Moment der Innigkeit vor dem grossen Schritt: Ein Guerillapaar der Farc tanzt in der Nacht vor der Abgabe der Waffen. Ana Karina Delgado Diaz/Keystone

Krieg ist einfacher als Frieden

In Kolumbien sind die Farc entwaffnet, der Bürgerkrieg ist seit zwei Jahren beendet. Doch das Land bleibt unversöhnt, und in einigen Gegenden ist es heute gefährlicher als zuvor. Warum es trotzdem Grund zum Optimismus gibt.

Von David Karasek, 08.02.2019

Im September 2015 bin ich nach Kolumbien ausgewandert. Zwei Tage nach meiner Ankunft in Bogotá sass ich im Taxi, das Radio lief, ich verstand kein Wort. Doch der Nachrichten­sprecher klang so aufgeregt, dass ich ahnte, dass etwas Sensationelles passiert sein musste. Mit Händen und Füssen versuchte der Fahrer, es mir zu erklären.

Daheim stürzte ich zum Fernseher: Drei weiss gekleidete Herren reichten einander die Hand. Der damalige Präsident Juan Manuel Santos, «Timoschenko», Kommandant der Farc-Guerilla, Kubas damaliger Präsident Raúl Castro als Vermittler. Selbst mir, dem Neu-Kolumbianer, war klar: Die Welt war nun eine andere.

Binnen eines Jahres folgten dem Handschlag die Unterschriften: Im September 2016 unterzeichneten Präsident Santos und Farc-Kommandant «Timoschenko» einen Friedensvertrag. Er beendete den längsten Bürgerkrieg unserer Zeit, 250’000 Menschen waren getötet, 7 Millionen vertrieben, Zehntausende entführt worden.

Die Farc-Rebellen versprachen, ihre Waffen abzugeben und künftig nur noch als politische Partei zu agieren. Der Staat versprach, das Wahlsystem gerechter zu machen, die Guerillakämpfer zu begnadigen und den Boden fairer zu verteilen.

Doch das Volk sträubte sich. In einem Referendum stimmten 50,2 Prozent gegen das Abkommen. Es wurde trotzdem umgesetzt, mit kleinen Änderungen. Expertinnen in aller Welt lobten den Friedensvertrag als beispielhaft. Präsident Santos erhielt den Friedens­nobelpreis. Farc-Chef «Timoschenko» ging leer aus.

Dann stockte es. Aus dem Friedensvertrag wurde kein Frieden.

Aber ist Frieden nicht besser als Krieg, immer und grundsätzlich? Doch allmählich begriff ich: Das gilt nicht immer, und nicht für alle Menschen. Und es gilt nicht für Kolumbien.

Viele Menschen hier hatten sich an den Krieg gewöhnt. Er war alltäglich, er teilte ihre Welt in Gut und Böse. So schlimm er war, so einfach war er. Frieden ist komplizierter. Es gibt kein Schwarz und kein Weiss.

Viele Kolumbianerinnen stimmten gegen das Friedens­abkommen in einer Mischung aus Wut und Gerechtigkeits­empfinden: Brutal und skrupellos hätten die Rebellen das Land terrorisiert. Mit ihnen an der Supermarkt­kasse anstehen, im Büro sitzen oder auf dem Spielplatz plaudern? Undenkbar. Die Farc-Kämpfer gehörten in den Knast, nicht integriert.

Seither sind über zwei Jahre vergangen. Und das Land schwankt wieder zwischen Frieden und Krieg. Mitte Januar 2019 explodierte vor einer Polizeischule in Bogotá ein vorbei­fahrendes Auto, mehr als 20 Menschen starben. Das erste Selbstmord­attentat in der Geschichte Kolumbiens. Die marxistische Splitter­gruppe Ejército de Liberación Nacional (ELN) bekannte sich zum Anschlag. Und im ganzen Land werden weiterhin Menschenrechts­aktivisten erschossen, und bewaffnete Banden machen entlegene Gegenden unsicher.

