Das Christkind gibt es nicht
Ausnahme vom Alltag: Ist es das, was die Weihnachtszeit verschönert? Ihren Ablauf bestimmen – oder bestimmten – besondere Regeln und Rituale. Erinnerungen an eine Kindheit in den 1960er-Jahren.
Von Barbara Villiger Heilig, 24.12.2018
Mit dem Christkind räumte meine Schwester durch kritisches Nachfragen auf, kaum konnte sie sprechen: Es sollte den Weihnachtsbaum durchs Fenster gebracht haben? Dazu sei der Baum doch viel zu gross! Vor so viel Vernunft kapitulierten die Eltern lachend, wie sie gern erzählten. Weitere Anstrengungen unternahmen sie nicht. Kein Wunderglaube bei uns daheim.
Ich bedauerte zwar manchmal, nicht an dieses Wesen glauben zu können, das alle andern Kinder zu verzaubern schien. Doch auch ohne Christkind war die Weihnachtszeit herrlich. Die schönste Zeit im Jahr, voller geheimnisvoller Regeln und Rituale, Düfte und Lichter. Voller wiederkehrender Gebräuche.
Sicher: Der Rückblick auf die eigene Kindheit tendiert zur Verklärung. Was hinter einem liegt, verwandelt sich in eine heile Welt. Dass der familiäre Dezember aber tatsächlich friedlicher verlief als das Restjahr, hat gute Gründe. Sie liegen in der Praxis: Jede und jeder in unserer Familie erledigte spezifische Aufgaben. Alle waren beschäftigt, ohne überfordert zu sein. Das schaffte Zufriedenheit. Ausserdem waren die Aufgaben vergnüglich.
Der Adventskalender
Am ersten Advent begann es. Auf dem Frühstückstisch stand ein Hefekranz parat, den die Mama – wie den Adventskranz, dessen erste Kerze brannte – im Beisein der Kinder fabriziert hatte. Eins der Adventslieder, die wir sangen, fing an mit der Zeile «Nun komm, der Heiden Heiland». Über die politische Korrektheit des Textes zerbrach sich niemand den Kopf, am wenigsten meine zwei Schwestern und ich. Wer sollte ihn überhaupt verstehen:
Nun komm, der Heiden Heiland, / der Jungfrauen Kind erkannt, / dass sich wunder alle Welt, Gott solch Geburt ihm bestellt.
Heute frage ich mich natürlich, warum Christkind und Samichlaus enttarnt, biblische Geschichten hingegen hingenommen wurden (zu ihrem Bereich gehörten auch solche Lieder). Vielleicht, weil sie Märchen ähnelten? An Diskussionen darüber, auch später, kann ich mich nicht erinnern. Es ging wohl gar nicht um Religion. Die weltlichen Dinge standen im Vordergrund.
Zum Beispiel der Adventskalender. Ein langes Band aus grünem Filz mit aufgeklebten Baumnussschalen und einer Überraschung im Miniformat für jeden Tag: Gummitierchen, die wir sammelten, eine Fünfzigrappenmünze fürs Sparschwein, irgendwelche Kinkerlitzchen. Bescheidene Freuden, stelle ich aus heutiger Sicht fest, doch in den 1960er-Jahren hielt sich die Konsumwut in engen Grenzen. Nicht nur in meinem Elternhaus.
Und von nun an lief der Countdown: Vorbereitungen für das Weihnachtsfest.
Glühwein und Bratäpfel
Welche Geschenke gebastelt wurden, bestimmte die Mutter. Wir beschenkten Onkel und Tanten, den Götti und die Gotte, Familienfreunde. Einzig eine heiss geliebte Grosstante, gewissermassen der Ersatz für die bereits verstorbenen Grosseltern, bekam jedes Jahr ihren Kalender, den wir zu dritt vollmalten: für jeden Monat ein Bild. Das war ziemlich aufwendig.
