Binswanger

Die grosse Blockade

Die Schweiz führt «Konsultationen» zum Rahmen­abkommen durch – eine Alibiübung im Wortsinn.

Von Daniel Binswanger, 19.01.2019

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Vielleicht ist es an der Zeit, einen neuen politischen Gedenk­tag in den Kalender einzuführen. Es gibt ja zum Beispiel bereits den inter­nationalen Tag der Menschen­rechte (10. Dezember), den inter­nationalen Frauentag (8. März), den Welt­flüchtlingstag (20. Juni). Den 15. Januar könnten wir zum inter­nationalen Tag der Demokratie­blockade erheben.

Dass die klassischen Partizipations-, Deliberations- und Entscheidungs­verfahren demokratischer Staaten zunehmend Schwierig­keiten haben, den Ansprüchen der Bürger gerecht zu werden und gleichzeitig zu vernünftigen Entscheidungen zu führen, wird gegenwärtig zu einem immer drängenderen Problem. An diesem 15. Januar nun manifestierte es sich gleich in drei alt­ehrwürdigen demo­kratischen Staaten auf je ganz spezifische und dennoch recht ähnliche Weise.

In Frankreich lancierte Präsident Macron am Dienstag den grand débat national. Er soll den Graben zwischen Regierung und Bevölkerung wieder überbrücken und die immer bedrohlichere Paralyse des Landes durch die weiter fort­schreitende Eskalation der Proteste der gilets jaunes über­winden helfen. Dass das flächen­deckende Bürger­gespräch die franzö­sische Regime­krise beheben wird, darf man bezweifeln. Die gewählte Form der nationalen Debatte ist jedenfalls ein absolutes Novum in der Regierungs­praxis der Fünften Republik.

In England legte Theresa May derweil am selben Dienstag ihren Brexit-Deal dem Unter­haus zur Abstimmung vor, fuhr eine der vernichtendsten Abstimmungs­niederlagen der englischen Geschichte ein, wurde aber schon am nächsten Tag von einer Parlaments­mehrheit in ihrem Amt bestätigt. Die parlamen­tarischen Prozesse entsprachen dem üblichen Vorgehen – doch ihre Dramatik und ihre vollkommen wider­sprüchlichen Resultate sind in dieser Form noch nie da gewesen. Selten hat sich das älteste parlamen­tarische System der Welt so unfähig gezeigt, eine Antwort zu finden auf eine nationale Schicksals­frage. Wie die Blockade über­wunden werden soll? Die Wetten der bookmaker bleiben offen.

In der Schweiz schliesslich fand an eben­diesem letzten Dienstag die erste öffentliche Kommissions­sitzung zum Rahmen­abkommen statt, mit der die «nationale Konsultation» in die Wege geleitet werden sollte. Konsulta­tionen sind dem Schweizer System grundsätzlich alles andere als fremd. Sie werden in der Form der Vernehm­lassung, der parlamen­tarischen Ausarbeitung von Gesetzes­entwürfen und natürlich auch in Form von grossen direkt­demokratischen Konsultationen – sprich Abstimmungen – auf allen Staats­ebenen ständig durchgeführt.

Ein staatspolitisches Novum

Aber Konsultationen zu einem von der Gegenpartei als nicht mehr ver­handelbar bezeichneten Abkommen? Konsultationen zu einem fertig vor­liegenden Verhandlungs­ergebnis, aber ohne Positions­bezug der Regierung? Ein grosser Prozess der Meinungsbildung von Parteien, Kantonen, Verbänden, Sozial­partnern und letztlich der breiten Bevölkerung – also das, was normaler­weise in Abstimmungs­kämpfen geschieht –, ohne dass das Parlament vorgängig deliberiert hätte, ohne dass Exekutive, Legislative oder sonst irgendeine Instanz des Schweizer Regierungs­systems vorgängig eine klare Beurteilung vorgelegt hätten? Auch dieses Prozedere – nicht weniger als der französische débat national, nicht weniger als der Brexit-Showdown im britischen Unterhaus – ist ein staats­politisches Novum.

Wir geben uns gerne der Illusion hin, dass das beste Regierungs­system der Welt – will selbstverständlich heissen: die helvetische Direkt­demokratie – gegen die heute allent­halben grassierenden Krisen der demo­kratischen Repräsentations­systeme gefeit sei. Das ist eine Fehl­einschätzung. Das Land steht heute vor einer der grössten politischen Heraus­forderungen der letzten zwei Jahrzehnte. Und was geschieht? Wir improvisieren neue, nach Alibi­übung riechende Prozesse, ganz einfach, weil die konven­tionellen Verfahren nicht greifen. Ganz einfach, weil die Verantwortungs­träger am Ende ihres Lateins sind. Die Stunde der demo­kratischen Blockade hat auch in der Schweiz geschlagen.

