Serie «Let’s Talk About Drugs» – Teil 6

«Es gibt eine politische Mehrheit für die Drogenregulierung»

Er will den problemfreien Konsum ermöglichen, auch von Kokain: Der Appenzeller FDP-Ständerat Andrea Caroni im Gespräch. Teil 6 unserer Serie «Let’s Talk About Drugs».

Von Daniel Ryser, Olivier Würgler (Text) und Florian Kalotay (Bilder), 11.01.2019

Schwarz-weiss Nahaufnahme von Andrea Caroni
«Ich laufe mit einem liberalen Nachtsichtgerät durch dieses Land»: Andrea Caroni.

Herr Caroni, jeder erfahrene Sucht­experte in diesem Land scheint frustriert zu sein ob der Schweizer Drogen­politik. Die Verbots­politik ergebe keinen Sinn und richte mehr Schaden an, als dass sie nütze, lauten die Vorwürfe. Auch Sie gelten als Befür­worter einer Regulierung von Substanzen wie Kokain oder Cannabis. Wie erklären Sie das?
Es geht um eine einfache liberale Grundfrage: Jeder soll konsumieren, was er will. Und solange der Konsum einer Substanz nicht schädlich ist für die betreffende Person oder das Umfeld, geht ein Verbot zu weit. Wenn ich eine Regulierung fordere, dann mit dem Ziel, den problem­freien Konsum zu ermöglichen. Dort, wo es Probleme gibt, einzugreifen, aber dort, wo es keine Probleme gibt, also in den meisten Fällen, eben nicht mit dem Holz­hammer drauf­zuhauen. Frei nach dem Motto: Niemand darf nie. Dazu wäre es nötig, dass man die Substanzen endlich aufgrund ihrer tatsächlichen Gefährlichkeit und ihrer Auswirkungen beurteilt und nicht aufgrund historischer Zufälligkeit.

Können Sie das ausführen?
Inzwischen werden in einigen Ländern die Substanzen nüchtern nach ihrer objektiven Gefährlichkeit eingestuft. Das ist in der Schweiz nicht so. Hier spricht man statt­dessen von guten und bösen Drogen. Das Verhältnis von Alkohol zu Cannabis zum Beispiel ist regulatorisch betrachtet ein Scherz. Hier spielen keine objektiven Begründungen, bei denen man sagt: Diese Substanz hat diese und diese Wirkung und Auswirkung, und deswegen gehen wir so und so damit um. Sondern man teilt einfach ein: gute Drogen, böse Drogen. Alkohol zum Beispiel gilt als gut, und jeder, der Alkohol­konsumenten einschränken und besteuern will, ist böse. Umgekehrt ist Cannabis immer böse, und jeder, der einen Joint raucht, ist ein Verbrecher. Unabhängig von der Gefährdung und dem konkreten Verhalten. Verhältnis­mässigkeit wäre das Stichwort.

Verhältnismässigkeit – was verstehen Sie darunter genau?
Verhältnismässigkeit heisst, dass man nicht weiter als nötig in die Freiheit der Menschen eingreift. Nicht weiter, als es nötig ist, um die höheren Interessen zu wahren, den Gesundheits­schutz etwa oder die Sicherheit. Einfach alles zu verbieten, so wie das heute der Fall ist, ist dagegen unverhältnis­mässig. Man sollte nur so weit gehen, wie es wirklich nötig ist. Das ist der Kern der Verhältnis­mässigkeit.

Serie «Let’s Talk About Drugs»

Wie könnte man in der Drogen­politik – analog zur regulierten Heroin-Abgabe zu Beginn der Neunziger­ – Fortschritte erzielen, die der organisierten Kriminalität schaden und Konsumenten sauberen Stoff garantieren? Über solche Fragen sprechen wir mit Fachleuten in der Schweiz und den USA.