Alle andern erhielten das Jahresgeschenk. Einmal Serviettenringe, aus Bast gewoben. Einmal Tischsets, für die wir den Webstuhl einer Nachbarin benutzen durften. Einmal Lebkuchen in allen Formen: Zog man sie aus dem Backofen, musste man sie mit Gummi arabicum bepinseln und mit Zuckerzeug verzieren. Einmal Geschenkpapier, wozu grosse Bögen farbig grundiert und mit Kartoffelstempeln bedruckt wurden. (Das Resultat war apart, aber ich fragte mich besorgt, ob es wirklich ein Geschenk sei.)
Unter mütterlicher Anleitung bastelten wir in der Freizeit vor uns hin. An einem ausgewählten Abend jedoch sassen alle zusammen bis spät im Wohnzimmer an den Weihnachtsarbeiten. Aufbleiben: Schon das war etwas Besonderes. Zur Feier des Anlasses gab es zudem Glühwein – einer der seltenen Momente, in denen sich unser Vater in der Küche betätigte. Zimtstangen, Nelken, Muskat und haufenweise Zucker kochte er auf. Zum Gebräu, das er uns stolz kredenzte, gab es gefüllte Bratäpfel.
In der Backstube
Der Ofen lief im Dezember ohnehin auf Hochtouren. Grittibänze stellten wir für die ganze Nachbarschaft her, mit individuellen Accessoires: Bänzenfrauen samt Babys, eingehängte Paare, einen Balletttänzer, dem der Backprozess allerdings schlecht bekam – das angewinkelte Bein verklumpte.
Unvorhergesehenes passierte auch beim Guetzlibacken, trotz strikter Vorgaben. Jeder Sorte waren bestimmte Ausstechformen zugeteilt: den Mailänderli der Engelsflügel, den Brunsli das Herz, wenn sie nicht mit dem Messer zu Rhomben geschnitten wurden. Die Zimtsterne, deren mehllose Eiweissmasse überall festklebte, überliessen wir der Mama. Lustiger waren die Spekulatius: Ente, Fisch, ein Hund und sogar ein Schwein, dessen Konturen je nach Wassergehalt der Butter hoffnungslos zerliefen.
Fingerspitzengefühl verlangten die Anis-Springerle aus Chräbeliteig. Oben musste das fein ziselierte Halbrelief sichtbar bleiben, unten sollten sich sogenannte «Füsschen» bilden. Nicht immer gelang beides.
Insofern herrschte oft auch Stress. Mögliche Pannen: ein Blech mit verbranntem Gebäck, eine von der Drogerie falsch dosierte Gewürzmischung. Kleine Katastrophen, die ernstere Sorgen komplett verdrängten. Man war vollauf beschäftigt mit der Ausführung weihnachtlicher Pflichten. Eine einigermassen gefahrlose Perspektive, die nicht wenig zum vorweihnachtlichen Glücksgefühl beitrug, gelegentliche Seufzer hin oder her.
Die Ordnung der Dinge
Beim Backen half ich meiner Mutter das letzte Mal ein Jahr vor ihrem Tod. Allein schaffte sie es nicht mehr, aber Weihnachten ohne Guetzli konnte sie sich nicht vorstellen. Nur: Das Helfen entpuppte sich als heikle Aktion.
Andauernd wurde ich korrigiert, nichts machte ich richtig. Bis ich begriff: Es ging hier um die Verteidigung von Hoheitsgebieten und ums Kaschieren von Kontrollverlust. Obwohl ich kaum zusehen konnte, liess ich die betagte Herrin des Hauses deshalb mit dem Christstollen die geländerlose Treppe zum Keller hinunterturnen, wo er an der Kühle ruhen sollte. «Ich habe das immer gemacht», lautete ihr Argument.
Wahrscheinlich steckt in dieser Aussage einiges vom Geheimnis der ritualisierten Abläufe, die während meiner Kinderjahre der Adventszeit ihre beschützende Struktur verliehen. Was man immer (wieder) macht, hat seine Ordnung, und solange sie besteht, ist alles gut.
Das Schokoladenschiff
Ein weiterer Punkt: Vorfreude. Sie richtete sich auf bestimmte Ereignisse, die als solche nicht zu überraschen brauchten. Für uns war eins davon, alle Jahre wieder, der Weihnachtsbummel durch die Zürcher Innenstadt.
