Am Gericht

7710-mal nur zum Kotzen

Ein bisher unbescholtener Schweizer wird fünf Minuten lang zu unvorstellbaren Abscheulichkeiten befragt und danach zu einer bedingten Geldstrafe verurteilt – abgekürztes Verfahren nennt man eine solche Prozessfarce. Es geht um Tausende von Filmen und Bildern mit Kinderpornografie und sexueller Gewalt.

Von Brigitte Hürlimann, 09.01.2019

Ort: Winterthur
Zeit: 17. Dezember 2018, 14 Uhr
Fall-Nr.: GG180073
Thema: Gewaltdarstellungen und mehrfache Pornografie

Warum hat er das getan? Jahrelang? Obwohl er verheiratet ist, mit der Frau und der Stieftochter zusammenlebt? Ein – mutmasslich – ansonsten unauffälliges Leben führt, eine Arbeitsstelle hat und nicht vorbestraft ist?

Warum hat er 7710-mal menschenverachtende Abscheulichkeiten heruntergeladen, angeschaut, offensichtlich Gefallen daran gefunden und manches davon mit anderen «Interessierten» geteilt?

Warum? Warum? Warum?

Wer denkt, dass solche Fragen an einem öffentlichen Strafprozess geklärt oder wenigstens angesprochen werden, der irrt sich gewaltig. Nicht wenn es sich um ein sogenanntes abgekürztes Verfahren handelt, also um einen Deal zwischen der Staatsanwaltschaft und dem Beschuldigten, der hinter verschlossener Tür ausgehandelt wird. Der Deal muss zwar noch von einem Gericht gutgeheissen beziehungsweise zum Urteil erhoben werden, und dazu findet eben ein öffentlicher Prozess statt. Dieser mutiert aber häufig zur reinen Farce. Nämlich dann, wenn sich das Gericht so ganz und gar nicht dafür interessiert, wer vor Schranken steht. Wer also der Mensch ist, über den man zu richten hat. Sondern nur überprüft, ob das Geständnis im Gerichtssaal bestätigt wird. Und ob es mit den Akten übereinstimmt. Damit ist dem Buchstaben des Gesetzes Genüge getan, der Prozess nach wenigen Minuten effizient beendet, die Leute auf den Zuschauerbänken schauen dumm drein und verstehen nur noch Bahnhof. Das soll ein Prozess sein? Wirklich?

Dem Schweizer, der offenbar grosse Freude an Kinderpornografie und sexualisierter Gewaltdarstellung hat, ist dieses Prozedere nur recht. Er ist bestimmt nicht scharf auf bohrende Fragen, und Einzelrichterin Anna Schneeberger verzichtet auch weitgehend darauf. Aber warum bloss? Es steht nirgends im Gesetz, dass man nicht ausführlicher fragen dürfte. Wenn man wollte.

Die einzige Frage der Richterin, die ein klein bisschen unangenehm ist, lautet: «Haben Sie sich Gedanken gemacht, warum harte Pornografie verboten ist?»

Die Antwort darauf fällt denkbar kurz, dumm und billig aus. Der 46-jährige Mann nuschelt etwas von «ist sicher nicht schön», «eine schlimme Sache, vor allem für die Kinder», und spricht von einer Neugier, die «einen übermannt». 7710-mal hat ihn also die Neugier «übermannt», mehrere Jahre lang. 1092-mal waren es kinderpornografische Filme, 4666-mal Fotos mit Kinderpornografie, beides meist mit Kleinkindern oder mit Kindern, die bis zu zehn Jahre alt sind. So steht es im Urteilsvorschlag. 247-mal hat ihn die Neugier für Filme mit sexueller Gewalt übermannt, 789-mal für derartige Fotografien. 423-mal waren es Pornofilme mit Tieren, 492-mal derartige Fotografien. Einmal zeigt ein Film einen Suizid.

Ist es nicht die Pflicht einer jeden Richterin, dem Beschuldigten zu sagen, das sei kompletter Blödsinn, den er verzapfe, auch wenn es im abgekürzten Verfahren keine Beweiserhebung vor Schranken gibt? Und warum geht das Bezirksgericht Winterthur eigentlich davon aus, der Mann werde künftig auf harte Pornografie verzichten, nachdem er jahrelang nicht die Finger davon lassen konnte? Von einer allfälligen Rückfallgefahr, einer Massnahme oder von Weisungen ist in diesem sehr kurzen Prozess keine Rede. Der Mann sagt, es tue ihm leid, was er gemacht habe, er bereue es sehr und entschuldige sich dafür. Und seine Verteidigerin, Sarah Neuenschwander, wirft noch ein, es drohe eine hohe Strafe, und das Verfahren sei eine massive Belastung für ihren Mandanten gewesen. In Untersuchungshaft war er nicht, es gab aber eine Hausdurchsuchung am Deliktsort – im Mehrfamilienhaus im Kanton Zürich, in dem der Mann mit Frau und Stieftochter wohnt.

Der Deal, der vom Gericht nach einer kurzen, geheimen Beratung zum Urteil erhoben wird, lautet: Der Beschuldigte wird wegen Gewaltdarstellungen und mehrfacher Pornografie zu einer bedingten Geldstrafe von 300 Tagessätzen à 100 Franken verurteilt, bei einer Probezeit von zwei Jahren. Zusätzlich wird eine Busse von 1000 Franken verhängt (die er zu bezahlen hat), und der Mann muss die Verfahrenskosten von 5240 Franken übernehmen. «Wir erachten diese Strafe als angemessen», sagt die Richterin.

Staatsanwältin Sabine Schwarzwälder hat am Prozess nicht teilgenommen, weil sie gemäss Strafprozessordnung nicht teilnehmen muss. Auf Anfrage berichtet sie, der Pornokonsument sei von der Kobik ertappt worden, also von der Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität, die im Bundesamt für Polizei (Fedpol) angesiedelt ist. Es handle sich bestimmt nicht mehr um einen leichten Fall, so die Staatsanwältin. Wer auch immer das sichergestellte Material begutachten musste, ist auf jeden Fall nicht zu beneiden. 7710-mal nur zum Kotzen.

Illustration: Friederike Hantel