Jetzt die Utopie

Die Schweiz mag rückständig sein – die Frauen sind es nicht. Eine Hommage zum heutigen internationalen Frauenkampftag.

Von Franziska Schutzbach, 08.03.2019

Ein Plakat ruft Frauen zum ersten Schweizer Frauenstreiktag vom 14. Juni 1991 auf. Schweizerisches Sozialarchiv

Im Jahr 1872 machen sich zehn Frauen aus dem Schweizer Jura auf den Weg in die Welt, um ihren anarchistischen Idealen zu folgen, ein freies Leben zu führen. Colette, Juliette, Émilie, Jeanne, Lison, Adèle, Germaine, Mathilde, Valentine und Blandine sind von den Ideen des Anarchisten Michail Bakunin angesteckt, der zu dieser Zeit in der Uhren­stadt Saint-Imier weilt und die Antiautoritäre Inter­nationale gründet. Nicht wenige Frauen schliessen sich dem radikalen Freiheits­gedanken an und versuchen sich waghalsig und unerschrocken in emanzipatorischen Experimenten.

Die zehn Jurassierinnen beschliessen, Enge und Armut des Schweizer Dorfes hinter sich zu lassen. Teilweise mit Kindern, allesamt aber ohne Männer und je mit einer Longines 20A als Kriegs­kasse im Gepäck, wandern sie nach Südamerika aus. Dort wollen sie ein herrschaftsfreies Zusammen­leben ausprobieren, nach der Devise «weder Gott noch Chef noch Ehemann».

Der Schriftsteller Daniel de Roulet hat auf der Grundlage von Original­briefen einen Roman über die «zehn unbekümmerten Anarchistinnen» geschrieben und zeigt mit seiner Erzählung ein wenig bekanntes Stück Schweizer Geschichte. Es ist die Geschichte von Armut und Emigration, aber auch die Geschichte einer weiblichen Praxis der Utopie, der Sehnsucht und der Hoffnung – lange vor Iris von Rotens kritischen Analysen zur Situation der Frau in der Schweiz, lange vor den Umwälzungen von 1968. Isabelle Eberhardt, eine weitere anarchistisch inspirierte Frau, die als Mann durch die Wüsten Nord­afrikas gezogen ist, schrieb 1899: «Allein sein ist frei sein, und Freiheit ist das einzige Glück, das für mein Wesen erreichbar ist.»

Aufmüpfige Funken

Das sind ungewöhnliche Töne in einem Land, das bis heute eher bekannt ist für biederen Patriotismus und Traditionalismus, gepaart mit rückwärts­gewandten Geschlechter­bildern und einem Gleichstellungs­defizit. Aber ein Blick in die historischen Nischen zeigt – die Anarchistinnen sind nur ein Beispiel –, dass es auch in der Schweiz eine Geschichte weiblicher Aufmüpfigkeit gibt.

Aktuell sind die aufmüpfigen Funken in der Schweiz wieder zu spüren. Der heutige 8. März, der internationale Frauen*­kampftag, ist anders dieses Jahr. Er ist das Vorspiel für etwas Grösseres, er bildet den Auftakt für einen landesweiten feministischen Streik, der am 14. Juni stattfindet. Das Datum wurde in Anlehnung an den ersten Schweizer Frauen*­streik von 1991 gewählt. In neunzig Ländern rund um den Globus wird bereits am heutigen Frauen*­kampftag gestreikt. Die Schweizer Frauen*­bewegungen sind also Teil einer transnationalen Mobilisierung. Gleichzeitig würdigen sie aber mit dem 14. Juni ihre eigene Genealogie.

2019 ist, wie es scheint, das Jahr sich neu formierender feministischer Bewegungen. Dieses und auch schon die vorangehenden Jahre stehen für die wieder erwachte Politisierung und Radikalisierung der feministischen Kritik, für das Wieder­auferstehen von Hoffnung und Utopie. 2019 steht nicht zuletzt für die Rebellion einer Generation, die durch den Mythos der erreichten Gleichstellung ruhiggestellt wurde, die nun aber realisiert, dass Gleich­stellung zwar im Gesetz steht, aber nicht umgesetzt ist. Es ist auch ein Erwachen, das der Konfrontation mit dem globalen Aufstreben der neuen Rechten entspringt und das uns augenreibend feststellen lässt: Selbst das, was erreicht wurde, was für selbstverständlich galt, steht auf wackeligen Beinen. Je nach Grad des Autoritarismus kann es wieder verschwinden, können offene Frauen*­feindschaft (Trump) oder auch die Mobilisierungen gegen das Recht auf Abtreibung wieder normaler Politalltag werden.

