Am Gericht

Widerruf!

Ein Mazedonier wehrt sich gegen seine Ausweisung. Es geht um das Abwägen von Argumenten wie Härtefall, Gastrecht oder Integration. Der Fall in Form eines kleinen Lexikons.

Von Yvonne Kunz, 23.01.2019

Ort: Verwaltungsgericht des Kantons Zürich
Datum: 24. Oktober 2018 (Urteil versandt am 5. Dezember 2018)
Geschäfts-Nr.: VB.2018.00360
Thema: Niederlassungsbewilligung (Widerruf)

Erinnern Sie sich an die heftigen Diskussionen um die migrations­politischen Vorlagen der SVP? Als das Durchspielen hypothetischer Fälle zwecks Erstellung eines Katalogs ausschaffungs­würdiger Delikte zum nationalen Denk­sport wurde? Der verliebte Secondo, der seiner Angebeteten Blumen aus einem fremden Garten pflückt? Der wäre weg, entsetzte sich die eine Seite, wegen Hausfriedens­bruchs und Diebstahls. Demgegenüber klagte die andere, nicht einmal Vergewaltiger könnten umstandslos ausgeschafft werden, wegen der Härtefall­klausel und der Menschen­rechte. Und alle riefen sie im Chor: Rechtsstaat!?

Aber wie läuft so ein Ausweisungs­verfahren konkret? Wenn ein heute bald 33-jähriger, seit rund 25 Jahren in der Schweiz lebender mazedonischer Staats­angehöriger wegen Strassen­verkehrs­delikten das Land verlassen soll? Dann ist er nicht der aus Gerichts­berichten in Strafsachen bestens bekannte «Beschuldigte», sondern zuerst der «Rekurrent», der sich gegen seine Ausweisung wehrt, später dann der «Beschwerde­führer». Die Verhandlung ist kein öffentlicher Prozess, sondern ein Schriften­wechsel. Die «aufenthalts­beendende Massnahme» kein spektakulärer Sonder­einsatz, sondern der Widerruf der Niederlassungs­bewilligung per Einschreiben.

So politisch aufgeladen und menschlich aufreibend solche Verfahren oft sind, rechtlich handelt es sich meist um trockene, in bleierner Sprache getätigte Verwaltungs­akte. Die Rechts­grundlagen sind so umfassend und zahlreich wie in der konkreten Anwendung ungeläufig: Ausländer- und Integrations­gesetz, Integrations­verordnung, Verwaltungs­rechtspflege­gesetz, Menschenrechts­konvention und Bundes­verfassung. Und der bisherige Lauf unseres Ausweisungs­kandidaten durch die Instanzen führt geradewegs in die kontrovers diskutierten Grundsatz­fragen. Zur Veranschaulichung erfolgt die Aufarbeitung seines Falls lexikalisch sortiert: als kleine gesellschafts­kritische Kartografie der einschlägigen Kern- und Kampfbegriffe.

AIG: Abk. für Ausländer- und Integrationsgesetz. Nicht so bekannt wie die Gesetzes­kürzel ZGB oder StGB, regelt das AIG Ein- und Ausreise, Aufenthalt und Verbleib in der Schweiz von Ausländerinnen aller Art: Au-pairs, Grenzgängern, hier geborenen Nieder­gelassenen. Es ist auch Quelle des Refrains, der unseren Ausweisungs­fall prägt: «Die Widerrufs­voraussetzungen gemäss Art. 63 lit. a AIG sind erfüllt.» Der Artikel bestimmt, dass die Niederlassungs­bewilligung nur widerrufen werden kann (Achtung, Verschachtelung!), wenn die Voraussetzungen nach Art. 62 Abs. 1 gegeben sind: a) im Bewilligungs­verfahren wurde gelogen, oder b) die Niedergelassene wurde zu einer längerfristigen Freiheits­strafe verurteilt; nach unbestrittener bundes­gerichtlicher Praxis ab einem Jahr. Wir nehmen b).

Ausländerkriminalität: Überwiegend negativ verwendeter Begriff im Sinne eines unverhältnismässig hohen Anteils von Delinquierenden mit Migrations­hintergrund. Von politischen Akteuren werden diesbezügliche Statistiken als Beleg dafür angeführt, dass zu wenige straffällige Ausländerinnen ausgeschafft würden, weshalb die Hürde für einen Landes­verweis gesenkt werden müsse. Schrauben anziehen! Das war ganz klar auch in der Schweiz die Marsch­richtung der vergangenen Jahre, wie die Annahme der ↑Ausschaffungs­initiative zeigte – eine der wenigen vom Souverän je gutgeheissenen migrations­beschränkenden Vorlagen.

