Was ist Zersiedelung?
Über die Schwierigkeit, einen politischen Begriff in wissenschaftliche Worte zu fassen und mit Daten zu messen.
Von Simon Schmid, 04.02.2019
Washington D. C., 1964: Der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten befasst sich mit einem kniffligen Fall. Nico Jacobellis, ein Kinobetreiber aus Cleveland Heights im Bundesstaat Ohio, hat Rekurs gegen eine Busse über 2500 Dollar wegen Vorführens von obszönem Material eingelegt. Diese ist ihm wegen des Films «Les amants» von Louis Malle aufgebrummt worden, den er in seinem Kino gezeigt hatte: ein Liebesdrama über eine verheiratete Frau und einen jüngeren Mann, das mit einer Sexszene endet.
Ist die Busse gerechtfertigt, oder soll Jacobellis freigesprochen werden?
Keine leichte Frage für die neun Richter am Supreme Court. Denn: Anhand welcher Kriterien sollen sie festlegen, was obszön ist und was nicht? Wie können sie festlegen, wo Romantik endet und wann Pornografie beginnt? Lässt sich das objektiv bestimmen oder gar messen?
Der Index
Ponte Tresa, Vevey, Wiggiswil, 2019: Die Debatte rund um die Zersiedelung der Schweiz hat auf den ersten Blick wenig mit nackter Haut zu tun.
Im Zentrum steht allerdings eine ähnliche Frage: die nach dem gesunden Mass. Wo hört legitime Besiedelung auf, wann beginnt schädliche Zersiedelung?
Es ist wohl kein Zufall, dass in Diskussionen über die Zersiedelungsinitiative oft mit Metaphern hantiert wird: Siedlungsbrei, Hüslischwiiz, Landverschleiss.
Denn an präzisen Informationen darüber, an welchen Orten die Schweiz wie stark zersiedelt ist, fehlt es weitgehend. Und wenn dazu Zahlen genannt werden, so zeigen diese unter anderem auch dies: wie schwierig es ist, überhaupt ein sinnvolles Mass für die Zersiedelung anzugeben.
Illustrieren lässt sich dies anhand eines Zersiedelungsindex, der an der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL) in Zusammenarbeit mit dem Umweltwissenschaftler Jochen Jaeger von der Université Concordia in Montréal entwickelt wurde und vom Bund etwa im Monitoringprogramm «Landschaftsbeobachtung Schweiz» verwendet wird.
Dieser Index ordnet einer bestimmten räumlichen Einheit – sei es einem Kanton, sei es einer Gemeinde oder einfach einem Planquadrat von 100 mal 100 Metern – anhand von diversen messbaren Kriterien eine Zahl zu (mehr zu diesen Kriterien gleich).
Je höher die Zahl ist, als desto stärker zersiedelt muss die jeweilige räumliche Einheit betrachtet werden. Hier eine Karte, die den Zersiedelungsindex in den Gemeinden zeigt – für das aktuellste Jahr, zu dem Daten vorliegen: 2010.
Sie stammen aus dem Fachbuch «Zersiedelung messen und begrenzen» von Christian Schwick, Jochen Jaeger, Anna Hersperger, Gierina Cathomas und Rudolf Muggli, das 2018 im Haupt-Verlag erschienen ist. Die Daten auf Gemeindeebene wurden uns von den Autoren zur Verfügung gestellt. Die Berechnung des Zersiedelungsindex und seiner Komponenten basiert auf diversen Primärquellen. Wichtigste Grundlage ist das Topografische Landschaftsmodell (TLM), eine vom Bund gepflegte Datenbank für dreidimensionale Geodaten. Ergänzend kamen kantonale Daten sowie Daten aus der Eidgenössischen Volkszählung und der BFS-Betriebszählung zum Einsatz.
Auf der Karte sieht man blau, gelb und rot eingefärbte Gemeinden. Die Einheit hinter der Farbskala ist ein wissenschaftliches Konstrukt: Der Index wird in sogenannten Durchsiedelungseinheiten pro Quadratmeter gemessen.
Sechs bis zehn dieser Einheiten zeigen eine mittelhohe Zersiedelung an. Gemeinden in diesem Bereich sind gelb bis leicht orange eingefärbt. Gemeinden mit tieferen Werten gelten als schwach zersiedelt und sind blau, solche mit höheren Werten gelten als hoch zersiedelt und sind rot eingefärbt.