In den vergangenen Jahren gab es weltweit verstärkten feministischen Widerstand – die women’s marches, #MeToo, Demonstrationen. In der Schweiz gingen zuletzt mehrere tausend Menschen für Lohn­gleichheit und gegen Diskriminierung auf die Strasse. In vielen Ländern wurde bereits 2018 gestreikt, allein in Spanien beteiligten sich 5 Millionen Frauen*. Jetzt ist es auch in der Schweiz so weit. Oder anders formuliert: Einmal mehr ist die Schweiz dank ihren Frauen* auf der Höhe der Zeit.

Was bedeutet das? An zahllosen Orten, von grösseren Städten bis hin zu Minidörfern, haben sich in der Schweiz Kollektive und Komitees gebildet, die den Streik lokal vorbereiten. Ausserdem finden landesweite Vernetzungs­treffen statt, Stamm­tische, zahlreiche Klein-AGs haben sich zu konkreten Themen oder Berufs­feldern zusammengetan. Durch die Streik­vorbereitungen vernetzen sich generationen- und themenübergreifend Frauen* und Bewegungen, die vorher nichts miteinander zu tun hatten. Es entstehen Reibungen genauso wie Solidarisierungen, die den Effekt einer Potenzierung der feministischen Kräfte haben.

Ziviler Ungehorsam

Aber was genau heisst Streik? Der feministische Streik ist mehr als der Kampf um gleiche Löhne oder bessere Arbeits­bedingungen bei einem Arbeit­geber. Der feministische Streik ist ein politischer Streik, denn es werden auch Forderungen an die Gesellschaft und den Staat gestellt. Die Gewerkschaften sind zwar involviert und unterstützen den Frauen*­streik, wenn möglich werden sie betriebliche Streiks durchführen. Der übergreifende Anspruch geht aber weiter und orientiert sich an den Forderungen der feministischen Bewegung, die die Verhältnisse in Familie, Arbeitsplatz und Gesellschaft zusammen denkt. In diesem Sinn ist der feministische Streik ziviler Ungehorsam. Denn formal gesehen müssen bei einem rechtmässigen Streik die Streik­forderungen in einem Gesamt­arbeitsvertrag (GAV) regelbar sein.

Der feministische Streik weist noch in einem anderen Sinn über den klassischen Streik hinaus: Bereits in den 1970er-Jahren kritisierten Frauen*bewegungen, dass General­streiks die unbezahlte – meist von Frauen* verrichtete – Arbeit nicht berücksichtigten. Diese Kritik blieb damals weitgehend ungehört. Heute jedoch ist die Ausweitung des Arbeits­begriffs zentral: Es wird ausdrücklich dazu aufgerufen, neben der Lohnarbeit auch die sogenannte unbezahlte Sorge­arbeit oder Freiwilligen­arbeit niederzulegen. Die Grenze zwischen produktiver und reproduktiver Arbeit wird ebenso aufgelöst wie jene zwischen regulärer und irregulärer, entlohnter und nicht entlohnter Arbeit, zwischen Angestellten und Erwerbslosen. Auf diese Weise werden die gesellschaftlich oft marginalisierten Tätigkeiten, mit denen Frauen* Wert produzieren, sichtbar gemacht. Auch wird damit die Verschiedenheit von Lebens­situationen und die vielfältigen Wirklichkeiten von Arbeit anerkannt.

Hunderttausende Frauen nahmen am 14. Juni 1991 schweizweit an Aktionen teil – hier auf dem Zürcher Helvetiaplatz –, um dagegen zu protestieren, wie zögerlich der Gleichberechtigungsartikel in der Bundesverfassung umgesetzt wird. Walter Bieri/Keystone

Der feministische Streik stellt die klassische, stark männlich konnotierte Definition von Arbeit infrage. Es geht zunächst also um Vielfalt. Gleichzeitig werden aber gemeinsame Handlungs­strategien entwickelt. Eine davon besteht darin, den Terminus «Streik» zu erweitern, seinen Sinn und seine Wirkmächtigkeit zu multiplizieren. Das bedeutet, dass extrem vielfältige Anliegen formuliert werden, von den Forderungen nach einer gerechteren Aufteilung der Haus- und Erwerbs­arbeit, nach besseren Lebens­bedingungen für Allein­erziehende über Forderungen nach besseren Arbeits- und Aufenthalts­rechten (Bürger­rechte) für Migrantinnen bis hin zur Forderung nach mehr Frauen im Parlament, einer freien Bestimmung über Sexualität und Geschlechts­identität oder zur Forderung nach ökologischer Sorge für die Erde. Der Streik richtet sich zentral auch gegen Gewalt an Frauen*.

Last, but not least macht der feministische Streik es Frauen* auch möglich, sich als politische Subjekte zu positionieren. Und zwar nicht nur an einem Tag. Sowohl der 8. März als auch der kommende Streik sind ein Verstärker für multiple Auseinander­setzungen, für alte und neue feministische Bewegungen – und damit für die Aneignung des Utopischen durch die Frauen*. Es geht um mehr als darum, Gleichstellung in den bestehenden Verhältnissen zu erlangen. Es geht um die Arbeit an einer eigenen utopischen Praxis, darum, Feminismus zu machen. Und damit die Verhältnisse selbst infrage zu stellen und zu verändern.