Bei einbrechender Dunkelheit spazierten wir die Bahnhofstrasse entlang. Keine Einkaufstour, bloss window shopping. Ein Zwischenziel war Franz Carl Weber: Dort sausten im Schaufenster etwa kostümierte Teddybären auf Schlitten herum. (Das konnten unsere Bären nicht, trotz ihrer handgenähten Skianzüge aus blauem Cordstoff, die wir einmal auspackten.)
Die Krönung des Bummels war das Café Schober im Niederdorf. Mit dem Hochglanzlokal der jüngeren Vergangenheit hatte jene Einrichtung nichts zu tun. Ein enger, korridorartiger Raum; eine nackte Theke. Das Personal, zwei alterslose Konditorinnen, wirkte wie aus Marzipan. Bald standen riesige Tassen heisser Schokolade vor uns, über deren Rand der Schlagrahm lief. Wie in den «Buddenbrooks», von denen ich damals noch keine Ahnung hatte.
Nicht Thomas Mann, sondern Felix Timmermans las uns der Vater vor: «Sankt Nikolaus in Not» hiess die Geschichte vom Schokoladenschiff in Trinchen Mutsers kleinem Laden. Obwohl wir sie längst kannten, wollten wir sie immer wieder hören. Sie entführte uns in altmodische Gefilde.
Weihnachten ist schon für Kinder nostalgisch. Eine Perpetuierung des märchenhaften «Es war einmal», die sich zur Tradition fügt.
Heiligabend
Und endlich kam der Schulsilvester. Am Morgen des 23. Dezember zogen wir in aller Herrgottsfrühe los, ausgerüstet mit Pfannendeckeln, Pfeifen, Rätschen und anderen Lärminstrumenten, um die Nachbarschaft zu wecken. Was mir besonders gefiel: Vor der Schule luden wir an diesem Tag zu Kakao und Kuchen ein, wen auch immer wir wollten. Als Gastgeberin fühlte ich mich wie Pippi Langstrumpf in der Villa Kunterbunt.
Am Heiligabend wars dann quartierweit vorbei mit Socials. Er fand überall im Familienrahmen statt – wobei unsere Mutter einsame Menschen nicht vergass. Sie lud Alleinstehende ein, etwa eine Freundin mit ihrem Dackel, der auf dem bordeauxroten Sofakissen aus Samt Platz nahm.
Bis zum Abend war jeweils viel zu tun: Geschenke einpacken, Karten schreiben, Linsensuppe essen, Botengänge machen. Das Wohnzimmer blieb verschlossen, dort schmückten die Eltern anstelle des Christkinds den Baum.
Alle kleideten sich um, wie im Theater. Und ein Stück war es ja auch, was wir nun mit verteilten Rollen aufführten. Ein Glöckchen klingelte, die Tür ging auf, Kerzen brannten, am Klavier erklang «Es ist ein Ros entsprungen» (nein, nie «Stille Nacht», zu meinem Leidwesen galt das als Kitsch). Den formellen Teil des Fests liessen wir wie eine Predigt über uns ergehen: schwere Bibel, väterliche Grabesstimme, ernste Mienen – das Weihnachtsevangelium.
Nach diesem retardierenden Moment erreichte die Spannung ihren Höhepunkt. Bescherung! Auch da galten Regeln. Nie schenkten die Eltern uns profan Nützliches (die grünen Stumpfhosen bekam ich von sonst irgendwem), und keinesfalls Bargeld. Hingegen Bücher, Rollschuhe, einen Puppenkinderwagen. Von ihrem Patenonkel, einem ledigen Archäologen, erhielt eine meiner Schwestern wissenschaftliche Publikationen, die seine Ausgrabungen dokumentierten. Was für ein Pech für sie!
Das Spektakuläre beim Essen nachher bestand darin, dass wir jederzeit vom Tisch aufstehen durften, was normalerweise verboten war. Ausnahme vom Alltag: Diese Formel verschönerte die gesamte Weihnachtszeit.
Heute ist alles anders, nur die Erinnerung bleibt. Samt einigen Kratzern: «Nächstes Jahr verreise ich ganz allein», drohte unsere Mama eines Heiligabends entnervt, als die Stimmung, wer weiss warum, implodierte. Denn auch das kam vor.