Am stärksten zersiedelt (rot) sind gemäss diesem Index also viele Gemeinden rund um Zürich und Basel, im Mittelland rund um Aarau und Olten sowie Gemeinden im Tessin und in Teilen des Wallis. Auch am Ufer des Genfer- und des Bodensees stechen einzelne Gemeinden mit hohen Werten hervor.
Stellt sich die Frage, ob man diese Gegenden tatsächlich mit den genannten Schlagworten in Verbindung bringt: Siedlungsbrei, Hüslischwiiz, Landverschleiss. Oder ob diese Begriffe überhaupt nicht zur Karte passen. Warum ist etwa die Stadt Zürich, anders als ihr Umland, blau eingefärbt? Und warum ist gemäss dem Index praktisch der ganze Kanton Tessin rot?
Das Rätsel klärt sich ein Stück weit auf, wenn man die drei Teilkomponenten, aus denen der Zersiedelungsindex berechnet wird, einzeln betrachtet.
1. Siedlungsbrei
Die erste der drei Komponenten ist der Anteil der Siedlungsfläche an der gesamten besiedelbaren Fläche in einer Gemeinde. Wie viele Prozent von Renens, Gerlafingen oder Rorschach sind verbaut – wie viele sind noch frei?
Die Karte, die nur dieses eine Kriterium abbildet, zeigt leichte Unterschiede im Vergleich zur Karte mit dem Gesamtindex. Auf ihr erscheinen grosse Städte wie Zürich, Basel und Bern nicht mehr blau, sondern rot. Das leuchtet ein, wenn man den Anteil der überbauten Fläche in einer Gemeinde als relevanten Indikator für die Zersiedelung ansieht. Siedlungsbrei eben.
Auffallend ist, dass das Tessin auch in dieser Darstellung hervorsticht. Fast alle dortigen Gemeinden haben ihre verfügbare Siedlungsfläche – aus der unbewohnbares Berg- und Waldgebiet explizit ausgeklammert ist – gemäss dem Indikator also bereits stark überbaut. Sie erscheinen tiefrot.
Fragt sich, ob dies eine sinnvolle Aussage ist – schliesslich gibt es in den Tessiner Bergtälern nun wirklich keinen Siedlungsbrei.
Ist es also falsch, unbesiedelbares Gelände nicht in die Berechnung der überbauten Siedlungsfläche einzubeziehen? Die Antwort hängt davon ab, welche Frage man genau beantworten will.
Wie stark ist die Zersiedelung des gesamten Bezugsraums? Hier würde man Steilhänge, Wälder und hoch gelegene Alpen ebenfalls berücksichtigen. Täte man dies, so schnitten das Wallis und das Tessin systematisch besser ab, wären also nicht mehrheitlich rot, sondern blau. Gemeinden mit viel unwirtlichem Umland würden damit systematisch vom Indikator bevorteilt.
Wie stark ist die Zersiedelung des prinzipiell besiedelbaren Bezugsraums? Hier bezieht man das unbesiedelbare Gebiet nicht mit ein. Der Fokus liegt dann auf der Frage, wie haushälterisch die Gemeinden effektiv mit ihrem Boden umgehen. Was für einen Vergleich meist von grösserem Interesse ist.
Messungen sind also stets auch Entscheidungen – um die man nicht herumkommt, wenn man ein Phänomen wie die Zersiedelung untersuchen will.
Bei der zweiten Komponente des Index fiel die Wahl auf eine Grösse, die etwas ganz anderes zum Ausdruck bringt als die erste Komponente.
2. Hüslischwiiz
Und zwar: die Streuung der Siedlungsfläche, fachsprachlich auch Dispersion genannt. Diese Masszahl ist kompliziert zu berechnen. Vereinfacht gesagt geht es um Folgendes: Wie gross sind die typischen Distanzen zwischen den Häusern innerhalb eines Beobachtungshorizonts von zwei Kilometern?
Je verstreuter die einzelnen Siedlungspunkte innerhalb eines Gebiets sind, desto höher ist die Dispersion. Städte sind hier tendenziell im Nachteil gegenüber Dörfern; ausgefranste Dörfer im Nachteil gegenüber kompakten: Die Dispersion misst so etwas Ähnliches wie die «Verhäuselung» einer Gegend.
Bei dieser zweiten Komponente entsteht ein ganz anderes Farbbild als bei der ersten. Am stärksten zersiedelt erscheint hier eine ganze Reihe von kleineren, von Lausanne quer übers Mittelland bis an den Bodensee liegenden Gemeinden. Sie tragen Namen wie Meienried, Cremin, Noflen.
