Eine Ex-Bundesrätin im Coop und IS-Kämpfer in der Schweiz
Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (46).
Von Andrea Arezina, Urs Bruderer und Elia Blülle, 28.02.2019
Unter uns: Sind Sie ein Migros- oder ein Coop-Kind? Die ehemalige Bundesrätin Doris Leuthard dürfte ein Coop-Kind sein. Zu ihrer Kandidatur für den Verwaltungsrat von Coop und Coop-Tochter Bell meinte sie: «Coop ist ein spannendes und sympathisches Schweizer Unternehmen, das mich seit meiner Kindheit fast jeden Tag begleitet.»
Wählen am 28. März die Coop-Delegierten Doris Leuthard in den Verwaltungsrat, nimmt die ehemalige Bundesrätin schon wenige Monate nach ihrem Ausscheiden aus dem Amt ein Mandat in der Privatwirtschaft an. Das Gleiche tat schon ihr ehemaliger Bundesratskollege Moritz Leuenberger. Er wurde kurz nach seinem Rücktritt Verwaltungsrat beim Bauriesen Implenia. Bei Leuenberger war das durchaus heikel. Implenia war während Leuenbergers Amtszeit als Verkehrsminister am Bau des Gotthardtunnels beteiligt.
Bundesrätinnen und Bundesräte haben bis zum letzten Tag ihrer Amtszeit Einblick in umfangreiche Regierungsgeschäfte und verfügen über viel Insiderwissen. Darum wurden auch gegen Doris Leuthard die Vorwürfe von verdecktem Lobbyismus und Vetternwirtschaft laut.
Versuche, eine Art gesetzliche Ruhezeit für Alt-Bundesrätinnen und Alt-Bundesräte vor der Übernahme neuer Mandate festzulegen, sind jedoch bisher gescheitert. Und so darf Doris Leuthard ihrem Coop die Treue beweisen. Und wie ist es bei Ihnen? Sind Sie Ihrem Grossverteiler von Kindesbeinen an treu geblieben?
Treu bleibt Ihnen auch diese Woche das Briefing aus Bern – und damit zum Wichtigsten aus dem Bundeshaus.
Niemand will die IS-Rückkehrer zurücknehmen
Was bisher geschah: Der amerikanische Präsident Donald Trump forderte die europäischen Staaten via Twitter dazu auf, von Kurden gefangene IS-Terroristen zurückzunehmen. Er drohte damit, dass man die Kämpfer ansonsten freilassen müsse. Vergangene Woche hat es Bundesrätin Karin Keller-Sutter abgelehnt, Schweizer IS-Kämpfer zurückzuholen. In einem Interview mit dem Westschweizer Radio RTS forderte sie, dass sich die kurdischen Behörden vor Ort um die Jihadisten und ihre Familien kümmern sollten. Ihre Haltung begründete sie damit, dass für sie die Sicherheit der Schweizer Bevölkerung und der Schweizer Einsatzkräfte absolute Priorität habe.
Was Sie wissen müssen: Der sogenannte Islamische Staat ist auf syrischem Boden am Ende. Mit Unterstützung der Amerikaner belagern Milizen die letzte IS-Bastion, und im Norden des Landes sitzen Tausende Kämpfer der Terrorgruppe in kurdischen Lagern fest. Mehrere hundert stammen aus westeuropäischen Ländern, und auch einige Schweizer IS-Sympathisanten sind dabei.
Wie es weitergeht: Die USA haben angekündigt, ihre Truppen in den nächsten Monaten abzuziehen. Die kurdischen Behörden verfügen über keine Gerichte und Ressourcen, um den Terrorhelfern den Prozess zu machen. Amnesty International befürchtet, dass in der Region keine fairen Gerichtsverfahren möglich sind. Deshalb wird der Gesamtbundesrat demnächst entscheiden, wie er mit den Schweizer IS-Anhängern in Syrien umzugehen gedenkt. Ob die rückkehrenden Islamisten tatsächlich ein erhöhtes Sicherheitsrisiko darstellen, ist umstritten.
Meine politischen Daten gehören mir
Was bisher geschah: Für die Unterschriftensammlung im Netz hat die SP ab sofort ihr eigenes Webprogramm – es heisst Democracy Booster und soll bei Volksinitiativen und Referenden zum Einsatz kommen.
