Binswanger

Visionen, bitte!

Alles beschleunigt sich – und alles bleibt gleich. Kein gutes Zeichen.

Von Daniel Binswanger, 29.12.2018

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Zu den kryptischen Formeln, mit denen Walter Benjamin eine ganze Generation von Intellektuellen in seinen Bann geschlagen hat, gehört der Satz: «Bild ist die Dialektik im Stillstand.» Das Bild ist nach Benjamin das «blitzhafte» Aufscheinen einer neuen Konstellation, eines Bruchs im geschichtlichen Kontinuum, einer Verdichtung von gesellschaftlichen und politischen Fakten, die plötzlich eine veränderte historische Situation anzeigt. Diese dialektische Verdichtung hat selbstredend damit zu tun, dass die Entwicklung sich dem Ausnahme­zustand nähert, dass die Spannung zwischen «Gegensätzen» sich steigert, eskaliert, aus dem Ruder läuft.

Genauso ist sie aber auch der Tatsache geschuldet – und hier liegt die Originalität von Benjamins Theorie –, dass «das Denken zum Stillstand kommt». Auf dem Höhepunkt der Spannung geschieht erst einmal … gar nichts. Der Prozess wird zum festgefrorenen Bild, zum Klischee, zur scheinbaren Endlos­schlaufe – bis plötzlich der Umbruch sich vollzogen hat.

Ein Rückblick auf das Jahr 2018 bietet ein tief verstörendes Exempel von Dialektik im Stillstand. Zum einen wäre man fast versucht zu sagen: 2018 ist rein gar nichts geschehen. 2018 war der Stillstand total.

Schliesslich waren alle grossen, die Welt in Atem haltenden Themen in keiner Weise neu: nicht der Populismus, nicht das Pathologisch-Werden der amerikanischen Innen- und Aussenpolitik, nicht der Vormarsch der europäischen Alt-Right, nicht der Brexit, nicht die Krise der inner­europäischen Ungleichgewichte, nicht das drohende Klima­desaster, nicht die im Mittelmeer ertrinkenden Migranten. So sehr haben alle diese Phänomene bereits das Jahr 2017 geprägt, dass man sich einen makabren Jux daraus machen kann, Neujahrs­kommentare vom letzten Jahr hervorzuholen. Die guten haben keine Silbe ihrer Gültigkeit verloren.

Nehmen wir zum Beispiel, was Martin Wolf, der Chief Economic Commentator der «Financial Times», im letzten Januar schrieb: «All diejenigen, die an eine glückliche Symbiose von Demokratie, einer liberalen Wirtschafts­ordnung und globaler, multilateraler Kooperation glauben, sollten das alles [Wolf sprach von den Anfang Jahr aktuellen weltpolitischen Entwicklungen] mehr als nur ein bisschen furchteinflössend finden.» Wo liegt nach Wolf der Grund dafür, dass die liberale Globalisierungs­utopie so stark in die Defensive geraten ist? «Die internationale, liberale Weltordnung ist am Zusammen­brechen, weil sie die Bedürfnisse der Bürger unserer Gesellschaften nicht mehr befriedigt.»

Was kann man ein Jahr später anderes tun, als solche Sätze bestätigend zu wiederholen?

Zugleich findet eine atemberaubende Beschleunigung all dieser Entwicklungen statt. Donald Trump hat schon in den ersten Monaten seiner Präsidentschaft klargemacht, dass er von Multi­lateralismus nichts hält und seine «America first»-Politik wörtlich nimmt. Aber die Aufkündigung des Iran-Deals, welche die USA und Europa nun in gegnerische Lager fallen lässt, die Verlegung der amerikanischen Botschaft nach Jerusalem, die Ausfälligkeiten am Nato-Gipfel, der «Wirtschaftskrieg» gegen China, der Abzug der Truppen aus Syrien? Die Selbstüberbietung reisst nicht ab. Kein Stein bleibt auf dem anderen.