Ausschaffungsinitiative: Das 2010 angenommene Volksbegehren nach mehr Härte im Umgang mit straffälligen Ausländern. In diesem Fall nur deshalb von Belang, weil es aufzeigt, was Harvard-Rechtsprofessor Paul Freund meinte, als er sagte: «Das Wetter des Tages wird kein Gericht beeinflussen, doch der Einfluss des Klimas einer Ära ist unvermeidlich.» Seit dem 1. Oktober 2016 ist die Initiative umgesetzt – doch unser Fall fällt noch unter das ältere und mildere Recht. Dennoch weht bei der Beurteilung altrechtlicher Fälle oft schon ganz ungeniert der Wind der neuen Gesetz­gebung. Das ist direkte Demokratie in der Justiz – und Pech für den Betroffenen.

Balkan-Raser: Durch die Boulevardpresse ca. 2005 popularisierter politischer Kampfbegriff. Die Berichterstattung um Raser­exzesse gebar den Typus des aggressiv-tumben Taugenichts, der mit seiner getunten Karre durchs Mittel­land brettert. Dieser Pauschalisierung wird hier insofern gefolgt, als sich alle dem drohenden Widerruf des ↑C-Ausweises des Mazedoniers zugrunde liegenden Delikte ums Auto drehen. Er leistete sich als ↑junger Erwachsener zwei Delikt­serien: Mit 19 brachen er und zwei Kollegen zahlreiche Fahrzeuge auf, um Autoradios und Benzin­karten zu entwenden. Mit 22 lieferte er sich mit einem Kollegen ein spontanes Wett­rennen. Nachts und bekifft kam es zum Crash, der Beifahrer verletzte sich schwer. Trotz Führerausweis­entzug stahl er kurz danach ein Motorrad und fuhr – ohne Helm – der Polizei davon. Für all das verhängte das Obergericht Zürich 2012 eine Gesamt­strafe von 23 Monaten bedingt.

C-Ausweis: Ugs. für Niederlassungs­bewilligung C, Halter nennen sie noch kürzer «das C», jene Aufenthalts­kategorie, die Ausländerinnen nahezu dieselben Rechte zugesteht wie Schweizer Bürgern. Unser Ausländer war 8 Jahre alt, als er im Rahmen des Familien­nachzugs 1994 in die Schweiz kam, den C-Ausweis erhielt er 2005. Nach dem Urteil des Obergerichts liess ihn das Migrationsamt wissen: Gemäss Art. 63 lit. a ↑AIG seien nun die Voraussetzungen für den Widerruf seiner Niederlassungs­bewilligung gegeben. Sollte sich der junge Mann nicht um eine «geordnete Lebens­weise» bemühen, würde er weggewiesen, denn: «Es entspricht dem öffentlichen Interesse, dass Ausländer, die ihr ↑Gastrecht missbrauchen, unser Land verlassen.» Diese Verwarnung verstand er weder sprachlich noch rechtlich. Umso grösser der Schock, als sich das Migrations­amt vier Jahre später erneut meldete – mit einem Ausreise­datum: Bis zum 7. September 2016 soll er gehen. Grund: Fahren ohne Fahr­bewilligung, Sicherheits­gurte oder Helm, einmal mit 1,17 Promille.

Gastrecht: Das von Juristinnen vielleicht meistzitierte Recht, das gar kein Recht im juristischen Sinn ist. Es ist ein Punkt der Einigkeit: Zuwanderer, die unser Gastrecht auf gravierende Weise missachten, sollen ausgeschafft werden können. Heisst für den Ausländer: Wird er straffällig, ist er im Gegensatz zum Inländer mehr als kriminell. Seine Taten zeugen nicht nur von zweifelhaftem Charakter, sondern sind Beleg für seine mangelhafte ↑Integration. Das ist der Punkt, an dem sich auch grundsätzlich einige Geister an alten Fragen wieder scheiden: Wie lange kann jemand überhaupt Gast sein? Ab wann festigt sich ein Anwesenheits­recht? Ab welcher Aufenthalts­dauer gilt Heimrecht, auch ohne Pass?

Gleichbehandlung: Ius respicit aequitatem, das Recht achtet auf Gleichheit. Bildet mit «Vorbehalt des Gesetzes» und «Verhältnismässigkeit» das Rechtsstaatlichkeits­prinzip. Zu verteidigende Frucht der Aufklärung für die einen, zu erarbeitendes Privileg des Bürger­rechts für andere. Für das Rechtspflege­personal das seitenlange Abwägen von öffentlichen und privaten Interessen. Denn je intensiver der staatliche Eingriff, desto strenger die Bindung ans Verhältnismässigkeits­prinzip. Dieses sah unser Mazedonier, nachfolgend Rekurrent genannt, verletzt und focht den Entscheid an: hier aufgewachsen, Freunde und Familie in der Schweiz, Freundin, Sohn, noch nie Sozialhilfe bezogen und so weiter und so fort. Die Rekurs­abteilung der Sicherheits­direktion zeigte sich unbeeindruckt. Sicher, die letzten Verfehlungen des Rekurrenten seien nicht gravierend, aber allgemein zeige er eine «bemerkenswerte Gleichgültigkeit gegenüber den hier geltenden Regeln». Seine Wegweisung sei deshalb (Achtung, Behörden-Bandwurm!) «eine Massnahme, die in einer demokratischen Gesellschaft für die nationale Sicherheit, die öffentliche Ruhe und Ordnung, das wirtschaftliche Wohl des Landes, die Verteidigung der Ordnung und zur Verhinderung von strafbaren Handlungen, zum Schutze der Gesundheit und Moral sowie der Rechte und Freiheiten anderer notwendig ist». Neues Ausreise­datum: 14. Juli 2018.