Was wird jetzt aus dem Frieden in Kolumbien? Vier Menschen habe ich getroffen auf der Suche nach Antworten. Zwei Kolumbianer und zwei Schweizer. Einen ehemaligen Farc-Kommandanten und eine ehemalige Dschungel­kämpferin. Den Chef des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) im Land und einen Konfliktforscher.

Und ich weiss jetzt zwei Dinge: dass der Frieden brüchig bleibt. Und dass das Land trotzdem eine Chance hat. Es wird nur alles viel, viel länger dauern als gedacht. Kolumbien braucht Zeit.

Kolumbien

Gemessen an der Bevölkerung ist Kolumbien mit einer Einwohnerzahl von knapp 50 Millionen der zweitgrösste Staat Südamerikas nach Brasilien. In der Hauptstadt Bogotá leben 8 Millionen Menschen.

1. Der Kriegsverbrecher

Israel Zúñiga trägt bunte Ketten um die Handgelenke und um den Hals, er hat einen kahl rasierten Schädel und einen perfekt gestutzten Bart. Er wirkt erschöpft. Seine Augen sind wässrig, sein Händedruck ist kräftig.

Während des Bürgerkrieges kommandierte Israel Zúñiga eine Farc-Einheit, die in den unzugänglichen Dschungel­gebieten an der Grenze zu Panama operierte. Dort kontrollierte er nicht nur Schmuggel­routen für Drogen und Waffen, dort war er auch an einem Massaker beteiligt, an das sich jede Kolumbianerin erinnert: 2002 zündete seine Truppe während der Messe in der Kirche des Dorfes Bojayá eine Bombe und tötete 49 Kinder und 25 Erwachsene. Hunderte wurden verletzt.

Israel Zúñiga wurde zu 36 Jahren Haft verurteilt, aber statt in den Knast kam er in den Senat. Teil des Friedens­abkommens ist eine Amnestie, sie verzeiht noch die abscheulichsten Verbrechen.

Zúñiga ist einer der Köpfe der neuen Farc-Partei und einer ihrer fünf Senatoren. Und so verhasst, dass er keinen Schritt machen kann ohne seine sechs Leibwächter. Wir treffen uns auf der Terrasse eines Cafés in der Nähe des Flughafens, der Himmel ist blau, aber kühl, wie so oft in Bogotá – und am Eingang lungern betont unauffällig sechs Männer in Zivil herum. Ununterbrochen werfen sie Blicke zu ihrem Schützling, manchmal tippen sie etwas in ihre Smartphones, sie lassen den Farc-Senator aber nie aus den Augen.

«Que gusto verte, mi hermano!», begrüsst mich Zúñiga überschwänglich, schön dich zu sehen, Bruder! Eine häufig gebrauchte Redewendung in Kolumbien, trotzdem bin ich irritiert, möchte ich, dass er mich Bruder nennt?

Zúñiga will nichts trinken, ich bestelle einen Tinto. Die anderen Gäste sind in Gespräche vertieft. Das Friedens­abkommen garantiert den ehemaligen Farc-Rebellen zwei Legislaturen lang zehn Sitze im Parlament, fünf im Senat, fünf in der Abgeordneten­kammer. Ohne diese Garantie hätte die neue Partei keine Chance gehabt. Im März 2018, bei ihrer ersten demokratischen Wahl, holte sie 0,3 Prozent der Stimmen.

David Karasek
«Wir konnten uns einzig mit Gewalt Gehör verschaffen.»
Israel Zúñiga, Senator und ehemaliger Farc-Kämpfer

Das sei die Schuld der Medien, sagt Zúñiga jetzt mit seiner kratzigen Stimme. Er macht kurze Sätze und sagt kein Wort zu viel. «Sie geben uns ein negatives Image. Wir sind das Monster. Aber die Wählerinnen und Wähler werden immer besser verstehen, dass auch andere in den Krieg involviert waren. Und wenn sie begreifen, dass auch wir Menschen sind, dann werden wir mehr Stimmen erhalten.»

