Überwachungskapitalismus
Die Kritik an den totalitären Zügen von Big Data nimmt zu. Zu Recht, sagt eine aufsehenerregende Neuerscheinung.
Von Daniel Binswanger, 09.02.2019
Dass die wirtschaftliche und politische Dominanz der Tech-Giganten eine der fundamentalsten Herausforderungen unserer Zeit darstellt, wird immer offensichtlicher. Sie ist – spätestens seit den Enthüllungen um die Manipulation der amerikanischen Präsidentschaftswahlen durch gezielte Werbung und Fake News in den sozialen Netzwerken – zu Recht ein permanentes Thema. Kaum ein anderer Vektor der wirtschaftlichen Entwicklung dürfte so unmittelbare und fundamentale Veränderungen des gesellschaftlichen Lebens nach sich ziehen.
Republik-Leserinnen werden in den Recherchen der Digital- und Social-Media-Expertin Adrienne Fichter mit kritischen Analysen der zahlreichen politischen Konfliktfelder heutiger Informationstechnologie konfrontiert. Die Republik ist allerdings selber auch eine exzellente Illustration der Abhängigkeitsverhältnisse, mit denen sich mediale Aufklärung heute gezwungenermassen arrangieren muss: Der erste Artikel, der auf dieser Website überhaupt publiziert wurde, war Fichters Denunzierung von «Zuckerbergs Monster». Ein unverzichtbarer Verbreitungskanal der Republik ist Facebook aber bis heute.
Eine atemberaubende Grundsatzreflexion über die politische und gesellschaftliche Bedeutung der IT-Revolution liefert nun «The Age of Surveillance Capitalism» («Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus») der emeritierten Harvard-Professorin Shoshana Zuboff. Der dickleibige Band enthält spannende, teilweise detaillierte Analysen der verschiedenen Entwicklungsetappen der IT-Industrie, insbesondere des radikalen Kurswechsels in der Firmengeschichte von Google beziehungsweise Alphabet, der sehr deutlich zeigt, wie der Zwang zur Monetarisierung der ganzen schönen Innovationen in kurzer Zeit die Firmenkultur in ihr Gegenteil verkehrte und viele edle Grundsätze über Bord gehen liess. Dass Google, sowohl was die De-facto-Liquidierung der digitalen Privatsphäre als auch was die Kartellisierung von Informationsmacht betrifft, eine Vorreiterrolle einnimmt, ist keine ganz neue Erkenntnis. Was das Werk jedoch mit originellen Argumenten leistet, ist eine politisch-philosophische Einordnung des Informationszeitalters in die Geschichte des modernen Kapitalismus. Und es kommt zu einem Ergebnis, das ziemlich schwarz ist.
In den eisigen Weiten der statistischen Normalverteilung
Ein scheinbares Grundparadox unserer Epoche bringt Zuboff bereits im Titel auf den Begriff: «Überwachungskapitalismus». Kapitalismus definiert sich klassischerweise durch eine dezentrale, nicht planbare Entscheidungsfindung, die über den Mechanismus des Marktes vermittelt wird. Damit begründet er sein Freiheitsethos, und damit erzielt er seinen Effizienzvorsprung. Kapitalismus ist in seinem Selbstverständnis das Gegenteil von umfassender Überwachung. Oder vielmehr: Er war es.
Big Data und die noch nie da gewesene Konzentration von unbeschränkten Datenmengen in den Händen ganz weniger Tech-Konzerne ermöglichen eine zwar nicht zentralisierte, nicht notwendig ans staatliche Gewaltmonopol gebundene, dennoch aber extrem weit gehende, beinahe totale Überwachung. Es ist ein Dispositiv entstanden, so Zuboff, das auf neue Weise die Gleichzeitigkeit von sozialer Atomisierung und sozialer Kontrolle erlaubt.
Seine überraschend schnelle und mühelose Akzeptanz hat dieses Dispositiv primär deshalb gefunden, weil es der Evolution der gesellschaftlichen Grundwerte entspricht: Auf einen «ersten Individualismus», der die Bürger aus der Traditionsgesellschaft und in die Massendemokratie führte, folgte ein (neoliberaler) «zweiter Individualismus», der einerseits die individuelle Selbstentfaltung zum absoluten Anspruch aufspreizt, andererseits aber den Einzelnen alleinlässt, wenn es um die Verwirklichungsperspektiven geht. Wir sind nur noch kontingente, ungebundene Datenpunkte in den eisigen Weiten der statistischen Normalverteilung. Und genau als solche werden wir von Big Data auch behandelt.