Gratisanwältin: Schimpfwort für unentgeltliche Rechts­beiständin, ironisch, weil unabdingbare Folge des Rechtsstaats­prinzips. In unserem Fall heisst die Rechts­beiständin Noëmi Erig. Sie beschreitet den Rechtsmittel­weg und gelangt an die nächste Instanz, das Verwaltungs­gericht des Kantons Zürich. In ihrer Eingabe vom 18. Juni 2018 erinnert sie daran, dass es für den Widerruf der Niederlassungs­bewilligung gemäss Art. 63. lit. a ↑AIG einer «konkreten, auch künftigen Gefährdung» bedürfe. Dazu hält sie fest: Das schwerste Delikt war die Raserei – vor neun Jahren. In den seitherigen Verfehlungen (eine Trunkfahrt von wenigen hundert Metern und Kleinmotorrad-Fahren ohne Helm) eine konkrete Gefahr für die Gesellschaft zu erblicken, sei, paraphrasiert: lächerlich.

Härtefall: Je nach politischer Ausrichtung auch «rechtsstaatliche Notbremse» oder «Täterschutz». Menschenrechts­konvention und Bundes­verfassung garantieren das Recht auf Achtung des Familien­lebens. Daraus erwächst ein Anwesenheits­anspruch, wenn der Ausländer «tatsächlich gelebte familiäre Beziehungen» hat. Wie der Beschwerde­führer, der mit seinem kleinen Sohn und dessen Mutter zusammen­wohnt. Die Vollzeit arbeitende Lebens­partnerin bezeichnet ihn als ihre «rechte Hand». Seit längerem verläuft das Leben des Mannes in geregelten Bahnen, schreibt Noëmi Erig. Erstmals überhaupt gleist er einen langfristigen Lebens­entwurf auf, derzeit besucht er einen Arbeitsintegrations­kurs des RAV. Eine Ausweisung jetzt würde nicht nur ihn, sondern vor allem das Schweizer Kind hart treffen.

Häufige Delinquenz: Neben der Tatschwere ist die Tatmehrheit Kriterium bei der Beurteilung des Verschuldens, was wiederum Auswirkung auf die Strafe hat. Dass nun die Familie mitleide, schreibt das Verwaltungs­gericht unter dem Vorsitz von Andreas Frei in seinem Urteil vom 24. Oktober 2018, könne nicht dem Staat zur Last gelegt werden. Mit seinem Verhalten habe der Beschwerde­führer sein Familien­leben selbst aufs Spiel gesetzt. Das Recht darauf sei ohnehin nicht absolut. Je schwerer und häufiger ein ausländischer Elternteil delinquiere, desto eher vermöge laut Bundes­gericht das öffentliche Interesse das Interesse des Kindes zu überwiegen, mit diesem Elternteil aufzuwachsen. Wohl anerkennen die Verwaltungs­richterinnen die inzwischen fünfjährige Delikt­freiheit des Beschwerde­führers und würdigen den Umstand, dass er nie Gewalt- oder Sexual­delikte begangen hat. Trotzdem: Sein Fahr­verhalten sei wiederholt eine Gefahr für Leib und Leben anderer gewesen, deshalb entspreche seine Entfernung und Fernhaltung aus general­präventiven Gründen einem herausragenden sozialen Bedürfnis.

Integration: Pflicht gemäss ↑AIG, Entscheidungs­grundlage im Migrations­recht, unterteilt in soziale und wirtschaftliche Integration. Die allgemeine Lebens­führung, bei Inländern in Strafsachen unter dem Titel «Täter­komponente» abgehandelt, ist in der migrations­rechtlichen Beurteilung von Ausländern die Integration. Auch in dieser Beziehung fällt der Beschwerde­führer beim Verwaltungs­gericht hochkant durch. Soziale Integration? Nicht über das minimal Erwartbare hinaus: ein paar Kollegen, Sprach­kenntnisse. Wirtschaftliche Integration? Unterblieben. Dass er nicht beim Sozialamt ist, sei vor allem seiner berufstätigen Frau zu verdanken. Die Verwaltungs­richter halten ihm fehlende Ausbildungs­bemühungen und häufige Stellen­wechsel vor, seine zwischen­zeitliche unfallbedingte Arbeits­unfähigkeit und vor allem seine Schulden. Haufenweise Betreibungen und Verlust­scheine, insgesamt fast 200’000 Franken. Somit sei zudem der Widerrufs­grund der Schulden­wirtschaft erfüllt, betrifft also das vorerwähnte «wirtschaftliche Wohl des Landes». Oder auch: Von Reichen lernt man sparen.

