Das Märchen von der Medienmeute
Maudet und Savary – zwei aktuelle Westschweizer Affären, in denen die Politik den Journalisten Hetze vorwirft. Doch es sind nicht die Medien, die Rücktritte fordern. Es sind die eigenen Parteien. Unser Kollege aus der Romandie ordnet ein.
Von Ludovic Rocchi, 21.12.2018
Wenn ein Politstar vom Himmel auf den Boden der Realität fällt, muss irgendwer schuld sein. Für Politiker sind das oftmals die Medien, die einen Skandal aufdecken. In den beiden Fällen Géraldine Savary und Pierre Maudet ortet der preisgekrönte Westschweizer Recherchejournalist Ludovic Rocchi die Verantwortung allerdings bei deren Parteien. Die Republik bringt seine Einordnung im Zweikanalton auf Deutsch und Französisch.
Fall eins – Géraldine Savary, Liebling der Medien
Die Fakten: Die 50-jährige Waadtländer SP-Ständerätin gab am 6. November bekannt, dass sie das Vizepräsidium der SP Schweiz niederlegt und bei den eidgenössischen Wahlen im kommenden Jahr nicht mehr antreten wird. Ihr Rückzug ist eine Reaktion auf zahlreiche kritische Medienberichte. Unter Druck geraten war Géraldine Savary wegen ihrer engen Kontakte zum Pharmaunternehmer und Milliardär Frederik Paulsen, der im Kanton Waadt in den Genuss der Pauschalbesteuerung kommt. Die SP-Ständerätin musste nach langem Hin und Her zugeben, dass ihr Paulsen eine Studienreise nach Spanien finanziert hatte. Und dass sie von zwei Wahlkampfspenden wusste, die Paulsen ihrem (gemeinsam mit dem ehemaligen grünen Ständerat Luc Recordon betriebenen) Wahlkampfkomitee zukommen liess: 15’000 Franken im Jahr 2011 und 10’000 Franken im Jahr 2015.
Die Hintergründe: Das abrupte und dramatische Ende von Savarys Karriere war der «Verbissenheit der Medien» geschuldet. Dieser Meinung ist zumindest SP-Präsident Christian Levrat. Gebetsmühlenartig wiederholte er – zusammen mit einer ganzen Reihe weiterer Politiker – diese Aussage in den Medien. Auf eine Anfrage von mir schrieb er: «Savary gibt es nichts vorzuwerfen, nada!» Das war seine wörtliche Reaktion auf unsere Enthüllungen bei RTS über Paulsens Wahlkampfspenden an die sozialdemokratische Ständerätin.
Christian Levrat forderte mich, meine RTS-Kolleginnen und andere Journalisten, die in dieser Sache recherchiert hatten, auf, unser Gewissen zu hinterfragen. Seine Aussage wurde in den sozialen Netzwerken weitherum geteilt, namentlich von Christophe Darbellay. Gemäss dem Walliser Staatsrat und ehemaligen CVP-Präsidenten hatten die Medien «wochenlang Jagd gemacht auf eine Politikerin mit Talent und Herz». Für Darbellay gibt es keinen Zweifel: «Das Rudel hat seine Beute gerissen.» Er ging sogar so weit, sich auf den ehemaligen französischen Präsidenten François Mitterrand zu beziehen. Dieser hatte Journalisten als «Hunde» betitelt, nachdem einer seiner Minister sich umgebracht hatte.
Für Darbellays Facebook-Post gabs ein Like von SP-Präsident Levrat. Was für ein herzerwärmendes Zeichen der Solidarität unter Politikern aller Couleur, die Géraldine Savary gemeinsam zum Medienopfer erklären! Die Angeschossene selber hat sich die sozialen Netzwerke zunutze gemacht, um im Moment ihrer Rücktrittsankündigung das Opfer zu markieren. Sie beklagte, dass man ihre Privatsphäre nicht respektiere: «Ein Journalist von RTS hat mich mit Fragen überfallen, obwohl er genau wusste, dass ich eine Operation mit Narkose hatte.» In Wahrheit hatte der Kollege bloss per SMS nachgefragt, ob sie schriftlich auf die Präzisierungen antworten könne, die ihre eigene Partei zur Höhe der von ihr entgegengenommenen Wahlkampfspenden gemacht hatte.
