Das Pendel des Profits
Die Schweizer Wirtschaft wächst wieder. Das ist erfreulich. Doch wer erntet eigentlich die Früchte des Wachstums?
Von Simon Schmid, 04.03.2019
«Rückkehr zu moderatem Wachstum»: Unter diesem Titel hat der Bund am Freitag seine Schätzung zum Wachstum des Bruttoinlandprodukts (BIP) im abgelaufenen Jahr veröffentlicht. Der Grundton der Nachricht ist positiv.
Das verarbeitende Gewerbe ist dynamisch gewachsen, die Warenexporte sind gestiegen: Gemäss den Zahlen, die das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) erstellt hat, läuft die Wirtschaft nach einer Delle im vergangenen Sommer wieder einigermassen rund. Wobei die Industrie zurzeit etwas grösseren Auftrieb erhält als der Bausektor, der Handel und die Finanzwirtschaft. Das Plus gegenüber dem Vorjahr ist mit 2,5 Prozent jedenfalls überdurchschnittlich.
So weit, so gut.
Doch wer profitiert eigentlich davon, wenn die Wirtschaft in Schwung ist – wenn die Firmen viele Investitionen tätigen, die Konsumenten viele Produkte kaufen und die Unternehmen hohe Einnahmen verbuchen?
Die Antwort darauf liefert eine Zeitreihe, die in den Medien selten erwähnt wird: die Zerlegung des Wachstums nach Einkommenskomponenten.
Zwei Produktionsfaktoren
Oder wie Marx sagen würde: die Zerlegung nach Arbeit und Kapital. Also nach den beiden ökonomischen Zutaten, die es zur Produktion jeglicher Güter und Dienstleistungen in der Wirtschaft braucht und die deshalb im Fachjargon auch als «Produktionsfaktoren» bezeichnet werden.
In einer Schraubenfabrik würde es sich dabei etwa handeln um:
die geistige und körperliche Arbeit der Maschinisten, Mechanikerinnen, Ingenieure, Reinigungskräfte, Buchhalterinnen und Manager;
die Werkzeuge, Räume, Fahrzeuge und Computer, die in der Produktion verwendet werden – beziehungsweise das Kapital, das zur Verfügung gestellt wurde, um diese Dinge anzuschaffen.
Die Zerlegung des BIP in diese Faktoren ist eine Art Finanzanalyse der Gesamtwirtschaft: Man untersucht, welcher Faktor welchen Anteil an der Wertschöpfung (Marx hätte gesagt: am «Mehrwert») zugesprochen erhält, und zwar in Form von Lohnzahlungen (Arbeit) oder von Gewinnen (Kapital).
Wie haben sich die Einkommen der Produktionsfaktoren also entwickelt?
Vier Statistikeinträge
Bevor wir zur Grafik kommen, noch etwas mehr Terminologie. Anders als die Theorie spricht die Statistik nicht von Zahlungen an «Arbeit» und «Kapital», sondern von «Arbeitnehmerentgelten» und «Nettobetriebsüberschüssen».
Gemeint ist dasselbe. Wobei die Betriebsüberschüsse genau genommen ein Überbleibsel sind: von den Einnahmen einer Firma, nachdem man davon die Löhne abgezogen hat – und obendrein auch noch die Abschreibungen und die Abgaben an den Staat. Mit diesen zwei weiteren Abzügen trägt man der Tatsache Rechnung, dass in einer Firma immer auch Wert vernichtet wird (weil das Equipment abgeschrieben werden muss) oder dass Einkommen an den Staat abfliessen (in Form von Zöllen, Grundstücks- oder anderen Steuern).
Deshalb zählt die Statistik nicht zwei Komponenten, sondern vier.
Stellt man das Wachstum dieser vier BIP-Einkommenskomponenten über die Zeit dar, so ergibt sich ein etwas anderes Bild der Konjunktur, als man dies gewohnt ist. Man erkennt dann, wie sich das Einkommen der Produktionsfaktoren Arbeit (blau) und Kapital (rot) sowie die Summe der Abschreibungen (orange) und die Abgaben (hellgrün) verändert haben.
Die folgende Grafik zeigt diese Veränderungen: von 1991 bis 2018, im vierteljährlichen Rhythmus, jeweils im Vergleich zum Vorjahresquartal.
Was an dieser Grafik zuerst auffällt, ist die asynchrone Dynamik. Manchmal wächst die Lohnsumme (blau), manchmal wachsen die Betriebsüberschüsse (rot), manchmal wachsen beide Einkommenskomponenten. Die Früchte des Wirtschaftswachstums werden also nicht jederzeit gleichmässig verteilt.
Was weiter auffällt: Die Betriebsüberschüsse schwanken über die Zeit viel stärker als das Arbeitnehmerentgelt. In Boomphasen werden Kapitaleigner also sehr reichhaltig belohnt, und in der Rezession schrumpfen ihre Gewinne. Das Wachstum der Nettobetriebsüberschüsse ist dann negativ. Anders ist es beim Arbeitnehmerentgelt: Hier waren die Wachstumsraten selbst in der Krise fast durchwegs positiv (eine Ausnahme waren die frühen 1990er-Jahre).