Junge Erwachsene: Element der Straf­zumessung, wonach jungen Erwachsenen bis 25 Jahren im Strafrecht besondere Milde zuteil wird. Im Migrations­recht ist insbesondere auch die Volljährigkeits­grenze von 18 Jahren als fliessend zu betrachten. Jung und naiv, übermütig und dumm. So sind die Jungen, dürfen sie auch sein. Dieses Vorrecht der Jugend ist ein Punkt gesellschaftlicher Einigkeit, der in der juristischen Praxis durchaus beachtet wird. Das Schweizer Recht kennt Massnahmen für junge Erwachsene, das Jungsein an sich als mildernden Umstand, alle kennen das, nicht zuletzt aus der Beurteilung der eigenen Biografie oder aus der Erziehung eigener Kinder. In prognostischer Hinsicht ist erwiesen: Die meisten finden mehr oder weniger den Rank, irgendwie. Doch als Ausländerin jung und dumm zu sein, ist doppelt dumm. Ob der Frage jedoch, ob das rechtens sei, ist die Gesellschaft dann wieder gespalten.

Minderheitsmeinung: Auch Sondervotum, abweichende Meinung oder «dissenting opinion». In der angelsächsischen Rechtsprechungs­tradition ist die Publikation von abweichenden Meinungen innerhalb eines Richter­kollegiums anerkannter Bestandteil der Justiz­öffentlichkeit. Die kritische Auseinandersetzung mit Praxis und Lehre, so die Überzeugung, diene der Verfeinerung der juristischen Kultur und damit der Rechts­sicherheit. Skeptiker, in der Schweiz zahlreich, führen an, ein Gericht sei ja eben gerade kein Parlament und ein Urteil kein Gesetz, weshalb demokratische Grundsätze nicht einfach auf rechtsstaatliche Prozesse anwendet werden könnten. Dennoch ändern sich auch hier die Gepflogenheiten. Die Kantone Schaffhausen, Aargau, Thurgau und Zürich publizieren seit längerem Minderheits­meinungen, wenn auch selten. Das hier ist einer dieser seltenen Fälle. Noch seltener, weil nicht ein Richter, sondern die Gerichts­schreiberin den Widerruf der Niederlassungs­bewilligung als unverhältnismässig einstuft. Richtig wäre nach ihrer Ansicht eine Verwarnung. Im Gesamtbild zeugten die Taten des Beschwerde­führers weniger von mangelnder Integration als von mangelndem Verantwortungs­bewusstsein, nachgerade das Definitions­merkmal von ↑jungen Erwachsenen. Den Akten lasse sich entnehmen, dass seit dem Eingehen der neuen Beziehung und der Geburt des Sohnes keine Delinquenz mehr stattfand und Schulden abgebaut werden konnten. Die Gerichts­schreiberin ist überzeugt davon, dass er auf dem richtigen Weg ist.

Rechtskraft: Wenn sämtliche Rechtsmittel ausgeschöpft worden sind (oder der Entscheid nicht weitergezogen wurde), wird das Urteil rechtskräftig und kann vollzogen werden. In unserem Fall liegt noch keine Rechtskraft vor. ↑Gratis­anwältin Noëmi Erig hat diese Woche ihre Beschwerde am Bundes­gericht eingereicht. Es bleibt ihr wenig übrig als zu betonen, was das Verwaltungs­gericht in seiner Verhältnis­mässigkeits­prüfung ausser Acht gelassen hat: Die Delikte sind lange her, begangen in jugendlichem Alter, und vor allem das Wohl des knapp dreijährigen Schweizer Kindes. Über das Juristische hinaus stellten solche Fälle immer auch die grundsätzliche Frage, ob ein Land eine geschlossene Gesellschaft sein soll. Nicht dass Erig je in diesem Sinne plädieren würde, sie ist ja eben Anwältin und nicht Politikerin. Aber bei der Betrachtung von ↑Ausländer­kriminalität dürften Herr und Frau Schweizer nie vergessen: «Jeder könnte auch einfach nur ihr mazedonischer Auto­mechaniker sein, der eine Zeit lang durchs Leben gestolpert ist, aber den sie trotzdem gerne mögen.»

Illustration: Friederike Hantel