Der Vorwurf der fiesen Grenzüberschreitung durch einen Journalisten hat natürlich die Gemüter erhitzt. Aber die Anschuldigungen, die man uns gegenüber gemacht hat, reichen weiter: Wir, die Journalistenmeute, hätten den Westschweizer Politstar mit Aussichten auf einen Bundesratssitz mit unseren Jagdmethoden zu Fall gebracht. Unser Druck sei schuld, dass Géraldine Savary vergangenen Monat das Ende ihrer Politkarriere habe verkünden müssen.
Unbehagen in den eigenen Reihen
Ganz so war es dann doch nicht. Zahlreiche Quellen aus der SP – sowohl auf kantonaler als auch auf nationaler Ebene – bestätigen: Der Druck auf die Politikerin kam vor allem aus ihrer eigenen Partei. Hinter den Kulissen sprach sogar Levrat von einer «Dummheit», weil Savary das Geld des Milliardärs Paulsen angenommen hatte. Die Waadtländer Genossinnen waren schockiert über die Spenden. Nicht nur, weil die kantonale SP-Sektion für ihre strikte Haltung in Fragen der Annahme von Parteispenden bekannt ist. Sondern auch, weil man sich von Savary verraten fühlte. Die Ständerätin war ganz offensichtlich nicht ehrlich gewesen, was Höhe und Herkunft der Gelder betrifft.
Die SP-nahe Monatszeitung «Pages de gauche» hat es gewagt, Klartext zu schreiben: In einem am 16. November veröffentlichten Artikel bezeichnete die Redaktion Savarys Rücktritt als «logisch». Es liege in der «Ordnung der Dinge» dass rechte Politiker «von einem Milliardär oder einem Unternehmen gehätschelt werden, der oder das eigene Interessen verfolgt». Bei der Linken sei das nicht akzeptabel. «Das ist eine Frage der politischen Kohärenz und gleichzeitig der Unabhängigkeit», hält das linke Blatt fest.
Wir sind nicht die Hunde, für die wir gehalten werden
In dieser wie auch in anderen Affären kann man uns Journalisten eher den Vorwurf machen, dass wir Politstars zu sehr zu unseren eigenen Darlings machten, sprich: gegenüber jemandem wie Géraldine Savary zu wenig Distanz wahrten. Eine anhaltende Schönwetterberichterstattung verstärkt zweifellos den Schock über eine plötzlich einsetzende negative Presse – sowohl bei der zur Zielscheibe gewordenen Politikerin als auch beim Publikum.
Mein Kollege Serge Gumy, Chefredaktor der Tageszeitung «La Liberté», ist einer der wenigen, die auch in der Vergangenheit über Savarys Verbindungen zu Paulsen berichtet hatten. Damals wollte Gumy von der Politikerin wissen, was es mit einer Reise nach Russland auf sich hatte. Er blieb zu jener Zeit allein mit seinen Fragen, seine Kollegen (der Schreibende eingeschlossen) fanden es nicht angebracht, weiter zu recherchieren. Fragt man Gumy heute nach der neulichen «Medienhatz», sagt er: «Es stört mich nicht, wenn Medien plötzlich einen Politiker ins Visier nehmen. Mich stört, dass sie ihm gegenüber so lange wohlgefällig waren.»
Angeschossene Politikerinnen und ihre Verbündeten erheben gerne den Vorwurf der «hetzerischen Medien». Macht man sich die Mühe, dieses Narrativ zu überprüfen, wird klar: Journalisten sind längst nicht so verbissen, wie man glauben möchte. Wir sind keine Bluthunde, sondern allzu oft Schosshündchen. Wir schwimmen mit dem Strom und tragen dazu bei, Menschen zu Helden hochzustilisieren. Erst wenn diese Helden einen Fehler machen, verbeissen wir uns alle in denselben Knochen. Und sehen dann aus wie eine Meute tollwütiger Köter.