Der User als Rohstoff
Laut Zuboffs These haben die Tech-Konzerne nichts weniger als eine neue Phase des Kapitalismus eingeläutet. Im Kapitalismus des 20. Jahrhunderts, dem Kapitalismus des Massenkonsums und der demokratischen Emanzipation von traditionalistischen Gesellschaftsmodellen, war die ganze Warenproduktion auf den Konsumenten ausgerichtet. Die heutigen Informationskonzerne hingegen funktionieren nach einem vollkommen anderen Modell: Ihre Bemühungen gelten erst in zweiter Linie einem Produkt und zunächst dem Sammeln von Daten. Ihre Kunden sind nicht wir User, auch wenn User-Bindung natürlich hergestellt werden muss. Doch die User beziehungsweise das User-Verhalten und das Datenmaterial, das es generiert, sind lediglich der Rohstoff, mit dem die Tech-Konzerne arbeiten. «Der Überwachungskapitalismus erhebt unilateralen Anspruch auf den Rohstoff unserer menschlichen Erfahrung, um ihn zu Daten über unser Verhalten zu verarbeiten», schreibt Zuboff.
Wer sind die wirklichen Kunden des Geschäfts? Ausschliesslich Marktteilnehmer, die Werbung schalten. Facebook und Google bilden das Unikum von Weltkonzernen, die eine noch nie da gewesene User-Basis haben (sie umfasst einen guten Teil der Weltbevölkerung), die diese User in ihrem Geschäftsmodell aber nicht wie ihre Zielgruppe, sondern wie ihren Rohstoff behandeln. Überwachungskapitalismus ist die Antithese zum auf Massenkonsum ausgerichteten Kapitalismus, der das letzte Jahrhundert bestimmt hat. Es geht nicht mehr um Bedürfnisbefriedigung, es geht um Datenextraktion.
Mit der Vermessbarkeit des menschlichen Verhaltens hat sich dem heutigen Kapitalismus praktisch unbegrenztes, unberührtes Neuland eröffnet. Es wird nun in rasendem Tempo kolonialisiert – nur schon deshalb, weil ökonomische Systemzwänge danach verlangen und weil die chronische Nachfragekrise der immer ungleicheren Wirtschaftsordnung dringend nach neuen Absatz- und Expansionsmöglichkeiten verlangt.
Zuboff schreibt die Theorie des Wirtschaftshistorikers Karl Polanyi fort, der vertrat, dass der moderne Kapitalismus nur deshalb möglich wurde, weil er eine dreifache «Kommodifizierungs-Fiktion» aufbaute. Menschliche Schöpfungskraft konnte als «Arbeit» zu einer Marktgrösse werden, Natur als «Grundbesitz», Tauschbeziehungen als «Geld». Dank Google, Facebook und Co. gibt es jetzt eine vierte Kommodifizierungs-Fiktion für die menschliche Erfahrung. Sie wird als «User-Verhalten» in den Verwertungsprozess integriert. Es ist ein sehr werthaltiger Rohstoff, den der grössere Teil der Weltbevölkerung den Tech-Konzernen kostenlos zur Verfügung stellt. Sie brauchen ihn nur zu schürfen – und zu Geld zu machen.
Das neue Totalitätsstreben
Das ist umso delikater, als die Erfahrungs-Kommodifizierung nicht dabei haltmachen kann, das menschliche Erleben zu vermessen. Kommerziell interessant wird es erst, wenn User-Verhalten auch vorausgesagt werden kann, wenn Reaktionsmuster statistisch präzise erfasst und damit kontrollierbar geworden sind. Das Geschäftsmodell von Big Data beruht letztlich nicht auf der blossen Erfassung, sondern auf der möglichst weit gehenden Kontrolle von menschlichem Verhalten. Informationstechnologie wird damit zum Motor eines neuen, nicht ideologie-, sondern kommerzgetriebenen Totalitätsstrebens, das jedoch problemlos harmoniert mit dem Hyperindividualismus. Big Data führt zur Beherrschung des gesellschaftlichen Ganzen jenseits aller kollektiven Verbindlichkeiten.
Zuboff ist allerdings überzeugt, dass es nicht unabänderliche technologische Prozesse sind, die die Entwicklung der Informationsgesellschaft bestimmten, sondern dass im Gegenteil immer politische und ideologische Faktoren den Ausschlag gaben. Es gibt immer eine Alternative. Es reicht der kollektive Wille, sie zu ergreifen.
Die Autorin schildert beispielsweise sehr ausführlich, wie es den amerikanischen Tech-Konzernen immer wieder gelingen konnte – und weiterhin gelingt –, den Schutz der Privatsphäre auszuhebeln, und wie konkrete politische Umstände häufig eine entscheidende Rolle gespielt haben. Vielleicht würden wir heute in einer ganz anderen Welt leben, wenn Google nicht im unmittelbaren Umfeld des 11. September in die entscheidende Entwicklungsphase gekommen wäre und wenn der panische Kampf gegen den Terror den Schutz der Privatsphäre nicht über Nacht von der politischen Agenda hätte verschwinden lassen.
Letztlich gebe es keine technischen Imperative, sagt Zuboff. Alles hänge an den politischen Ressourcen beim Vorhaben, der Kommodifizierung des menschlichen Verhaltens einen Riegel vorzuschieben. Eigentlich ist das eine gute Nachricht. Eigentlich.
Illustration: Alex Solman
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