Zúñiga erzählt, er sei einst den Farc beigetreten, um gegen Armut und Ungleichheit zu kämpfen. Schön und gut – aber was sei daraus geworden? Bereue er das Massaker in der Kirche? Die Gewalt der Farc, antwortet Zúñiga, sei lediglich die Antwort auf die Gewalt des Staates gewesen. Selbstverteidigung.

Das ist die Standardantwort der ehemaligen Rebellen. Man hört sie oft. Als hätten alle ehemaligen Farc-Kämpfer den gleichen Kommunikations­kurs besucht. «Wir konnten uns einzig mit Gewalt Gehör verschaffen», sagen sie und sagt auch Zúñiga. Mehr will er dazu nicht sagen.

Tatsächlich ist Kolumbien bis heute ein erdrückend ungleiches Land. Das reichste Zehntel verdient fast die Hälfte des nationalen Einkommens, das ärmste Zehntel lediglich ein Prozent. Die überwiegend weisse Mittel­schicht in den Städten lebt ähnlich gut wie die Mittel­schicht in Europa. Die überwiegend mestizische Unter­schicht auf dem Land lebt mancherorts wie im Mittelalter.

Diese erdrückende Ungleichheit befeuerte vom Anfang bis zum Schluss den Kampf der Farc, der ehemals grössten Guerilla­organisation Latein­amerikas. Und Geld hatten die Farc auch stets. Mit dem «Schutz» von Kokafeldern, Drogen­küchen und -routen nahmen sie so viel Geld ein, dass sie bis zu 20’000 Männer und Frauen unter Waffen hatten.

Ein Blick in die Anfangsjahre: Farc-Kämpfer in den Siebziger­jahren in einem Trainingslager. AFP Photo/Alatpress

Und das war dann auch die Erzählung der Regierung in Bogotá: Für die bürgerlichen Parteien waren die Farc nie eine politische Bewegung, sondern eines der grössten Drogen­kartelle des Planeten.

Zúñigas heutiges Leben als Senator beschert ihm ein Gehalt von umgerechnet etwa 10’000 Franken pro Monat. Doch er besteht darauf: Es ist wie immer. «Ich träume weiter von sozialer Gerechtigkeit – früher kämpfte ich, heute diskutiere ich. Es ist und bleibt eine Suche nach Zielen und Träumen, egal ob im Dschungel oder im Senat.»

In vielen Gebieten, wo die Farc früher das Sagen hatten, machen sich nun andere Banden breit. Hat Zúñiga einen Plan dagegen? Nein, hat er nicht. «Kolumbien befindet sich in einem Prozess. Auch Europa brauchte viele Jahre, um den Gewalt­exzessen der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts zu entkommen», sagt er. In einer derart ungewissen Zeit bräuchten die Menschen viel Kraft, um nicht wieder in alte Muster zu verfallen. «Wir brauchen Geduld. Auch Frieden ist ein Kampf.»

Nach einer Stunde ist das Gespräch beendet. Zúñiga weiss, dass die Farc als Partei kaum etwas bewirken können – und somit auch er als Senator. Zu schwach ist ihre Position im Land. Aber er gibt es nicht zu. Alles normal, alles gut, es waren eben andere Zeiten, damals, im Krieg. Da musste man sich die Hände schmutzig machen. Und sei es durch die Zerstörung einer voll besetzten Kirche.

Im Stillen hadere ich: Gewiss, ohne Vergebung ist Frieden nicht möglich. Aber darf so jemand einfach so Politiker sein? Ohne Strafe, ohne Reue, ohne öffentliches Schuldbekenntnis?

Zúñiga streckt mir seine Hand hin und verabschiedet sich. Sein Händedruck ist noch fester als bei der Begrüssung.