Fall zwei – Pierre Maudet, das «Schreckgespenst»
Die Fakten: Der erst 40 Jahre junge Genfer FDP-Staatsrat gab am 5. September 2018 öffentlich zu, gelogen zu haben. Grund war eine Reise mit seiner Familie nach Abu Dhabi im Jahr 2015, von der er zunächst sagte, dass er sie selber bezahlt habe und dass diese privater Natur gewesen sei. Wegen dieser Lüge – und für einen Vorwurf der Steuerhinterziehung (Maudet hatte von seiner Steuererklärung rund 40’000 Franken als Spende an seine Partei abgezogen, obwohl das Geld nicht von ihm, sondern von Dritten stammte) – fordern ihn nationale und kantonale FDP-Grössen zum Rücktritt auf. Maudet aber weigert sich zurückzutreten, solange er nicht von Rechts wegen für schuldig befunden wurde. Die Strafuntersuchung dauert an, der Verdacht lautet auf Vorteilsannahme.
Die Hintergründe: Die zweifelhafte Rolle der Medien wird im Fall Maudet – auch er ein Westschweizer Politstar – noch krasser deutlich. Der «Hochbegabte» verstand es brillant, sich die Medien zunutze zu machen. Auch Deutschschweizer Journalisten hingen ihm im vergangenen Jahr an den Lippen, als er für seine Bundesratskandidatur auf Tour ging. Gewählt wurde schliesslich Ignazio Cassis, doch der Genfer Liberale hatte im Vorfeld mächtig Eindruck gemacht. Kein einziges Medium hatte – wie vor Bundesratswahlen eigentlich üblich – bei Maudet genauer hingeschaut.
Dabei war sein berühmter Abu-Dhabi-Trip – der Grund all seiner heutigen Probleme – einigen Redaktionen schon damals bekannt. Ein Deutschschweizer «Tamedia»-Journalist hatte dem Kandidaten sogar Fragen zu dieser Reise gestellt, wie aus übereinstimmenden Aussagen aus dem Verlagshaus und Pierre Maudets Umfeld hervorgeht. Aber veröffentlicht wurde dazu nichts – beharrte Maudet doch darauf, die Reise sei rein privater Natur gewesen. Eine glatte Lüge, wie wir heute wissen.
Doch die Fragen im Vorfeld der Bundesratswahl waren nicht der erste Versuch einer Aufdeckung: Bereits 2016 hatte Raphaël Leroy (damals Journalist beim «Matin Dimanche») Recherchen zu Maudets Reise ins arabische Emirat angestellt. Heute sagt Leroy, er habe damals Beweise gehabt, dass Maudet log – was die private Natur seiner Reise und deren Finanzierung betraf. Aber die Chefredaktion befand, dass sie nicht ausreichend seien, und beharrte auf Dokumenten. Frustriert gab Leroy die Recherche auf.
Einer, der Furcht und Faszination auslöst
Wie lässt es sich erklären, dass es so schwer war, eine kritische Geschichte über Pierre Maudet zu veröffentlichen? Leroy spricht von «der Furcht und der Faszination, die der ‹kleine Mozart› der Politik auf den Redaktionen auslöste». Ein erfahrener Genfer Politiker, der anonym bleiben will, geht einen Schritt weiter: «Pierre Maudet hat im Privaten oft damit geprahlt, er würde Medien dazu bringen, zu schreiben, was er wolle.»
In den Westschweizer Redaktionen erzählt man sich viele Geschichten über die Art, wie Maudet sich eingeschmeichelt hat – indem er etwa gewissen Journalisten exklusive Informationen zukommen liess. Umgekehrt verbreitete er Furcht, wenn er wegen eines kleinsten Details über ihn, das ihm nicht passte, direkt bei der Chefredaktion vorstellig wurde. Der ehemalige Chefredaktor der Tageszeitung «La Tribune de Genève», Pierre Ruetschi, bestätigt beide Gewohnheiten Maudets: «Er versuchte Komplizenschaft herzustellen, indem er Informationen lieferte. Aber darin war er bei weitem nicht der Einzige. Gleichzeitig hat er wie kein anderer Politiker, den ich kenne, reagiert, ja interveniert.»
