Geburtstagsparty auf dem Friedhof
Von Oscar Alba, 08.01.2019
Kuba am Neujahrstag 1959. Die Sonne geht auf, der Piratensender Radio Rebelde weckt die Insel mit der Eilmeldung:
Die Revolution hat gesiegt!
In Kuba beginnt eine neue Epoche. Die der Castros. Seither werden offizielle Festakte traditionell frühmorgens und auf grossen plazas de la revolución oder in schönen Parks begangen. Denn egal was es zu feiern, verkünden oder zu erinnern gibt, die Botschaft ans Volk ist: Im Sozialismus geht stets die Sonne auf.
Kuba am Neujahrstag 2019. Die Sonne hat ihr Tagwerk hinter sich, nähert sich dem Horizont. Der 87-jährige General und Chef der Kommunistischen Partei, Raúl Castro, steht eingefallen am Rednerpult, braune Militäruniform und Schirmmütze mit vier goldenen Sternen drauf. Um ihn herum Mausoleen, tonnenweise weisser Marmor, Urnenwände, Grabsteine.
Raúls mit Altersflecken übersäte linke Hand ballt sich zu einer Faust, geht langsam und leicht zitternd zum Mund. Der im letzten Frühling pensionierte Staatspräsident, aber immer noch mächtigste Mann im Land hüstelt und räuspert sich, nuschelt, wuselt in den Papieren. Die Nation schaut ihm am Fernseher gebannt zu.
Castro II, der nie einen Hehl daraus gemacht hat, dass er öffentliche Auftritte nicht mag, muss eine Rede halten zum sechzigsten Geburtstag der Revolution. Die offizielle Feier findet auf einem campo santo statt, auf dem Friedhof Santa Ifigenia in Santiago de Cuba. Noch mehr Santo, Heiligkeit und Tod geht fast nicht mehr.
Die Totenglocken und die Militärmusik sind verstummt. Herangekarrte Kanonen aus der Kolonialzeit haben mit ihren Salven den Totenfrieden weggeballert. Raúl hat sich bei den Donnerschüssen die flache Hand schräg ans Ohr gehalten, unklar, ob er salutierte oder sein Gehör schützen wollte. Die Uniformierten, die im Stechschritt zu den Grabstätten von Raúls grossem Bruder Fidel und anderen toten Helden marschiert sind und Blumenkränze niedergelegt haben, stehen jetzt stocksteif still. Vor Raúl sitzen die handverlesenen Gäste auf weissen Plastikstühlen. In der ersten Reihe die letzten lebenden Legenden und Kampfgenossen von Fidel, Raúl und Che, graue Greise, weit über achtzig. Neben und hinter ihnen die Generäle mit weniger als vier Sternen auf den Schultern, Militär- und Parteikader, Minister, Vertreter der Massenorganisationen, Ärzte in weissen Kitteln und andere vorbildliche Repräsentantinnen des Systems Castro.
Bevor Raúl spricht, meldet sich Fidel, der vor zwei Jahren gestorben ist. Wie ein Geist aus dem Jenseits ertönt seine laute, kämpferische Stimme aus unsichtbaren Lautsprechern. Ausschnitte aus seiner Rede vor sechzig Jahren. Die Festgesellschaft auf dem Friedhof sitzt mit ehrfürchtiger Miene da, als würde sie in der Kirche dem Wort Gottes lauschen.
Fidel verstummt. Die Sonne geht unter. Die Königspalmen ragen majestätisch in den dunkelrot gefärbten Himmel.
Nun ist Raúl an der Reihe. Er spricht mit rauer Stimme. Manchmal kratzt und knistert sie so sehr, dass man ihn kaum noch versteht. Und manchmal überspringen seine müden Augen eine Zeile im Manuskript, dann stockt er irritiert, muss nochmals neu ansetzen, damit der Satz doch noch Sinn ergibt. Bei einem kurzen Zwischenapplaus bückt er sich ungelenk nach unten, holt ein Glas Wasser hervor, das man ihm unter dem Rednerpult bereitgestellt hat. Er nimmt zwei, drei Schluck. Es ist wind- und totenstill.
Raúl fährt fort. Sagt Sätze wie: «Sechzig Jahre sind seit dem Triumph vergangen, doch die Revolution ist nicht gealtert, sondern so jung wie eh und je.»
Bildschnitt. Eine Kamera der gleichgeschalteten, staatlichen Fernsehkanäle, die den Epilog am Abend der Revolution live ausstrahlen, zeigt Raúls Nachfolger, den Staatspräsidenten Miguel Díaz-Canel, 58, silbergraues Haar, wuchtiger Körper, dicker Bauch, das Gesicht aufgedunsen, die Augen halb geschlossen.
Am Folgetag hört man in den Strassen von Havanna: «Hast du gestern Canelito gesehen?» So wird der Präsident liebevoll oder abschätzig im Volksmund genannt. «Schlief er? Ist er krank?» Die Kamera zeigte ihn nach dieser kurzen Einblende nicht mehr in Nahaufnahme.
Raúls Rede ist wie alle anderen, die er in den letzten Jahren gehalten hat. Ein historischer Rückblick auf die kubanische Geschichte eines alten Mannes, der nur noch von der Vergangenheit lebt. Spricht er von der Zukunft, wird es düster wie der Himmel über dem Friedhof. Das Imperium im Norden, die USA, die allgemeine Weltlage, der Kapitalismus seien bedrohlicher denn je. Der gekrümmte Heeresführer ruft sein Volk mit brüchiger Stimme auf, «sich auf alle möglichen Szenarien vorzubereiten, auch auf die schlimmsten».
Schnitt. Das Fernsehbild zeigt in der Totalen den Friedhof im Dunkeln. Am Nachthimmel haben sich schwere schwarze Wolken aufgetürmt. Nur die Gästeschar und Raúl am Rednerpult sind in gleissendem weissem Scheinwerferlicht voll ausgeleuchtet.
Wenn es jetzt nur nicht auch noch zu regnen beginnt.
Doch Castro schafft es, seine Rede, sich und seine Getreuen ins Trockene zu bringen. Wie immer in den vergangenen sechzig Jahren.