Teil 3

Carl Hart, Abhängigkeits­forscher

Teil 4

Thomas Fingerhuth und Stephan Schlegel, Betäubungsmittel­gesetz-Experten

Teil 5

Toni Berthel, Präsident der Eid­ge­nös­si­schen Kommission für Sucht­fragen

Sie lesen: Teil 6

Andrea Caroni, FDP-Ständerat

Schluss

Jessica Jurassica, Bloggerin

Was wäre denn verhältnis­mässig in der Drogen­politik?
Dass man Menschen, die unproblematisch konsumieren, nicht einschränkt. Dass man jede Substanz einzeln beurteilt und sich fragt: Wie sieht der unproblematische Konsum hier aus? Und dass man diesen frei ermöglicht. Wenn Sie am Samstag­abend zu Hause einen Joint rauchen und nicht Auto fahren, dann sehe ich keinen Grund, warum man Ihnen das verbieten sollte. Diesen unproblematischen Konsum gibt es auch bei Kokain. Bei jeder Droge gibt es letztlich den Punkt, bei dem man sagen muss: Bis hierhin ist der Konsum der freie Entscheid eines jeden Menschen. So wie ich gern Schokolade esse. Bei Kokain wissen wir, dass eine grosse Mehrheit unproblematisch konsumiert. Beim Alkohol wissen wir das ebenfalls.

Und wann sprechen Sie von einem problematischen Konsum?
Solche Situationen gibt es durchaus. Beim Auto­fahren zum Beispiel, dort braucht es gezielte Massnahmen, analog einer Promille­grenze. Oder wenn eine Person eine Abhängigkeit entwickelt. Dann sollte man sie behandeln. Generelle Verbote halte ich für falsch. Und zwar von einem liberalen Gesichts­punkt aus. Mit Regulierungen hat man die viel besseren Ansätze. Denn letztlich stellt sich ja auch die Frage: Was kann Repression bewirken? Und welche Neben­wirkungen hat sie? Die meisten Drogen­toten sind keine Drogen­toten, sondern Drogenkriegs­tote.

Was heisst das nun für die Schweiz?
Die Schweiz ist ein langsames Land.

Schön …
Ich hoffe, ich enttäusche Sie nicht allzu sehr.

Was meinen Sie?
Mich interessiert die grund­sätzliche Ebene. Den genauen Prozess, welche Stadt in welchem Pilot­prozess welche Instrumente testen kann, kann ich nicht auf Verordnungs­niveau sagen. Nicht jetzt.

Was tun?
Was in einem langsamen Land hilft, ist der Föderalismus. Ausprobieren und beobachten, was passiert. Weltweit läuft es ja bereits so. Es gibt genügend Staaten und Glied­staaten, die die jetzige Drogen­politik als Irrweg bezeichnen und inzwischen neue Wege gehen. Dieser Weg ist auch für die Schweiz gangbar. Städte, die sagen, dass sie es anders versuchen wollen. Die Schweiz als Drogen­labor. Nicht im Stil von Walter White aus der Fernsehserie «Breaking Bad». Sondern im Stil eines Labors für Drogen­politik.

Okay, und wie sähe das aus?
Dass man sich zu handeln getrauen würde: Wie wäre es denn, wenn wir eine bestimmte Substanz kontrolliert abgäben? Vielleicht können wir die ideologischen Mauern durch reale positive Erfahrungen nieder­reissen. Und wenn wir schon von Experimenten sprechen: Das heutige Experiment, das Verbot, funktioniert ja nicht. Die Leute konsumieren trotzdem. Sie erhalten gestreckten Stoff und bezahlen dafür viel zu viel. Dieses Geld fliesst in die organisierte Kriminalität. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich will nicht, dass mein Kind Drogen nimmt. Aber wenn es Drogen nimmt, dann will ich nicht, dass es diese in einem dunklen Hinter­hof bezieht und niemand weiss, was da drin ist. Sondern dass es sie kontrolliert, am liebsten in der Apotheke bei Tages­licht, kauft. Alle sehen es, und alle wissen, was die Substanz enthält – Beratung inklusive.