Was sich schliesslich bei näherem Hinsehen zeigt: Die Arbeitseinkommen folgen tendenziell dem Trend bei den Betriebsüberschüssen. Erwirtschaften Firmen hohe Gewinne, dann wächst mit leichter Verzögerung meist auch die Lohnsumme. Beispiele dafür finden sich zum Ende der Wirtschaftskrise in den 1990er-Jahren und im Aufschwung Mitte der 2000er-Jahre, oder auch nach der Finanzkrise im Jahr 2010. Schrumpfen dagegen die Firmengewinne, so wirkt sich dies in den Folgejahren meist auch auf die Löhne aus.
Ähnlich wie ein Pendel schwingt der Profit also hin und her – zwischen den ökonomischen Produktionsfaktoren, zwischen Arbeit und Kapital.
(Auch die Abschreibungen schwingen übrigens mit: Auf eine Boomphase, in der viel investiert wird und der Kapitalstock wächst, folgt typischerweise ein Abschwung, währenddessen die vielen Investitionen abgeschrieben werden.)
Doch wer profitiert auf die Dauer stärker: die Arbeit oder das Kapital?
Ein und dieselbe Richtung
Die Antwort auf diese Frage ist in Bezug auf die Schweiz erstaunlich einfach: Beide Produktionsfaktoren profitierten im Lauf der Jahre etwa gleich stark.
Dies geht aus der folgenden Grafik hervor. Sie zeigt, welchen Anteil die verschiedenen Einkommenskomponenten seit 1991 am BIP hatten.
Alle eingezeichneten Linien sind mehr oder weniger flach. Der Anteil des Arbeitnehmerentgelts betrug konstant rund 55 bis 60 Prozent. Die Abschreibungen betrugen um 20 Prozent, die Betriebsüberschüsse fluktuierten ebenfalls um 20 Prozent, und die Abgaben lagen bei 2 bis 4 Prozent.
Die BIP-Daten werden vierteljährlich vom Staatssekretariat für Wirtschaft geschätzt und in verschiedener Gliederung (nach Produktionsansatz, nach Verwendungs- oder nach Einkommenskomponenten) bereitgestellt.
Dass die verschiedenen Einkommenskomponenten einen derart stetigen Anteil am Schweizer BIP haben, kann eigentlich keinen Ökonomen überraschen – und ist aus empirischer Sicht trotzdem erstaunlich.
Dies, weil man in den Wirtschaftswissenschaften lange davon ausging, dass es sich bei diesen Anteilen um eine feste Grösse handelt: Im historischen Schnitt vermochte die Arbeit stets etwa zwei Drittel der Wertschöpfung für sich zu beanspruchen. Man dachte deshalb, diese zwei Drittel entsprächen ihrem natürlichen Stellenwert als Produktionsfaktor neben dem Kapital.
Erstaunlich ist der Verlauf aber, weil der Anteil des Arbeitnehmerentgelts am BIP zuletzt in vielen Ländern gesunken ist: um 10 Prozentpunkte und mehr, wie diverse Studien aufzeigen (etwa OECD, Hagen Krämer / Karlsruhe University of Applied Sciences, Levy Economics Institute und Berger und Wolff / Bruegel). Ausgeprägt war der Trend in den USA, aber auch in europäischen Ländern wie Deutschland.
Zur Erklärung dieses Trends werden diverse Gründe herangezogen, darunter die Globalisierung, der technologische Wandel und der abnehmende gewerkschaftliche Organisationsgrad. Glasklar auseinanderhalten lassen sich diese Gründe nicht – dafür ist die Fragestellung zu allgemein und die Welt zu komplex. Denkbar ist aber, dass alles ineinanderspielt: In einer Welt, in der die Automatisierung eine zunehmende Rolle spielt und Arbeitsplätze öfter an andere Orte verlagert werden, verfügen Arbeitnehmer über eine geringere Verhandlungsmacht und können weniger hohe Löhne durchsetzen. So sinkt der Anteil der Wertschöpfung, den sie sich als Einkommen sichern können.
Umso überraschender ist es, dass die Zahlen für die Schweiz keinen solchen Trend anzeigen. Offensichtlich gelingt es den hiesigen Arbeitnehmern besser, ihre Lohnforderungen gegenüber den Unternehmen durchzusetzen. Woran dies liegt, ist nicht restlos klar. Wahrscheinlich ist, dass die Branchenstruktur eine wichtige Rolle spielt. In der Schweiz werden viele wissensintensive Tätigkeiten verrichtet: Die Löhne sind hoch, und viele Arbeitskräfte sind gut qualifiziert – was ihnen erlaubt, einen höheren Anteil der Wertschöpfung für sich einzufordern, als es Arbeiterinnen in Tieflohnbranchen möglich wäre.
2018 hat das Einkommen der Arbeitnehmer relativ schwach zugenommen. Demgegenüber sind die Betriebsüberschüsse ordentlich gestiegen. Ob sich dies bereits 2019 umkehren wird, wissen wir noch nicht. Doch die lange Sicht legt nahe: Früher oder später wird die Harmonie zwischen den zwei Produktionsfaktoren mit ziemlicher Sicherheit wieder hergestellt.
Was verändert sich auf die lange Sicht?
Haben Sie Anregungen zu unseren Datenbeiträgen? Wünschen Sie sich bestimmte Themen? Diskutieren Sie im Forum der Rubrik «Auf lange Sicht».