Natürlich bildet auch dieser zweite Indikator die Zersiedelung in der Schweiz für sich allein nicht vollständig ab. Wie soll er auch – wo doch bereits die Vorstellungen davon, was Zersiedelung überhaupt ist, unklar sind.
Diverse Definitionen zum Begriff der Zersiedelung sind denkbar. Der allgemeinste Ansatz etwa lautet: «Zersiedelung ist das Gegenteil einer haushälterischen Nutzung des Bodens.» So berichten es die Autoren in ihrer Studie. Mit einer solchen Aussage kommt man allerdings als Forscher nicht weit. Sie nützt einem ungefähr so viel wie die Feststellung, Pornografie sei das Gegenteil von Sittlichkeit. Um sich ein Urteil zu bilden, genügt das nicht.
Die Autoren verwenden darum eine erweiterte Definition: «Die Zersiedelung einer Landschaft ist umso grösser, je stärker sie von Gebäuden durchsetzt ist, je weiter diese gestreut sind und je mehr Fläche jede einzelne Bewohnerin und jeder einzelne Bewohner sowie jeder Arbeitsplatz in Anspruch nimmt.»
Damit lässt sich als Forscher arbeiten. Und eine dritte Komponente beziffern.
3. Landverschleiss
Diese Komponente ist wiederum einfacher zu verstehen als die vorherige. Es handelt sich um die Flächeninanspruchnahme pro Person und Arbeitsplatz.
Wie viele Quadratmeter Siedlungsfläche werden in einer Gemeinde pro Kopf verbraucht? Das Spektrum reicht hier von gut 40 Quadratmetern in der Stadt Genf bis zu mehreren 1000 Quadratmetern in manchen Tessiner Ortschaften. Je grösser die Zahl, desto stärker die Zersiedelung in einer Gemeinde.
Geht man nach dem Flächenverbrauch pro Person und Arbeitsplatz, so erscheint das Mittelland nicht mehr so zersiedelt, und auch nicht die Stadt Zürich. Sondern die Berggebiete, das Freiburger- und das Waadtland südlich des Neuenburgersees sowie die Kantone Jura und Thurgau. Hier ist der Landverschleiss pro Kopf im Vergleich zur Restschweiz am grössten.
So viel zu den drei Komponenten. Um daraus schliesslich einen Gesamtindex zu erhalten, werden diese erst einzeln gewichtet – und dann multipliziert. Das Ergebnis daraus haben wir ganz oben in der ersten Karte dargestellt.
Auch diese Kombinationsmethode ist natürlich eine bewusste Entscheidung: Man kann sie so fällen, wie die Autoren es gemacht haben – basierend auf ihren Überlegungen und ihrer Erfahrung –, oder auch anders.
Aber immerhin lassen sich so am Ende einigermassen objektive Aussagen darüber machen, an welchen Orten die Schweiz am stärksten zersiedelt ist.
Und man kann – dafür eignet sich der Index eigentlich noch besser – auch ermitteln, wie stark die Zersiedelung über die Zeit zugenommen hat. Spoiler: Das Bild für die Zunahme der Zersiedelung zwischen 1990 und 2010 sieht der Momentaufnahme aus dem Jahr 2010 extrem ähnlich.
Was man mit dem Index freilich nicht kann: Wohnumfeldqualität und Ästhetik messen. Diese qualitativen Aspekte stellen in der Forschung bis heute eine zu grosse Herausforderung für eine schweizweite Erfassung dar.
Schluss
Washington D. C., 1964: Im Prozess zu «Les amants» entscheiden die Richter schliesslich mit 6 zu 3 Stimmen auf Freispruch. Kinobetreiber Nico Jacobellis hat demnach seinen Zuschauern keine verbotenen Obszönitäten vorgesetzt.
Wie die Rechtsprecher zu ihrem Urteil kommen?
In die Geschichtsbücher sollte es die Begründung von Richter Potter Stewart schaffen. Die fragliche Sexszene sei natürlich keine Pornografie, schreibt er.
Denn: «I know it when I see it.» – Ich erkenne Pornografie, wenn ich sie sehe.
Vielen von uns geht es mit der Zersiedelung ähnlich: Wir erkennen sie, wenn wir sie sehen. Die Zersiedelung exakt zu messen – das ist allerdings eine ganz andere Frage. Eine, die viel komplizierter zu beantworten ist, als es scheint.
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