2. Der Vermittler

Alle 48 Stunden wird in Kolumbien im Durchschnitt ein politischer Aktivist umgebracht. Die Uno hat gezählt, dass über 311 Menschenrechtsvertreter getötet wurden, seit Frieden herrscht. Doppelt so viele wie in den Jahren zuvor. Als solle der Frieden torpediert werden.

Wer steckt dahinter? Und überhaupt – warum nimmt die Gewalt überall im Land wieder zu? Warum treten Banden an die Stelle der Farc? Wer bedroht, erpresst, entführt, ermordet die Dörfler und die Bauern? Das möchte ich von einem prominenten Schweizer wissen.

Das Viertel Parque 93 in Bogotá erinnert an das Berner Monbijou­quartier: Cafés, Spielplätze, gusseiserne Zäune, gepflegte Rabatten. Mittendrin ein moderner Glasbau. Im dritten Stock steht jefe an einer Tür, Chef, und dahinter sitzt ein 60-jähriger Mann in einem schicken Anzug an seinem Schreibtisch. «Bitte keine Fotos», stellt sein Medien­berater klar. Und lässt durchblicken: Überhaupt gebe Harnisch selten Interviews.

Christoph Harnisch stammt aus dem Wallis und leitet seit vier Jahren die Delegation des IKRK hier im Land. Während des Bürger­krieges kämpfte er unermüdlich für den Schutz der Zivil­bevölkerung. Später, während der Friedens­gespräche, hat das IKRK die Farc-Rebellen zwischen dem kolumbianischen Dschungel und den Friedens­gesprächen in Havanna hin- und hergeflogen.

Jetzt suchen er und seine Mitarbeiter nach jenen, die im Krieg verschwunden sind. Knapp 130’000 Menschen gelten als vermisst.

Harnisch ist ein wortgewandter Diplomat. Kurz begeistert er sich, in urchigem Walliser­dialekt, über den Erfolg der Entwaffnungs­strategie. Dann wird er ernst.

«Wir sehen schlicht keine Beweise dafür, dass dieser Friedens­vertrag wirklich in den ehemaligen Farc-Gebieten angekommen ist. Dort, wo er am nötigsten wäre», sagt er. In jenen Randzonen, in denen man den Staat nur vom Hören­sagen kennt. «Genau dort ist vom Frieden bis heute nichts zu sehen. Das macht den Leuten Angst.»

Doch nicht nur der Staat, auch die Farc machten es sich zu einfach: «Die zeigen einfach zu wenig Initiative und erwarten viel zu viel vom Staat», sagt er. «Zwar sind die ehemaligen Rebellen aktiv in der Land­wirtschaft tätig, sie geben sich bei der Vermarktung ihrer Waren aber kaum Mühe.»

Das grösste Problem aber: Die Zahl der Toten steige wieder. «In manchen Gegenden geht es zu wie im Wilden Westen», sagt Harnisch. «Kriminelle Gruppen ersetzen das frühere Treiben der Farc.» Der Koka­anbau blühe wie nie zuvor, obwohl man ihn vor allem anderen bekämpfen wollte. Und erneut sei die Zivil­bevölkerung zum Spielball von Bewaffneten geworden.

IKRK
«Der Konflikt ist nicht nur komplizierter, sondern auch grösser geworden.»
Christoph Harnisch, Leiter IKRK-Delegation in Kolumbien

Wer dahinterstecke? Einerseits seien es Abtrünnige aus der Guerilla, andererseits gewöhnliche Kriminelle, mutmasst Harnisch. Genaues weiss selbst das IKRK nicht. Welche Ideologie diese Gruppen verfolgten, ob sie überhaupt eine hätten? Er zuckt mit den Schultern. Die Gegenden sind kaum zugänglich, der Dialog mit den neuen Bossen sei deutlich komplizierter als früher mit den Farc-Kommandanten.

Nur eines sei sicher, sagt Harnisch: Mit der Zersplitterung nehme die Gewalt zu. «Früher gab es nur die Farc, und die bekämpfte sich nicht selbst.» Das ist heute anders.

