Menschen dritter Klasse
Von Brigitte Hürlimann, 28.01.2019
Wer sich trotz eines rechtskräftig abgelehnten Asylgesuchs und trotz rechtskräftig verfügter Wegweisung immer noch in der Schweiz aufhält, mutiert zum Menschen dritter Klasse. Er verliert jegliches Verständnis und Ansehen, hat kaum mehr Rechte, wird anders behandelt als alle anderen – und dies in einem erschütternden Ausmass.
Kleine Kostprobe gefällig?
Es geht um den Fall eines 56-jährigen ägyptischen Mannes, über den kürzlich das Zürcher Obergericht in einem schriftlichen Verfahren geurteilt hat. Es spricht den Ägypter der Missachtung einer Eingrenzung schuldig und verhängt eine Freiheitsstrafe von 60 Tagen unbedingt; damit halbiert die Berufungsinstanz zwar die Strafe, die zuvor vom Bezirksgericht Zürich ausgefällt worden war. Der Schuldspruch, die Sanktion und vor allem die Urteilsbegründung hinterlassen aber einen Nachgeschmack.
Der verurteilte Mann, der schon mehrmals wegen rechtswidrigen Aufenthalts in der Schweiz und einmal wegen Erwerbstätigkeit ohne Bewilligung verurteilt worden war, hätte gemäss Eingrenzungsverfügung den Bezirk Pfäffikon nicht verlassen dürfen. Weil er sich gegen eine geplante Umplatzierung wehren wollte, fragte er den Leiter seines Heims und einen Arzt an, ob er trotzdem mit dem Zug nach Zürich fahren dürfe, um beim Sozialamt und beim Migrationsamt vorzusprechen – also just bei jener Behörde, welche die Eingrenzung verfügt hat. Der Ägypter hatte vor, ein Arztzeugnis vorzulegen, um aus gesundheitlichen Gründen von der Umplatzierung – eine gängige Schikane, übrigens – verschont zu bleiben.
Er fragte also zwei unverdächtige Autoritäten an, die dem Vorhaben zustimmten, und einziger Zweck der Reise war ein Behördenbesuch. Nun wird ihm aber gerichtlich um die Ohren gehauen, dass er keinen Termin beim Migrationsamt hatte und sehr wohl gewusst habe, dass er die Grenzen des Bezirks Pfäffikon nicht hätte überschreiten dürfen. Sachverhaltsirrtum anerkennen die Richter nicht als Entschuldigung: Der Ägypter hätte sich zuerst um eine schriftliche Ausnahmebewilligung bemühen müssen. Das sei ihm bewusst gewesen, heisst es im Urteil des Obergerichts: «Es liegt somit eine eventualvorsätzliche Tatbegehung vor.»
Doch es kommt noch dicker.
Warum wird der Mann mit einer kurzen unbedingten Freiheitsstrafe belegt und nicht mit einer Geldstrafe oder mit gemeinnütziger Arbeit? Eine Geldstrafe fällt ausser Betracht, weil der Verurteilte über kein Einkommen verfügt. Und die gemeinnützige Arbeit wird wegen der fehlenden Aufenthaltsbewilligung nicht angeordnet. Beide Sanktionsarten sind dem Obergericht aber auch zu milde, denn es schreibt: Dem Mann sei «deutlich zu machen, dass er nicht selbständig über seinen Aufenthalt befinden kann, sondern sich an behördliche Anordnungen zwingend zu halten hat. Es erscheint damit die Freiheitsstrafe als eingriffsintensivere Sanktionsart, als zweckmässigere Strafe.» Kein Wort davon, dass der Ägypter einen Heimleiter und einen Arzt angefragt hatte, bevor er die Zugreise nach Zürich antrat – zum Migrationsamt, das ihn verpetzte. Und dafür sorgte, dass er stante pede ins Gefängnis kam, 100 Tage in Sicherheitshaft verbrachte.
Man rechne: Der 56-Jährige hat 100 Tage in der Haft geschmort und wird nun zu einer unbedingten Gefängnisstrafe von 60 Tagen verurteilt. Macht 40 Tage Überhaft, die entschädigt werden müssen. Gemäss Bundesgericht wird eine ungerechtfertigte Haft grundsätzlich mit einem Betrag von 200 Franken pro Tag entschädigt; sofern nicht besondere Umstände gegeben sind, welche die Zahlung eines tieferen oder höheren Betrags rechtfertigen.
Sie ahnen es bereits?
Das Obergericht halbiert die Entschädigung für die Überhaft, es spricht dem Ägypter bloss 100 Franken pro Tag zu, insgesamt also 4000 Franken. Die Begründung für die empfindliche Reduktion lautet folgendermassen: Der Verurteilte wohne in einem Durchgangsheim, mit bescheidenem Wohnkomfort und beschränkten Freiheiten. In seine persönliche Freiheit sei schon vor und unabhängig von der Haft eingegriffen worden (!). Ausserdem weise er in der Schweiz keine familiären Bindungen auf und sei beruflich nicht integriert. (Aber: Er darf ja gar nicht arbeiten.) Das persönliche Ansehen des Mannes sei durch die Haft nicht getrübt worden.
Denn es handelt sich bloss um einen abgelehnten Asylbewerber, der die Schweiz längst hätte verlassen müssen. Das steht so nicht im Urteil. Das ist aber unweigerlich die Conclusio.
Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 30. November 2018, SB180132.