Ruetschi ist der Meinung, dass er eine gesunde Distanz zu Maudet wahren und wenn nötig auch Nein sagen konnte. Trotzdem hält sich hartnäckig das Gerücht, Maudet habe dafür gesorgt, dass Journalisten Maulkörbe verpasst wurden. Die «Tribune de Genève» musste sich den Vorwurf machen lassen, zu positiv über ihn berichtet zu haben. Allerdings war es ausgerechnet die «Tribune», die im Frühling den Primeur über Maudets Luxusreise nach Abu Dhabi veröffentlichte. Und dann gibt es auch noch die Legende einer Reporterin von Radio RTS, die von ihrem Arbeitgeber einen Maulkorb bekommen habe. Auch wenn die RTS-Chefredaktion das entschieden verneint, glauben nicht wenige weiter daran – einige Deutschschweizer Titel eingeschlossen.
Mit der FDP ist das Spektakel garantiert
Zweifellos machte Maudet als Beeinflusser der Journalistinnen eine bessere Figur denn als deren Zielscheibe. Doch dieser Tage machen ihm die Medien in Genf den Prozess. Und der Wahnsinn steigert sich mit jedem Tag, an dem sich Maudet weiterhin an sein Amt klammert – und seine Unterstützer beklagen, dieser Ausnahmepolitiker werde «von den Medien gelyncht». Eine «Treibjagd» sei das, sind einzelne Figuren an der FDP-Basis wie einige alte Parteigrössen überzeugt.
Aber auch hier ist es genau wie bei Géraldine Savary: Unter Druck steht Maudet in erster Linie vonseiten seiner Partei. In der Schweiz hat man ein so spektakuläres Armdrücken zwischen einem gewählten Politiker und den Gremien seiner Partei noch nicht erlebt. Sowohl der nationale als auch der kantonale Parteivorstand der Freisinnigen hat Maudet diesen Monat aufgefordert, von seinem Regierungsamt zurückzutreten.
Bislang vergebens. Damit bleibt die Spannung erhalten. Fast täglich kommt irgendein neues Detail ans Licht. Und bietet den Medien weiteren Stoff für die Geschichte.
Wem soll man nun «Verbissenheit» vorwerfen? Den Medien, die ihren Job machen? Oder Pierre Maudet und seiner Partei, die sogar über die Festtage ein Spektakel bieten?
Stoff zum Nachdenken, unter dem Weihnachtsbaum.
Die Übersetzung aus dem Französischen stammt von Oliver Fuchs.
Hinweis der Redaktion: Bei der Übersetzung sind uns einige Ungenauigkeiten unterlaufen. Wir bitten um Entschuldigung. Hier die betroffenen Stellen:
Hinter den Kulissen sprach sogar Levrat von einer «Dummheit», weil Savary das Geld des Milliardärs Paulsen angenommen hatte. Hier hatten wir falsch übersetzt; die Aussage machte Levrat nicht «im Vieraugengespräch».
Er versuchte Komplizenschaft herzustellen, indem er Informationen lieferte. Aber darin war er bei weitem nicht der Einzige. Diesen Satz hatten wir in der Übersetzung vergessen.
Eine «Treibjagd» sei das, sind einzelne Figuren an der FDP-Basis wie einige alte Parteigrössen überzeugt. Wir hatten in der Übersetzung zunächst von Parteikadern gesprochen.
Ludovic Rocchi, 53, ist Journalist bei Radio Télévision Suisse (RTS). Davor war er bei diversen Westschweizer Tageszeitungen. 2010 wurde er mit dem Prix Dumur ausgezeichnet. Er ist verheiratet, Vater von drei Kindern und lebt in Auvernier im Kanton Neuenburg. Für die Republik schrieb Rocchi «Meine drei Jahrzehnte Medienkrise» («Mes trente ans de crise dans les médias»).