Eigentlich, das war der Plan, wollte sich das IKRK nach und nach aus Kolumbien zurückziehen. Es kam anders: 2019 arbeitet das Internationale Komitee vom Roten Kreuz in Kolumbien mit einem deutlich höheren Budget als die Jahre zuvor. Weil der Konflikt «nicht nur komplizierter, sondern auch grösser geworden ist. Das IKRK muss den Tatsachen ins Auge sehen und darf nicht von Erfolgen sprechen, wo keine sind.»

Die Welt denkt: Der Bürgerkrieg in Kolumbien ist vorbei. Doch das stimmt nicht – er hat nur sein Antlitz gewandelt. Die Gewalt nimmt wieder zu. Viele können nur das: Krieg führen. Er lohnt sich. Und sie haben keinerlei Interesse daran, sich von Harnisch und Co. an einen Verhandlungstisch bugsieren zu lassen.

3. Die Kämpferin

Diana Martínez lebt in einer provisorischen Hütte inmitten anderer provisorischer Hütten im sattgrünen Hinterland, etwa sechs Autostunden südlich von Bogotá. Prächtige Natur, staubige, ungepflegte Städte und Dörfer.

Zehn Jahre lang kämpfte Martínez in Tarnanzug und Gummi­stiefeln in den Llanos, einem gewaltigen Savannen­gebiet im Osten Kolumbiens. Jetzt wohnt sie zusammen mit ihrem Mann in der Wieder­eingliederungs­zone La Fila, zusammen mit 350 weiteren demobilisierten Dschungel­kämpfern. In 26 solcher Zonen sammelten sich die Farc-Leute, nachdem sie ihre Waffen abgegeben hatten und aus dem Dschungel gekommen waren.

Auch diese Zone liegt weit abseits von Dörfern und Städten, gerade so, als wolle man die ehemaligen Guerilleros auf Distanz zur Gesellschaft halten. Die Strasse, die von der Kleinstadt Icononzo nach La Fila führt, ist miserabel und durchfurcht von Schlag­löchern. Für die elf Kilometer dieses letzten Wegstücks braucht man mit dem Auto fast zwei Stunden.

Wegweiser? Gibt es auch keine. Und als ich Passanten nach dem Weg frage, schauen sie mich erstaunt an. Was, es wohnen ehemalige Farc-Kämpferinnen in der Nähe? Davon hätten sie noch nie gehört.

Die Türen zu den Hütten stehen meist offen. Aus einem alten Lautsprecher knarzt landes­typische Folklore, akkordeon­lastiger vallenato, mit seinen Balladen, die von der Geschichte Kolumbiens erzählen. Hunde streunen herum, Hühner gackern.

Neue Heimat: Diana Martínez lebt wie andere ehemalige Farc-Rebellen in La Fila, einer von 26  Zonen für entwaffnete Kämpferinnen. Raul Arboleda/AFP/Getty Images

Diana Martínez setzt sich auf ihr knallblaues Kunst­leder­sofa, an den Wänden hängen bunte Poster, als sei dies das Zimmer eines Teenagers. Martínez legt sich ihr Baby an die Brust. Sie ist 29 Jahre alt, vor einem halben Jahr kam der kleine Omer zur Welt. Im Fernseher läuft eine Reportage über das Leben von Soldaten, Martínez schaut nicht hin.

«Endlich kann ich eine Familie haben», sagt sie stolz. Als sie in der Farc kämpfte, war es ihr verboten, ein Kind zu kriegen. Jeden Tag gab es zum Frühstück eine Antibaby­pille. Wer trotzdem schwanger wurde, musste abtreiben oder die Guerilla verlassen.

Laut Uno haben über 13’500 Farc-Kämpferinnen ihre Waffen abgegeben. Rund 3500 leben in einer Wieder­eingliederungs­zone, über 7000 haben sich in Dörfer oder Städte integriert. Auf dem Papier sieht es aus wie ein Erfolg. Doch die Realität ist komplizierter.