Als Ständerat und Staats­rechtler sagen Sie also: Der Föderalismus ist das Mittel, sich zu bewegen?
Ich nehme zur Kenntnis, dass es Städte gibt, die einen Schritt weiter gehen wollen, dies aber nicht können, weil der Bund sie bremst. Hier muss man die Anordnung schaffen, dass dies möglich ist. Man könnte ins Feld führen, dass Menschen sich bewegen, dass eine Stadt dann von Touristen über­schwemmt wird, wenn sie diesen Markt ermöglicht. Doch ich bin überzeugt, dass sich auch das regulieren liesse. Bei einer Regulierung gibt es ja unzählige Schrauben, an denen man drehen kann, bis es stimmt. Letztlich ist es ein weiter Weg vom Verbot bis zur klugen Regulierung: Bis wohin müssen wir die Schraube lockern, damit wir bessere Resultate erzielen als jetzt? Und wie weit können wir die Schraube lockern, bevor die Situation ausser Kontrolle gerät und das Pendel zurück­schwingt? Wenn es auf dem Pausen­platz statt des Apfels Kokain gibt, sind wir zu weit gegangen. Wir müssen uns schritt­weise ans Optimum herantasten.

Farbige Nahaufnahme von Andrea Caroni
«Dieses Denken, diese Politik des Ekels, verhindert eine offene Debatte in der Drogenpolitik.»

Aber wie tun wir das konkret?
Mit einer Revision des Betäubungsmittel­gesetzes, mit «Experimentier­artikeln». Das bedeutet, dass man ins Betäubungsmittel­gesetz schreibt, dass Gemeinde­wesen unter bestimmten Voraussetzungen, unter bestimmten Auflagen und mit den entsprechenden Bewilligungen vom Gesetz abweichen dürfen. Die Städte können sich zum Beispiel bewerben, und nach vier Jahren wird evaluiert. Sie haben also das Gesetz, und dann kommt der Zusatz – zum Beispiel ein Artikel 79 b –, der in Abweichung vom Fortbestehenden Projekte zur Erforschung neuer Wege erlaubt. Und das kann dann beispiels­weise auf zwei Jahre bewilligt werden mit der Option auf eine Verlängerung, wenn dies zielführend sein könnte. Und so weiter.

Ganz praktisch: Wie soll das funktionieren?
Zum Beispiel, indem der Bundesrat einsichtig ist und sagt, wir sollten diese Möglichkeit schaffen. Der Gesundheits­minister holt im Bundesrat den nötigen Beschluss. Es folgt eine Vernehm­lassung, dann geht das Geschäft zurück in den Bundesrat. Kommt es dort gut an, verfasst der Gesundheits­minister, in diesem Fall Alain Berset, eine Botschaft, die anschliessend in die Gesundheits­kommission kommt.

Ein langsames Land …
Ach so, ja klar. Wir reden hier schon von drei, vier Jahren.

Was, wenn Gesundheits­minister Alain Berset keine Notwendigkeit sieht?
Dann machen wir eine Motion oder eine Initiative im Parlament. Aber ich gehe von Bewegung aus. Die interessierten Kreise und die Städte werden vorstellig, das spürt auch der Bundesrat. Oder das Bundesamt für Gesundheit. Letztlich stellt sich die Frage, ob es im Parlament eine politische Mehrheit gibt.

Und? Gibt es die?
Ja, die gibt es. Der Freisinn dürfte dafür sein. Wir waren damals als Delegierte sogar für eine Cannabis-Initiative. Für einen Experimentier­artikel hätten wir beim Freisinn also eine starke Wand. Bei der Linken stelle ich mir breite Unter­stützung vor. Die SVP müsste eigentlich auch dafür sein, aber drogen­politisch sind die völlig verfahren. Wenn jemand Alkohol regulieren will, gehen sie auf die Barrikaden  – freies Saufen für freie Bürger! Aber wenn es die falsche Droge ist  – das Gegenteil. Beim Cannabis etwa. Ich weiss nicht, was da die Überlegung ist. Ist es eine linke Droge? Eine Hippiedroge?

Das erinnert an Ihre ersten Aussagen.
Genau: Es sind historische und kulturelle Zufällig­keiten, warum gewisse Substanzen verboten sind und gewisse nicht. Ich will Drogen nicht moralisch einordnen. Es sind Stoffe, welche die Leute konsumieren und von welchen sie die Auswirkungen haben. Moral hat da nichts zu suchen. Als ich frisch ins Parlament kam, kümmerte ich mich um die Prostitution. Diese Verträge seien gemäss Gesetz unmoralisch, hiess es. In der Praxis bedeutete das, dass eine Prostituierte nicht klagen konnte, wenn sie ihr Geld nicht bekam. Ihr Vertrag galt nicht. Da gehen zwei Menschen miteinander einen Vertrag ein, und das Gericht sagt, der Vertrag sei schmuddlig, er gelte nicht, weil er unsittlich sei. Ähnlich ist es bei den Drogen. Mit Objektivität hat das nichts zu tun.