Sicherlich: In Frankreich und Gross­britannien ist die Lage ungleich drama­tischer. Aber viel zuversicht­licher sollte uns das nicht stimmen. Es sind dieselben fundamen­talen Gegeben­heiten der heutigen Welt­ordnung, die auch das Schweizer System mit den konven­tionellen Mitteln der Politik nicht mehr zu bewältigen weiss. Und sie werden sich von selber nicht wieder in Luft auflösen.

Das Globalisierungs­trilemma

Zum einen sind alle diese Demokratie­krisen ein erneuter Ausdruck des Globalisierungs­trilemmas, das der Harvard-Ökonom Dani Rodrik schon vor über zehn Jahren auf den Begriff gebracht hat. Es ist unmöglich, einen starken National­staat, eine starke Demokratie und eine starke inter­nationale Wirtschafts­integration gleichzeitig aufrecht­zuerhalten. Frankreich hat den Versuch, die inter­nationale Integration (eine wirtschafts- und finanzpolitische Neu­ausrichtung im Rahmen des EU-Stabilitäts­paktes) mit der Tradition eines starken Zentral­staates zu versöhnen, mit einer Demokratie­krise bezahlt, die extrem bedrohliche Züge anzunehmen beginnt.

Grossbritannien hat per Referendum den Beschluss gefasst, die Wirtschafts­integration in Teilen wieder rück­gängig zu machen, um der Demokratie vermeintlich wieder zu stärkerem Recht zu verhelfen. Interessanter­weise ist dieser Weg politisch jedoch kaum zu bewältigen. Sowohl die Aussicht eines No-Deal-Brexit als auch die Bedingungen einer fort­gesetzten Binnenmarkt­mitgliedschaft stossen auf massiven Widerstand. Ist die Implemen­tierung demokratischer Verfahren im Rahmen national­staatlicher Souveränität mittler­weile zu etwas geworden, wofür der wirtschaftliche Preis ganz einfach zu hoch ist? Der bizarre Verlauf des britischen Brexit-Pokers deutet darauf hin.

Die Schweiz durchlebt unterdessen einen Brexit à la Suisse – das heisst mit geringeren Einsätzen und in gemäch­licherem Tempo, aber letztlich mit denselben Wider­sprüchen wie Gross­britannien. Die Regierung möchte das Rahmen­abkommen grundsätzlich, ist aber beschluss­unfähig und paralysiert, weil die erdrückende Mehrheit der Parteien, das Parlament und ein guter Teil der Sozial­partner dagegen sind. Daher die Farce einer Konsultation, deren wahrschein­lichstes Ergebnis darin besteht, dass das Projekt versenkt wird, ohne dass die Landes­regierung die Verantwortung übernehmen muss.

Ein taktisches Schwarzpeter­spiel

Das Abkommen ist insbesondere deshalb chancenlos, weil CVP und FDP es nicht unter­stützen. Wie konsequent dieses entscheidende Faktum bisher aus der sogenannten Debatte heraus­gehalten wird, ist mehr als verblüffend. Die beiden grossen Mitte­parteien verstecken sich hinter dem Nein der Sozial­demokraten, die von morgens bis abends als Verhinderer geprügelt werden. Die GLP scheint das Kalkül zu machen, dass es profitabler ist, auf die Roten einzudreschen als auf die Mitteparteien, die ihre unmittelbaren Konkurrenten darstellen.

Das alles hat nur begrenzt mit einer Konsultation oder gar mit einer Debatte zu tun. Im Zentrum steht das taktische Schwarz­peterspiel im Hinblick auf die Verant­wortung für das Scheitern der ganzen Übung und natürlich auch im Hinblick auf die nächsten Parlaments­wahlen. Wie Gross­britannien hat auch die Schweiz momentan die aller­grössten Schwierig­keiten, die nötigen politischen Ressourcen zu mobilisieren, um mit der EU einen Deal zu finden.

Und was wäre ein Lösungs­ansatz für die Über­windung der flächen­deckenden Blockade? Das Rodrik-Trilemma liesse eine dritte Option offen: Die internationale Wirtschafts­integration und die Demokratie könnten gestärkt werden – auf Kosten der nationalen Souveränität. Um der wirtschaftlichen Integration durch eine politische Integration – und das heisst durch rudimentäre Formen einer europäischen Demokratie – einen Rahmen zu geben, wurde das Projekt der Europäischen Union ja ursprünglich voran­getrieben. Heute scheint die EU jedoch weiter denn je davon entfernt, diesem Anspruch gerecht zu werden. Solange sich das nicht ändert, wird guter Rat für die europäischen Demokratien sehr teuer bleiben.

Illustration: Alex Solman

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