Juhui, ich bin kein Zürcher!
Es sollte ein Lausbubenstreich sein und der Versuch, das Heimweh nach der Innerschweiz abzumildern. Als Tatmittel wird ein Luzerner Wappen benutzt und aufgeklebt – am Autokontrollschild. Die Strafverfolger finden das nicht lustig.
Von Brigitte Hürlimann, 02.01.2019
Ort: Winterthur
Zeit: 21. November 2018
Fall-Nr.: B-2/2018/10025006
Thema: Missbrauch von Ausweisen und Schildern
Das ist die Geschichte eines Mannes, der partout kein Zürcher sein will. Der erst mit seinem Wegzug in Richtung Norden den Patriotismus entdeckt hat – eine flammende, späte und dafür umso heftigere, aber auch zwiespältige Liebe zur Innerschweiz, in der er geboren und aufgewachsen ist, die er allerdings als Korrespondent einer Schweizer Tageszeitung nicht hart genug kritisieren konnte. Jahrelang. Doch dann kommt der Tag der Wahrheit: mit der Niederlassung im verhassten Kanton Zürich.
Der Mann ist heute 48 Jahre alt, Vater eines Sohns im Primarschulalter, und wenn er auf die Affäre zurückblickt, die mit einer Verurteilung per Strafbefehl geendet hat, konstatiert er vor allem eines: «Ich bin der naivste Luzerner, der im Kanton Zürich lebt.» Nie, aber absolut nie mehr im Leben wird er sich nochmals zu einem solchen Lausbubenstreich hinreissen lassen. Der Jux beschert ihm einen Eintrag im Strafregister, eine bedingte Geldstrafe (10 Tagessätze à 80 Franken), eine Busse von 300 Franken sowie Verfahrens- und Anwaltskosten, die in die Tausende gehen. Wahrlich ein teurer Spass.
Die Geschichte beginnt im Mai 2018. Der Journalist lebt bereits seit eineinhalb Jahren im Kanton Zürich und besucht eines schönen Tages die Eltern in der Zentralschweiz; mit dem Auto, selbstverständlich. Der Mann ist stolzer Besitzer von zwei alten, geräumigen Volvo 240; Schwedenpanzer, wie man sie gemeinhin nennt. Um die Oldtimer zu schonen, fährt er jeweils ein paar Monate lang mit dem einen Wagen, dann wieder mit dem anderen und hat sich dafür eine Wechselnummer ausstellen lassen. Auf dieser prangt seit eineinhalb Jahren ein Zürcher Wappen – ein Stachel im Fleisch des Neuzürchers. Er schämt sich in Grund und Boden. Und es kommt ihm ein Slogan in den Sinn, der in den 1980er-Jahren die Runde gemacht hat und seither immer mal wieder aufpoppt, in unterschiedlichen Varianten. Die Kernbotschaft lautet: Juhui, ich bin kein Zürcher!
Er aber, er ist ein Zürcher geworden. Und das Nummernschild outet ihn.
Auf dem Heimweg von den Eltern macht er in einem Einkaufszentrum halt, stöbert durch die Autoabteilung und findet Kleber mit den Kantonswappen drauf. Sie sind exakt so gross wie die Wappen auf den Nummernschildern, sogar leicht gewölbt, ein dem Original verblüffend ähnliches Replikat. Der Mann kauft ein Set für acht Franken, mit einem Luzerner und einem Schweizer Wappen drin. Er überklebt auf der Wechselnummer das Zürcher Wappen mit dem luzernischen und freut sich diebisch über seinen Einfall.
Was ihm erst jetzt bewusst wird: Die beiden Wappen sind sich verblüffend ähnlich. Beide weisen auf der gleichen Seite eine blaue und auf der anderen Seite eine weisse Fläche auf. Der einzige Unterschied zwischen den beiden Kantonen liegt darin, dass Luzern die Farbflächen mit einem senkrechten Strich trennt – und Zürich mit einem schrägen Strich, der von oben nach unten oder von unten nach oben verläuft, je nach Sichtweise. Wichtiges Detail: Der Heimweh-Luzerner hat den Sticker in Winterthur aufgeklebt. Damit begründet er die Zuständigkeit der Zürcher Staatsanwaltschaft. Andernfalls wäre der Fall den Luzerner Strafverfolgern übergeben worden. Auch dazu muss er später in zwei Einvernahmen exakt Auskunft geben.
Noch aber geniesst der Journalist seine wiedergewonnene Lozärner Identität, obwohl ihm rasch auffällt, dass niemand das veränderte Wappen wahrnimmt; er muss die Kollegen darauf aufmerksam machen, patrouillierende Polizisten merken es nicht, und er fährt mit der abgeänderten Wechselnummer sogar zur Fahrzeugkontrolle, um einen der Schwedenpanzer vorzuführen. Der Kontrolleur habe alles ganz genau angeschaut, erzählt der Mann, am Nummernschild aber sei ihm nichts aufgefallen. Der Sohn ist mit dabei, die beiden fahren zurück nach Hause, und das grosse Schlitzohr sagt zum kleinen Begleiter: «Siehst du, dein Papa ist ein Siebesiech, niemand hat es bemerkt. Give me five!»