Man könnte entgegnen, dass gewisse Prostituierte den Vertrag nicht freiwillig eingehen.
Von diesen Fällen spreche ich nicht, dafür gibt es ja Regeln im Vertrags­recht. Dazu, was es bedeutet, wenn etwa Zwang im Spiel ist. Nein, ich rede von nachgewiesen freiwillig eingegangenen Verträgen. Es gibt den rationalen Blick auf die Welt, der davon ausgeht, dass das Individuum frei ist und dass eine Einschränkung eine sachliche Begründung erfordert. Aber dann gibt es die Politik der Gesinnung, wo mit Werten argumentiert wird, wo man sagt, dass uns gewisse Dinge eigen sind und andere Dinge fremd. Dass zum Beispiel Alkohol zu unserer Kultur gehört, nicht aber Cannabis. Ekel ist dabei ein zentrales Kriterium. Oder nehmen Sie das Beispiel Religion: Christen sind okay; auch wenn die mal überborden, gehören sie grundsätzlich zu uns. Im Gegensatz zum Islam. Dieses Denken, diese Politik des Ekels, verhindert eine offene Debatte in der Drogen­politik.

Selbst beim Cannabis, wo man manchmal das Gefühl hat, dass praktisch jeder kifft …
Ich kiffe nicht.

Sie kiffen nicht?
Nein.

Warum interessiert Sie dann das Thema Drogen­politik so sehr?
Mich interessieren viele Themen. Ich laufe mit einem liberalen Nachtsicht­gerät durch dieses Land. Immer wieder begegne ich dabei einer Einschränkung, die ich nicht nachvollziehen kann. Deswegen bin ich gegen ein Burka­verbot, gegen ein Verbot von Prostitution, aber auch gegen ein Verbot von Kokain. Es geht nicht darum, dass ich eine Burka tragen, mich prostituieren oder koksen will. Sondern darum, dass man hier Menschen auf eine Art in ihr Leben hinein­redet, die ich aus liberaler Sicht nicht nachvollziehen kann und die auch nicht überzeugend begründet ist. Die Argumente gründen im Gegenteil auf Gefühls­lagen, auf Vorurteilen, historischen Zufälligkeiten, mehr­heitlicher Macht. So ist es auch bei der Drogen­politik. Es geht um Ideologie.

Worauf wir vorhin hinauswollten: Selbst beim Cannabis kommt der Veränderungs­prozess wahnsinnig schleppend voran. Ist das nicht deprimierend angesichts des Umstands, dass es für die aktuelle Verbots­politik keine medizinisch stichhaltigen Argumente gibt?
Beim Cannabis sind wir immerhin im Bereich der Ordnungs­bussen angekommen. Aber das Abschleifen braucht Zeit.

Das Abschleifen?
In hundert Jahren wird Cannabis in diesem Land kein Fremd­körper mehr sein. Man wird es kulturell einbinden, so wie man Alkohol und Tabak eingebunden hat, die einst ebenfalls Fremd­körper waren. Vielleicht gilt in den Augen der SVP in zweihundert Jahren nicht mehr als richtiger Schweizer, wer nicht kifft. Das sind Prozesse. Man hat vor hundert Jahren auch anders über Tabak und Alkohol gesprochen in diesem Land. Rauchen galt mal als revolutionär. Dann galt es als bourgeois. Substanzen sind immer kulturell aufgeladen. Ich mache gern einen Schritt zurück und sage: Meine Kultur ist, dass man die Leute machen lassen soll, solange man keinen guten Grund hat einzugreifen.

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Carl Hart, Abhängigkeits­forscher

Teil 4

Thomas Fingerhuth und Stephan Schlegel, Betäubungsmittel­gesetz-Experten

Teil 5

Toni Berthel, Präsident der Eid­ge­nös­si­schen Kommission für Sucht­fragen

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