Angepasst an das Leben

Nach achtzehn Jahren Krieg in Afghanistan mit Zehntausenden Toten und unzähligen Verletzten wird seit Anfang dieses Jahres über Frieden verhandelt. Viele der Überlebenden haben Hände, Arme oder Beine verloren. Prothesen sind für sie existenziell.

Von Ross McDonnell (Bilder), Matthieu Aikins (Text) und Bernhard Schmid (Übersetzung), 01.03.2019

In Kabul, wo ich mit Unterbrechungen acht Jahre als Journalist tätig war, gehören Männer mit Behinderungen zum Alltags­bild. Neben Frauen und Kindern sieht man sie beim Betteln im stockenden Verkehr belebter Kreuzungen: Hemds­ärmel oder Hosen­beine hochgekrempelt, die nackten Stummel oder verkümmerten Extremitäten blossgelegt, sind sie auf Krücken oder in Handhebel­rollstühlen zwischen den Fahrzeugen unterwegs, auf unasphaltierten Strassen mit offenen Rinn­steinen, die bei Regen oder Schnee zu Flüssen aus Schlamm und Kot mutieren.

Kriegs­herren und Kommandanten der Taliban haben zuweilen einen nom de guerre (Mullah Rauf etwa oder Commander Ibrahim), ergänzt durch das eigenartige Suffix lang – «der Lahme». Ein Zeugnis der im Lauf der Jahrzehnte im Kampf erlittenen Blessuren.

Wende in Afghanistan?

Erstmals seit 9/11 und dem Angriff der USA auf Afghanistan finden seit Anfang Jahr konkrete Friedens­verhandlungen statt. Die USA geben sich de facto geschlagen und wollen ihre Truppen abziehen. Die Taliban haben über 60’000 Kämpfer verloren und sind kriegsmüde. Trotzdem verbreiten die Radikal­islamisten, die weite Teile des Landes kontrollieren, nach wie vor mit Bomben­anschlägen Tod und Schrecken. 2018 war gar das blutigste Jahr seit Beginn des Krieges – mit über 3000 getöteten und über 7000 verletzten Zivilisten.

Wann immer ich das Trauma­zentrum besuchte, kam mir angesichts der stillen, zum Teil noch furchtbar jungen Patienten mit den weiss bandagierten Stümpfen der Gedanke, dass es weniger die Tragödie an sich zu sein scheint, die für uns so schwer vorstellbar ist, als die Aussicht auf ein Leben mit ihren Folgen. Und besonders hart ist das Leben als Invalidin in einem Land, wo zwei Drittel der arbeitenden Bevölkerung in der Land­wirtschaft tätig sind und es auch bei den meisten der ohnehin dünn gesäten Jobs in den Städten nicht ohne Handarbeit geht.

Gleiche Voraussetzung, ungleiche Fortsetzung

Wie bei den amerikanischen Soldaten, die in Afghanistan Gliedmassen verloren, handelte es sich bei den betroffenen Afghanen nicht selten um Opfer von Sprengstoff­anschlägen. In der Zeit, als man noch gemeinsam Patrouille fuhr, flogen internationale Rettungs­teams routinemässig auch verwundete Afghanen zu Koalitions­stützpunkten, wo sie nach dem neuesten Stand der Trauma­chirurgie versorgt wurden. Von einem gewissen Punkt an jedoch unterschied sich ihr Schicksal von dem des ausländischen Soldaten im Bett nebenan, da man diesen zurück in die Heimat flog, wo er in den Genuss eines Rehabilitations­programms und einer Anschluss­behandlung kam.

In den Vereinigten Staaten hat die Zahl der Angehörigen der Streitkräfte, die im Irak und in Afghanistan Gliedmassen verloren haben – etwa 1720 –, zu Fortschritten in der Prothesen­technik geführt. Die Wissenschaft arbeitet an der Entwicklung künstlicher Extremitäten, die sich über das Gehirn steuern lassen und per neuronales Feedback sogar den Tastsinn wiederherstellen können. Prothesen, die mittels mikro­prozessor­gesteuerter Kleinst­motoren die Balance­funktion regulärer Gliedmassen zu simulieren vermögen, rücken für immer mehr Betroffene in greifbare Nähe. Mit diesen lassen sich Fähigkeiten zurückgewinnen wie etwa rückwärts­zugehen oder eine Treppe hinaufzulaufen. Wie konventionelle Prothesen müssen sie alle drei, vier Jahre ersetzt werden; sie können freilich auch zehnmal so teuer sein. Die Kosten für das Veteranen­amt (Department of Veterans Affairs) für die Versorgung mit einem künstlichen Knie auf dem Stand der Technik beginnen etwa bei 30’000 Dollar.

Einfach, dafür finanzierbar

Im Gegensatz dazu hätte man die künstlichen Glieder aus der Fotostrecke, die Ross McDonnell 2012 schoss, bereits vor hundert Jahren als primitiv bezeichnet. Sie stammen aus der 1995 in Jalalabad, der Hauptstadt der Provinz Nangarhar im Osten von Afghanistan, eröffneten Klinik des Internationalen Roten Kreuzes. Von Patienten zurückgelassen, die dort neue Prothesen bekamen, weisen viele von ihnen Spuren mühevoller Reparaturen auf, die ihr Leben verlängern sollten; andere sind aus Schrott und Stoff­resten gemacht. Sie hängen an den Wänden der Klinik als Relikte einer Zeit, in der Afghanen zur ärztlichen Behandlung nach Pakistan oder in den Iran reisen mussten. Eine Reise, die sich viele einfach nicht leisten konnten.