Gewiss: Diana Martínez und ihr Mann haben jetzt Strom, einen Fernseher und machen eine Fortbildung in einem eigens für ehemalige Rebellen geschaffenen Programm. Sie lernen, wie man Mais anbaut und wählen geht, und lesen gemeinsam im Friedens­abkommen. In der Dorf­bibliothek stehen Bücher über «Sanitärtechnik» und «Das ABC der Kunst». Lesen statt schiessen. Schwerter zu Pflug­scharen. Dies ist der Plan.

Doch noch immer hängen die beiden olivgrünen Ruck­säcke von Martínez und ihrem Mann an der Karton­wand ihrer Hütte. Sanft streicht sie mit der Hand über den Leder­riemen und erzählt mit leuchtenden Augen vom Leben als Kämpferin. Sie hängt dem alten Leben nach, der Aufregung des Kampfes, dem Umgang mit den Waffen, dem streng geregelten Tages­ablauf, dem klaren Wissen, wer gut ist und wer böse.

Im Alter von 16 Jahren trat sie den Rebellen bei. Aus Liebe zu den Waffen, sagt sie. Und so war es bei vielen: Einige waren wohl tatsächlich von der schlichten kommunistischen Ideologie der Farc überzeugt. Die Mehrheit der Kämpfer aber schloss sich den Rebellen an, weil sie keinen Job hatten, sich langweilten oder, eben, Waffen faszinierend fanden.

Hat sie Menschen getötet? Das wisse sie nicht, sagt Martínez. Wenn ihre Einheit vom Militär angegriffen wurde, habe sie einfach drauflosgeschossen.

David Karasek
«Ohne die Strukturen der Farc ist es sehr anstrengend. Um alles muss man sich selbst kümmern.»
Diana Martínez, ehemalige Farc-Kämpferin, lebt mit Sohn Omer in einem Übergangslager

Ohne die Strukturen der Farc sei es jetzt sehr anstrengend. Um alles müssten sie sich selbst kümmern. Umgerechnet 200 Franken pro Monat erhalten die Menschen in den Wieder­eingliederungs­zonen von der Regierung, doch bald wird damit Schluss sein. Bis im Frühling müssen sich die verbliebenen Rebellen vollständig integriert haben, bis dann müssen sie auch das Übergangs­lager verlassen.

Fragt man sie nach der Vergangenheit, leuchten Martínez’ Augen. Fragt man sie nach der Gegenwart, werden ihre Sätze karger. Fragt man sie nach der Zukunft, schaut sie sorgenvoll. Hier, in der Zone, fühle sie sich sicher. Ein Umzug in eine Stadt? Davor habe sie Angst.

Sie hat keine Ahnung, wie es weitergehen wird. Im Dschungel sei sie Zahnärztin gewesen, das Ziehen von Weisheits­zähnen habe sie sich selbst aus Büchern beigebracht.

Sie fragt mich: «Glaubst du, ich kann damit eine Arbeit in Bogotá finden?»

«Du solltest es versuchen», sage ich, und ich weiss, wie lächerlich das klingt.

Den ganzen Tag verbringe ich in der Wieder­eingliederungs­zone. Als ich im Auto zurückholpere, denke ich über das harte Schicksal der ehemaligen Kämpferinnen und Kämpfer nach. Als die Farc durch die Dschungel streiften und Strassen­sperren errichteten, verbreiteten sie Schrecken und flössten Respekt ein. Kaum fehlen die Waffen, die Strukturen, sieht man, welch verlorene Seelen diese Leute sind.

Diana Martínez weiss nicht, wie es weitergehen soll, wie das geht, ein Leben ohne Krieg. Sie vermisst ihn. Sie ist noch lange nicht im Frieden angekommen.