Was Sie wissen müssen: Eine Initiative können Sie auch mit diesem Programm nicht im Netz unterschreiben. Es wird aber einfacher: Man tippt auf einer Webseite den Namen, das Geburtsdatum, die Adresse und die E-Mail-Adresse ein und bekommt einen personalisierten Unterschriftenbogen. Da dieser von Hand unterschrieben werden muss, führt kein Weg an einem Drucker und einem Briefkasten vorbei. Vor Democracy Booster gab es nur das Webprogramm Wecollect des Campaigners Daniel Graf. Über Wecollect liefen bis jetzt 23 Initiativen und Referenden. Dank solcher Programme müssen weniger Unterschriften auf der Strasse gesammelt werden. Aber der wichtigere Vorteil ist ein anderer: Wer so ein Programm hat, kommt an die E-Mail-Adressen der Unterschreibenden ran.
Wie es weitergeht: Wenn die SP Unterschriften sammelt, profitiert künftig nur die Partei. Sie vergrössert ihren Schatz an E-Mail-Adressen – und nicht mehr auch den des unabhängigen Campaigners Daniel Graf. Democracy Booster kommt das erste Mal diese Woche bei der SP-Prämienverbilligungsinitiative zum Einsatz. Auch Wecollect öffnet sich und wird in eine gemeinnützige, parteiunabhängige Stiftung überführt. Wer das Programm nutzen darf, entscheidet in Zukunft nicht mehr der Besitzer allein. Sicher ist: Das Bewusstsein für den Wert politisch interessanter Daten wächst in der Schweiz. Und die SP ist die erste Partei, die diesen Schatz nicht mehr aus der Hand gibt.
Endlich ein Vernunfts-Ja zum Rahmenabkommen
Was bisher geschah: Die FDP-Fraktion hat sich während eines Seminars mit dem Rahmenabkommen zwischen der Schweiz und der EU befasst. Mit dabei war FDP-Bundesrat Ignazio Cassis, der sich als Aussenminister für das Abkommen ins Zeug legt. Und offensichtlich gelang es ihm, seine Fraktion zu überzeugen. Sie kommunizierte danach ein «Ja aus Vernunft».
Was Sie wissen müssen: Begeisterung klingt anders, aber ein Vernunfts-Ja ist mehr als alles, was andere grosse Akteure bisher gesagt haben. Die Gewerkschaften, die SP und die SVP sagen kategorisch Nein zum Abkommen. Die CVP und die Wirtschaftsverbände (Economiesuisse, Schweizerischer Arbeitgeberverband und Schweizerischer Gewerbeverband) sagen «Ja, aber». Auch die Kantone sind skeptisch. Und bei genauerer Betrachtung trägt auch die FDP ihr Vernunfts-Ja mit brüchiger Stimme vor: Das Abkommen müsse nicht nachverhandelt werden, schreibt die Partei. Aber drei Punkte seien in Gesprächen mit der EU noch zu konkretisieren.
Wie es weitergeht: Neben der FDP stehen bis jetzt nur zwei kleine Parteien (die Grünliberale Partei und die SVP-Abspaltung BDP) hinter dem Rahmenabkommen. Das reicht nicht. Ohne CVP und SP ist eine europapolitische Abstimmung nicht zu gewinnen. Doch die Debatte gewinnt an Breite und an Gründlichkeit, etwa via den Appell «Die Schweiz in Europa». Wie der Gesamtbundesrat in der Sache weiterfahren möchte, ist noch nicht klar. Wahrscheinlich sucht er weiterhin keine Entscheidung, sondern nur Zeitgewinn.
Transfer der Woche
Der Wechsel wäre kaum eine Meldung wert, wenn er nicht so gut orchestriert wäre: Chantal Galladé, langjährige Nationalrätin der SP, wechselt die Partei. Sie geht zur Grünliberalen Partei. Das erzählte sie dem «Tages-Anzeiger» in einem langen Interview. «Keinen Groll» hege sie gegenüber ihrer alten Partei. Wohl darum kündigt sie ihren Schritt just an dem Tag an, an dem in Zürich die Unterlagen für die Kantonswahlen eintreffen.
Galladé ist heute Schulpräsidentin in Winterthur und hat kein hohes politisches Amt mehr. Doch ihr Parteiwechsel strahlt weit über die Zürcher Stadt hinaus. Denn es habe da etwas gegeben, sagt Galladé, was das Fass zum Überlaufen gebracht habe: «Die abwehrende Haltung der Gewerkschaften und in deren Schlepptau der SP» gegen das Rahmenabkommen mit der EU. Sie wirft der SP vor, «stur auf einem ideologischen Kurs» zu verharren, und lobt ihre neue Partei als «lösungsorientiert, faktenbasiert».
Damit schlägt Galladé exakt in die Kerbe, die für ihre alte Partei zu einem gefährlichen Riss werden könnte. Darum das grosse Echo, das einen weiteren Aspekt ihres Wechsels völlig übertönt: Bei der GLP hat Galladé viel bessere Chancen, eines Tages ein neues hohes politisches Amt zu erlangen, als bei der SP.
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