Dass viele der Initiativen aus dem Weissen Haus amateurhaft und improvisiert wirken, ändert nichts an der Tatsache, dass sich die Aushöhlung der multilateralen Weltordnung in rasendem Tempo vollzieht.

In gespenstischem Gleich­schritt verläuft die europäische Entwicklung. Das europäische Jahr 2018 hat zögerlich und konfus begonnen, in den Berliner Hinter­zimmern, in denen die Koalitions­verhandlungen immer noch nicht abgeschlossen waren, mit dem immer unbehaglicheren Warten auf eine deutsche Regierungs­bildung, die Europa endlich wieder handlungsfähig hätte machen sollen; die Schwierigkeit dieses Unterfangens wurde zum fatalen Symbol der allgemeinen Paralyse. Beendet wurde das europäische Jahr auf den Champs-Élysées durch die gewalttätigsten Proteste seit fünfzig Jahren, mit Blendgranaten, Schwer­verletzten, gelben Westen.

Es ist offensichtlich, dass die sich endlos dahinschleppende politische Krise der Bundes­republik und die explosionsartigen französischen Strassen­schlachten letztlich Ausdruck derselben Blockade sind – einer Blockade, welche die gesamte EU betrifft. Auch sie begleitet uns schon lange, spätestens seit dem Brexit, der nun seit zwei Jahren seinen albtraum­artigen Lauf nimmt wie ein Frontal­crash in Zeitlupe. Alles beschleunigt sich – alles steht still.

Und was wird jetzt geschehen? Was sollte jetzt geschehen? Martin Wolfs Diagnose vom vergangenen Januar ist zweifelsohne gültig. Entweder es werden Formen der Globalisierung, der supra­nationalen Kooperation und der liberalen Wirtschafts­ordnung gefunden, die soliden Mehrheiten der Bevölkerung ein attraktives Angebot machen – oder der Rückbau der Globalisierung wird unvermeidlich werden. Das liegt im Wesen der Demokratie.

Insbesondere für die EU bedeutet dies: Sie wird aus ihrer Legitimitäts­krise nicht herauskommen, wenn sie nicht eine viel grundsätzlichere Ambition entwickelt. Bisher dürfte in Berlin und Brüssel die Hoffnung gehegt worden sein, eine graduelle wirtschaftliche Erholung, eine etwas günstigere Konjunktur, ein Abflauen der Flüchtlings­krise würden es erlauben, mit den alten Kompromissen und den alten Konzepten weiterzuwursteln. Macrons Reformpläne hatten nie eine ernsthafte Chance und sind heute bloss aus diplomatischem Takt noch nicht definitiv beerdigt worden.

Aber es wären Reformen vonnöten, die weit über Macrons Vorschläge hinausgingen. Die Eurozone braucht eine gemeinsame Wirtschafts­politik. Wenn ihr ökonomischer Sinn auf Steuer- und Tieflohn­konkurrenz beschränkt bleibt, wird der Euro nicht zu retten sein. Wer glaubt heute noch eine Sekunde, dass die AfD und das Rassemblement National (ehemals: Front National) einfach so wieder verschwinden werden? Angesichts der sich überstürzenden Entwicklungen erscheint diese Hoffnung absurd. Dennoch herrscht Stillstand. Weitgehender geistiger Stillstand.

Mehr denn je sind jedoch die heutigen liberalen Rechts­staaten auf inklusive Visionen angewiesen. In Europa, in den USA, in den Schwellen­ländern. Sie brauchen neue Bilder – von gesamt­gesellschaftlicher Solidarität, von geteilter Wohlfahrt, von Fairness und Gerechtigkeit. Mit blossem Stillhalten werden die autoritären Demagogen nicht zu stoppen sein.

Endlos wird man diesen Jahres­rückblick nicht schreiben können.

Illustration: Alex Solman

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