4. Der Konfliktforscher

Seit Jahrzehnten vermitteln Schweizer Diplomaten in Kolumbien. Einer davon: Philipp Lustenberger aus Luzern. Vier Jahre lang, von 2014 bis 2018, begleitete er als Angestellter der Schweizer Botschaft in Bogotá aus allernächster Nähe den Friedens­prozess. Er reiste durch Dörfer, er organisierte Diskussionen zwischen Kämpfern und Bauern, half, die Waffen­abgabe der Farc-Rebellen zu organisieren. Ich treffe ihn in seinem kleinen Büro in Bern.als Co-Leiter des Mediationsprogramms des Schweizer Friedensforschungsinstituts Swisspeace.

Wie verlief die Waffenabgabe?
Sehr gut. Im weltweiten Vergleich ist kaum eine bewaffnete Gruppe bekannt, die so gewissenhaft und vollumfänglich ihre Waffen niederlegt hat.

David Karasek
«Wie soll eine Integration ehemaliger Rebellen funktionieren, wenn die dazu nötigen Programme fehlen?»
Philipp Lustenberger, Mediator der Friedens­stiftung Swisspeace

Haben die Farc-Leute damit auch der Gewalt abgeschworen?
Die meisten ja. Aber so schnell und einfach funktioniert das nicht. Zum einen waren die Wieder­eingliederungs­zonen zu schlecht vorbereitet. Die Farc mussten zuerst die Unterkünfte mit Plastik­blachen selber aufbauen. Zum anderen, und das ist dramatisch, mangelt es massiv an Integrations­programmen. Das, was unter diesem Namen aktuell angeboten wird, ist schlicht ungenügend.

Gemäss Uno sind bislang nur zwei der vierzehn beschlossenen Programme finanziell abgesichert.
Wie soll eine Integration ehemaliger Rebellinnen und Rebellen in eine komplexe Gesellschaft funktionieren, wenn die notwendigen Programme dazu fehlen? Auch hat es der Staat bisher nicht geschafft, die Sicherheit in den ehemals von den Farc kontrollierten Gebieten zu gewährleisten. Und das führt dazu, dass ungefähr 1700 ehemalige Farc-Rebellen in den Dschungel zurückgekehrt sind. Denn für sie scheint die Wieder­eingliederung im Vergleich zu illegalen Geschäften wie dem Drogen­handel wenig zu bieten.

Trainieren für den Frieden: Eine Gruppe von Ex-Rebellen bei der täglichen Übungseinheit. Federico Rios Escobar/The New York Times/laif

Einmal ganz grundsätzlich gefragt – warum fällt den Kolumbianerinnen und Kolumbianern die Versöhnung so schwer?
Kolumbiens Geschichte ist von Gewalt geprägt. Allein in den letzten dreissig Jahren waren mehr als 8 Millionen Menschen vom bewaffneten Konflikt betroffen. Die Gewalt hat die Gesellschaft polarisiert. Die Kolumbianer und Kolumbianerinnen sind sich nicht darüber einig, was die Ursachen dieser Gewalt sind. Es existieren mehrere Erklärungen, die einander oft diametral widersprechen. Und davon hängt natürlich auch ab, wie sie die Versöhnung sehen. Die Gesellschaft ist geprägt von Misstrauen – gegenüber den Mitmenschen und den staatlichen Institutionen.

Und das Misstrauen hält an?
Ja, der Weg zum Frieden ist nicht geradlinig. In diesem Konflikt gab es immer zwei Schlacht­felder. Die realen Kämpfe im Dschungel, mit Waffen und Helikoptern. Und die medialen Kämpfe, die sich bei den TV-Sendern und auf Twitter abspielen. Lange zielten die Regierungen darauf ab, den Farc als Narco-Terroristen die alleinige Verantwortung für die Probleme Kolumbiens zu geben. Heute, da die Farc als bewaffnete Gruppe nicht mehr existieren, sehe ich Anzeichen für eine Öffnung der politischen Debatte. Das Land muss die Ursachen der Gewalt, der Armut und der Ungleichheit angehen.