In dieser Hinsicht sind sie Teil der vielgestaltigen Findigkeit, die allgegen­wärtig ist in einem Land, in dem man Abgelegtes aus dem Westen, von uralten Toyotas bis hin zu abgetragenen T-Shirts, einem langen zweiten Leben zuführt. «Ich erinnere mich noch, wie die Leute früher zum Schmied gingen, um sich Prothesen aus Ofenrohren oder Holz machen zu lassen», sagte mir Najmuddin Helal, der seit dem Start des Reha-Programms 1988 in Afghanistan für das IKRK tätig ist. «Ich habe hier und da sogar welche aus Granat­hülsen gesehen.»

Die Prothesen, die das Rote Kreuz heute ausgibt, sind technisch bewusst einfach gehalten, da das Programm sich mehr oder weniger selbst tragen soll. Eine Bein­prothese mit Knie kostet das IKRK im Durchschnitt 420 Dollar; für die Patienten fallen dabei keinerlei Kosten an. Die meisten Komponenten werden in Kabul gefertigt, von einer ausschliesslich afghanischen Belegschaft.

Man arbeitet auf Basis von Polypropylen mit einer vom Roten Kreuz selbst entwickelten Technik, die heute in vielen Entwicklungs­ländern im Einsatz ist. Als Erstes fertigt man eine Negativ­form des Stumpfs des Patienten, mit deren Hilfe dann eine Positiv­form aus Gips gegossen wird. Über dieses Gipsmodell zieht man dann eine durch Erhitzen geschmeidig gemachte Polypropylen­haut und sorgt mittels einer Vakuum­pumpe für die perfekte Passform; so entsteht ein massgefertigtes Stumpf­bett für einen Prothesen­schaft, an den man die übrigen Teile montiert. Zur Gewöhnung an die neuen Gliedmassen verbringen Patientinnen etwa eine Woche im Reha-Center, bevor man sie mit der Prothese nach Hause entlässt.

Menschliche Spuren

Seit Beginn des Programms Ende der 1980er-Jahre hat das Internationale Rote Kreuz 109’303 Prothesen an Menschen ausgegeben, die Extremitäten verloren hatten: zuerst im Kampf gegen die Sowjetunion, anschliessend im Bürger­krieg, bei dem Kabul zu weiten Teilen zerstört wurde, dann im nachfolgenden Krieg zwischen Taliban und Nordallianz und schliesslich im gegenwärtigen Konflikt, dessen Ende noch lange nicht abzusehen ist. Viele der Patienten verloren ihre Gliedmassen durch Bomben am Strassen­rand, Luft­angriffe, alte Land­minen oder verirrte amerikanische Streu­munition; dazu kommen Unfälle und Diabetes.

Rahima Noorudin bekommt im orthopädischen Center des IKRK in Jalalabad ihre erste Prothese. Die Neunjährige verlor ihr Bein während eines Angriffs auf die Gegend ihres Wohnorts Mano Gai im Osten Afghanistans, bei dem ihr Bruder und ihre Schwester getötet wurden.

Angesichts der mehr als 10’000 Zivilisten – ein Drittel davon Kinder –, die in Afghanistan allein 2017 durch den Krieg getötet oder verwundet wurden, bleibt die Nachfrage nach den humanitären Programmen des IKRK ungemindert; dasselbe gilt für Dutzende weitere Konflikte rund um die Welt. Ein Einsatz übrigens, der für das IKRK nicht ohne Risiken ist. So musste die Organisation etwa ihr Engagement in Afghanistan zurückfahren, nachdem 2017 bei mehreren Zwischen­fällen sieben ihrer Mitarbeiter ums Leben gekommen waren.

Was McDonnells Fotos so bewegend macht, ist nicht zuletzt das, was sie nicht zeigen. So können wir uns beim Anblick dieser Prothesen sowohl die Hände vorstellen, die sie gemacht haben, als auch die Körper, an die sie gehörten. Jede von ihnen zeigt die Spuren eines Menschen. Die Scharten und Schrammen ihres täglichen Ringens ebenso wie die dekorativen Schnörkel, die womöglich bis heute in Erinnerung geblieben sind. Wir hören das Knistern von Plastik beim Anziehen eines Schuhs, spüren auf der nackten Haut das Ziehen von Riemen am Morgen, stellen uns vor, wie das Leder gegen Mittag vom Schweiss feucht zu werden beginnt, und schliesslich die jähe Schwere­losigkeit am Abend vor dem Schlafen­gehen, die eine Erleichterung ist und schmerzhaft zugleich. Diese Prothesen sind einerseits Zeugen einer so ganz anderen Welt als der unseren, andererseits aber auch einer uns allen gemeinsamen menschlichen Form.

© 2019 «The New York Times»

Zum Autor

Matthieu Aikins ist Fellow am New Yorker Type Media Center und berichtet seit 2008 über Afghanistan. Zwei seiner Artikel schafften es in die Endausscheidung für den National Magazine Award.

Zum Fotograf

Ross McDonnell ist ein in New York ansässiger irischer Filmer und Fotograf. Sein jüngster Film «Elián» wurde für den Emmy nominiert. Seine Arbeit beschäftigt sich vorwiegend mit Identität inmitten gesellschaftlicher Umbrüche.