Utopien wurden in aller patriarchalen Regel nicht als ein Ort von und für Frauen* vorgestellt. Zwar wurde Frauen* in einigen männlichen Utopien ein – wie zu erwarten inferiorer – Ort zugedacht. Bezugs­punkt aller klassisch-utopischen Entwürfe war jedoch «der Mann», galt er doch als Inbegriff des Menschen. Einzig auf ihn zugeschnitten konnten ideale Zukünfte gedacht werden. Die Rolle der «Frau*» blieb beschränkt auf das «andere», das «Zweite». Die klassischen Utopien überwanden kaum je das gesellschaftliche Korsett der Zweigeschlechtlichkeit. Ebenso wenig wichen sie von herkömmlichen – heterosexuellen – Kleinfamilien­modellen ab. Die feministische Aneignung des Utopischen ist hier vielversprechender. Auch deshalb, weil sie ökonomische, strukturelle und sogenannte Fragen der Identität zusammen denkt.

Die Ungeduld als wesentliche Dynamik

Sie ist es aber auch noch in einem anderen Sinn: Die feministisch artikulierten Utopien arbeiten nicht auf ein bestimmtes, einheitliches politisches Programm hin, das in der Zukunft verwirklicht werden soll, genauso wenig wie auf einen plötzlichen Umsturz. Sie sind auch in der Hinsicht eine Gegen­erzählung zu bisherigen (männlichen) Utopien, die grosse revolutionäre (Helden-)Taten fetischisieren und von kleinteiligen emanzipatorischen Sprüngen sowie langwierigen Transformations­prozessen wenig wissen wollen. Und dabei nicht selten eine richtige und definitive Gesellschafts­ordnung idealisieren.

Feministinnen wie Heidrun Ehrhardt kritisieren an klassischen Utopien, sie würden Menschen «auf einen Endzustand hin orientieren», auf eine Gesellschaft, «die fertig, perfekt, nicht mehr veränderbar ist, in der sich nichts mehr bewegt». Demgegenüber plädiert Ehrhardt dafür, die Ungeduld, das Nicht-erwarten-Können einer gerechten Gesellschaft als eine wesentliche Dynamik des Utopischen selbst zu verstehen. Anders gesagt: Die Bewegung hin zur Utopie ist bereits ein zentraler Teil der Utopie.

So wird es möglich, die Utopie bereits in unserem heutigen Leben aufzuspüren. Die feministische Utopie holt den «Möglichkeits­sinn» (Musil) in die Gegenwart. Utopie wird nicht in die noch kommende Zukunft vertagt. Vielmehr wird die Gegenwart zu dem Ort, an dem Frauen* und ihre Verbündeten handeln und emanzipatorische Sprünge machen. Auch unperfekte. Oder um es mit Valentine, der unbekümmerten Anarchistin, zu sagen: «Wir erobern uns Momente der Freiheit. Was zählt, ist nicht, die anarchistische Utopie zu verwirklichen, sondern Anarchistin zu sein.»

Der heutige 8. März und der kommende Streik sind der Einbruch der Utopie ins Jetzt. Es ist der Moment, in dem Frauen* sagen, dass sie es mit «dieser verrotteten Gegenwart» (Christina Thürmer-Rohr) aufnehmen. Denn diese Gegenwart ist das Einzige, was wir haben. Auf sie richtet sich, mit Bini Adamczak gesprochen, unsere Sehnsucht nach einem «lustvoll-aufregenden, sicher-entspannten, einem erfüllten und knalligen Leben».

Die Schweiz mag rückständig sein – die Frauen* in der Schweiz sind es nicht.

* Das sogenannte «Gendersternchen» hat mehrere Bedeutungen, wird innerhalb von Frauen- oder LGBTIQ-Bewegungen nicht einheitlich benutzt und ist auch nicht unumstritten. Die Autorin Franziska Schutzbach benutzt es hier: 1. Um deutlich zu machen, dass Geschlecht keine natürliche, sondern auch eine soziale Kategorie ist. 2. Um eine vielfältige Vorstellung von Frau zu signalisieren.

Zur Autorin

Franziska Schutzbach lehrt und forscht im Fachbereich Gender Studies an der Uni Basel. Die Soziologin ist Bloggerin, feministische Aktivistin und Mutter von zwei Kindern. 2019 erschien ihr Buch «Die Rhetorik der Rechten. Rechtspopulistische Diskursstrategien im Überblick». Sie ist Herausgeberin des Online-Magazins «Geschichte der Gegenwart».

Frauenstreik 2019

Unter dem Motto «Gleichberechtigung. Punkt. Schluss! Egalité. Point final!» findet am 14. Juni 2019 der «Frauen*streik – grève féministe» statt.