Das Schicksal wendet sich Anfang Juni.
Der Siebesiech montiert wieder einmal die Wechselnummer um und fährt für einen Einkauf ins benachbarte Deutschland. In Stühlingen verstaut er die gefüllten Einkaufstaschen im Kofferraum, da fällt ihm auf, dass das Nummernschild fehlt – abgefallen, wegen einer kaputten Halterung. Hektische Suche auf dem Parkplatz. Nichts. Langsames Zurückfahren auf der gleichen Strecke, Ausschau halten nach einem Nummernschild mit überklebtem Wappen. Nichts. Der Journalist meldet den Verlust umgehend bei den Schweizer Behörden. Und zwei Wochen später ruft prompt die Kantonspolizei Zürich aus Andelfingen an. Das Schild sei ihnen zugestellt worden. Er möge doch bitte vorbeikommen. Es gäbe ein Problem.
Das Problem heisst in der Juristensprache «Missbrauch von Ausweisen und Schildern», das ist ein Tatbestand des Strassenverkehrsgesetzes und damit ein Delikt, das bestraft wird. Erstmals in seinem Leben gerät der bisher unbescholtene 48-Jährige in die Mühlen der Strafjustiz. Bei der polizeilichen Einvernahme in Andelfingen gibt er alles zu. Zum Motiv befragt, spricht er von «irregeleitetem Lokalpatriotismus». Die Polizisten verkneifen sich ein Schmunzeln. Sie reden von einer Bagatelle, die vermutlich eine Busse zur Folge habe, nicht höher als 200 Franken. Doch so glimpflich kommt er nicht davon. Die Staatsanwaltschaft Winterthur/Unterland nimmt Ermittlungen auf. Und es folgt eine zweite Einvernahme.
Langsam, aber sicher wird dem Mann die Sache ungeheuer. Er nimmt sich einen Anwalt, wälzt sich nachts sorgengeplagt und schlaflos im Bett. Die Folgen seines Übermuts werden ihm allmählich bewusst. Eine Bestrafung droht, Kosten – und das Schlimmste von allem: ein Eintrag im Strafregister. Der Journalist hadert mit seiner Ehrlichkeit. Hätte er abgestritten, das Luzerner Wappen selbst aufgeklebt zu haben, hätte er behauptet, das sei wohl ein Scherz irgendeines Bekannten gewesen, keine Ahnung, wer, dann wäre er womöglich ungeschoren davongekommen. Und überhaupt, warum verfolgt die Zürcher Staatsanwaltschaft eine solche Bagatelle? Hätte sie das Verfahren nicht einstellen können, so, wie es die Innerschweizer Kollegen mit dem Zuger Regierungsrat Beat Villiger getan haben, dem Schlimmeres vorgeworfen wird als das Aufkleben eines Wappens?
Nach der zweiten Einvernahme hört der Journalist monatelang nichts mehr. Dann flattert der Strafbefehl ins Haus. Nach Beratungen mit seinem Anwalt entscheidet sich der geständige Wappenüberkleber, Schuldspruch und Strafe zu akzeptieren, den Fall nicht vor ein Gericht zu ziehen: aus Angst vor den Umtrieben und vor zusätzlichen Kosten.
Der Zürcher Rechtsanwalt Marc Engler hätte die Angelegenheit eigentlich gerne gerichtlich überprüfen lassen. Für ihn ist ein Schuldspruch beziehungsweise eine Bestrafung aus zwei Gründen nicht zwingend:
Erstens erfülle sein Mandant den einschlägigen Tatbestand nicht: Artikel 97 Absatz 1 Litera e und f des Strassenverkehrsgesetzes. Ratio legis dieser Norm bestehe darin, so Engler, dass das Auffinden des Fahrzeughalters erschwert werde, indem beispielsweise Zahlen geändert oder abgedeckt würden. Beim blossen Überkleben des Wappens sei dies nicht der Fall, die Funktion des Kontrollschilds sei nicht beeinträchtigt worden: «Das hat sich im konkreten Fall deutlich gezeigt, der Fahrzeughalter wurde ja sofort gefunden.»
Zweitens hätte die Staatsanwaltschaft Artikel 52 des Strafgesetzbuches anwenden können. Dieser regelt die Strafbefreiung und Einstellung des Verfahrens: «Die zuständige Behörde sieht von einer Strafverfolgung, einer Überweisung an das Gericht oder einer Bestrafung ab, wenn Schuld und Tatfolgen geringfügig sind.»
«Beides sind spannende strafrechtliche Fragen, für deren Beantwortung sich ein Gang vor Gericht gelohnt hätte. Aber eben: Man muss es sich leisten können, auch für den Fall, dass man vor Gericht verliert», sagt Marc Engler. Der Eintrag im Strafregister werde im Übrigen zwei Jahre nach Ausstellung des Strafbefehls wieder gelöscht.
Fazit für den geläuterten Ersttäter, fortan vorbestraften Lokalpatrioten und Siebesiech: Ausser Spesen nix gewesen. Und: Nie vor den eigenen Kindern mit einem juristisch heiklen Lausbubenstreich prahlen.
Illustration: Friederike Hantel