Was jetzt?
Der heutige Präsident Iván Duque hat den Friedens­prozess, damals noch aus der Opposition, scharf kritisiert. Als Präsident muss er darauf aufbauen und dringend dafür sorgen, dass in den ländlichen Gegenden Schulen, Strassen und Spitäler gebaut werden. Diese Gegenden brauchen Alternativen zum Drogen­handel und zum illegalen Goldabbau. Das ist möglich. Präsident Duque kann kein Interesse an einem Wieder­aufflammen der Gewalt haben, auch wenn Kriegs­rhetorik für einen Politiker noch so verlockend erscheint. Als moderner Staat muss Kolumbien die Bevölkerung im ganzen Territorium schützen – und an der Demokratie beteiligen.

Dann ist Frieden möglich?
Dann ist Frieden möglich.

Aber noch ist es ein weiter Weg bis dahin. Noch wartet Diana Martínez in einem abgelegenen Lager auf ihre Chance. Noch kämpft der nie gewählte Senator Israel Zúñiga für seine abgedroschenen Ideale. Noch sorgt sich Christoph Harnisch darum, wie er verhindern kann, dass Randregionen unbetretbar werden.

Geduld und Optimismus

Inzwischen lebe ich wieder in Zürich. Die drei Jahre in Bogotá waren die aufregendste Zeit meines Lebens. So gross die Probleme sind, so grossartig sind die Menschen, herzlich, zufrieden, begeisterungs­fähig. Bogotá vibriert. Die Gegensätze sind extrem. Der Glasturm einer Bank, eine bucklige alte Frau mit einem Plastik­tischchen, die Maistaschen verkauft. Alles ist hier wie unter einem Vergrösserungs­glas. Essen oder nicht essen, Gerechtigkeit oder keine, Leben oder Tod.

«Denken Sie sich Konflikt­lösung nicht als einen Endzustand, sondern als einen Prozess», sagt der britische Historiker Christopher Mitchell, ein führender Konfliktforscher.

Neue Umfragen haben ergeben: Kolumbianer blicken so pessimistisch in die Zukunft wie seit langem nicht. Und das liegt nicht nur an den jüngsten Ereignissen, es liegt auch an den überzogenen Erwartungen. Politiker liessen die Menschen glauben, das Ende des Konflikts bringe ihnen Wohlstand und Sicherheit. Der Friedens­vertrag wurde ihnen verkauft als Rettung für alle. Dass diese Rettung Zeit braucht, viel Zeit, davon sprach kaum jemand. Dass sich das Land grundlegend wandeln muss, bevor sich wirklich etwas ändert, davon war nur selten die Rede.

Dabei hätte man nur zurückschauen müssen in die neuere Geschichte des Landes: Kolumbien hat in den vergangenen Jahrzehnten mindestens fünf Friedens­prozesse hinter sich. Etliche Male wurden Guerilla­gruppen entwaffnet. Jedes Mal war von Frieden die Rede. Jedes Mal war danach kein Frieden. Keiner der Friedens­verträge schaffte es, die in diesem Land so dringend benötigten Reformen voranzutreiben. Warum sollte es also der aktuelle schaffen?

Es gibt viele Herausforderungen. Eine gerechtere Verteilung des Landes, der Zugang zu Bildung, Recht und Ärzten für alle. Das Ende der Korruption. Auf den Koka­plantagen müssen eines Tages Bananen wachsen.

Ist das möglich? Das Land hat es geschafft, die letzte grosse Guerilla dieses Planeten zu entwaffnen. Frieden ist ein Prozess. Er braucht Zeit. Kolumbien braucht Zeit.

Der Autor

David Karasek war Moderator bei Radio 24 und Radio 1 sowie VJ bei TeleZüri. 2015 zog er für drei Jahre in die kolumbianische Hauptstadt Bogotá, wo er als freier Journalist arbeitete und Politologie studierte. Gegenwärtig beendet er seine Masterarbeit, in der er die Programme der ehemaligen Farc-Radiosender analysiert. Zuletzt war Karasek für Recherchen im November 2018 in Kolumbien.