert, dessen Kern­botschaft lautet: «Zum zweiten Mal streckt er nun die Hand nach Deutschland aus. Die Bundes­regierung darf ihn und Frankreich nicht ein zweites Mal hängen lassen.»

Da kann man Schulz nur recht geben. Aber auch das dürfte ein blosser frommer Wunsch bleiben.

Illustration: Alex Solman

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