Neue politische Frontlinien
Die Blockade des Rahmenabkommens soll uns zur EU auf Distanz halten. Doch sie macht die Schweiz europäischer.
Von Daniel Binswanger, 01.12.2018
Die institutionelle Annäherung der Eidgenossenschaft an die EU steckt in einer Sackgasse. Aber das ist nicht die entscheidende Entwicklung, die mit der Blockade des Rahmenabkommens manifest geworden ist. Viel einschneidender ist die Annäherung der Schweiz ans europäische Kräftefeld der politischen Polarisierungen.
Wir werden in Zukunft verstärkt zu Europäern werden. Bis anhin waren wir gemessen an den EU-Mitgliedern ein partei- und sozialpolitischer Sonderfall. Heute aber dürften wir am Wendepunkt eines beschleunigten Prozesses der Angleichung sowohl der Links- als auch der Rechtsparteien an die europäische Normalität stehen.
Es läge mir fern, zu bestreiten, dass die EU eine welthistorische Jahrhundertleistung ist: ein ambitioniertes Projekt der unabdingbaren Friedenssicherung, der unausweichlichen Internationalisierung von governance und – es geht leider immer mehr vergessen – der strategischen Sicherung eines Platzes im Konzert der Weltmächte für die europäische Wirtschafts- und Wertegemeinschaft.
Doch sozialpolitisch ist die heutige EU ein Desaster. Letzteres gilt nicht nur für die durch die Eurokrise pauperisierten Südländer, sondern auch für die nordeuropäischen Exportnationen, die sich ihr Wirtschaftswachstum mit Lohnzurückhaltung erkaufen.
Das Paradebeispiel ist Deutschland, wo fast 25 Prozent der Beschäftigten mittlerweile einen Niedriglohn verdienen – trotz historischem Tiefststand der Arbeitslosigkeit. In allen EU-Ländern (mit ein paar osteuropäischen Ausnahmen) war die Lohnentwicklung am unteren Ende der Verteilungsskala bescheiden bis absolut katastrophal. Es ist einer der Gründe für das EU-weite Erstarken europafeindlicher Kräfte.
Verhärtete Fronten
Die Schweiz ist dazu die radikale Antithese, bis jetzt jedenfalls. Der Niedriglohnsektor hat sich in den letzten 15 Jahren exzellent entwickelt, die untersten Einkommensschichten haben überproportional zugelegt. Die Arbeitslosenquote ist dennoch, auch bei phasenweise starker Zuwanderung, sehr tief geblieben. Entscheidend für diese erfreulichen Zustände waren einerseits das gute Schweizer Wachstum und andererseits der gute Schweizer Lohnschutz. Letzterer gründet auf den flankierenden Massnahmen.
Aus dieser Bestandsaufnahme ergeben sich zwei Schlussfolgerungen.
Erstens: Die EU-Länder dürften kompromisslos bleiben bei ihrer Forderung nach Abbau der flankierenden Massnahmen. Weshalb sollen Länder, die bereit waren, auf ihren eigenen Arbeitsmärkten die unteren Löhne kollabieren zu lassen, Rücksicht nehmen auf das helvetische Gegenprogramm? Zulasten ihrer heimischen Dienstleistungsexporteure?
Zweitens werden die Schweizer Gewerkschaften die «rote Linie» der flankierenden Massnahmen bis auf den letzten Mann verteidigen. Das hat nichts zu tun mit Sturheit und noch viel weniger mit der Persönlichkeit von Paul Rechsteiner. Gewerkschaften existieren, um Niedriglöhne zu schützen, und die Flankierenden waren die Basis für die beeindruckenden Erfolge in diesem Feld. Die Gewerkschaften wären verrückt, wenn sie diese Basis opfern würden. Genauso gut könnte man von der SVP verlangen, dass sie anfängt, für den EU-Beitritt zu kämpfen. Ihre Raison d’Être werden die Arbeitnehmerorganisationen nicht einfach so zur Disposition stellen.
Theoretisch wäre zwar denkbar, dass eine kreative Lösung gefunden wird, mit der alle Seiten leben können, also eine EU-kompatible Abwandlung der Flankierenden. Danach sieht es allerdings nicht aus. Mit EU-kompatiblem Lohnschutz hat sich auch Österreich versucht und wurde kürzlich vom Europäischen Gerichtshof zu einer Gesetzesänderung gezwungen.
Zwar ist richtig, dass auch in der EU das Entsendegesetz diesen Sommer deutlich verschärft wurde. Den Zankapfel zwischen Bern und Brüssel bilden jedoch die alles entscheidenden Durchsetzungsmassnahmen. Hier sind die Unterschiede weiterhin sehr erheblich.
Sozialpolitische Pappnasen
Es sieht deshalb ganz danach aus, als würde die Schweiz mindestens mittelfristig ihren Binnenmarktzugang mit einer substanziellen Schwächung des Lohnschutzes bezahlen müssen. Wir dürften an den Punkt kommen, an dem der splendide Sonderfall von hohen Exportüberschüssen und hohen Mindestlöhnen in Gefahr gerät. Die Folge wird eine Europäisierung der Schweizer Politik sein – und zwar in dreierlei Hinsicht.
Erstens bieten sich für die SVP ganz neue Möglichkeiten der antieuropäischen Mobilisierung. Erste Signale deuten bereits darauf hin, dass sie mehr als gewillt ist, diese auch zu nutzen. In Frankreich (Marine Le Pen), Ungarn (Orbán), Italien (Salvini) lässt sich ein Rechtspopulismus beobachten, der eine prononciert etatistische und ausgabenfreudige Komponente pflegt. Die Kombination von Nationalismus und hartem Wirtschaftsliberalismus, der die SVP charakterisiert (ausser in der Agrarpolitik), ist die Ausnahme.
Jetzt aber kann sich die SVP des Lohnschutz-Argumentes bedienen, um Truppen gegen die EU zu mobilisieren. Noch im vergangenen Januar lancierte die Partei unter Führung von Martullo-Blocher einen Frontalangriff auf die heutige Sozialpartnerschaft. Ihre damalige Forderung lautete: «Die flankierenden Massnahmen müssen abgeschafft werden.» Elf Monate später vertritt Martullo-Blocher mit Verve das exakte Gegenteil: «Im EU-Rahmenvertrag geht es bei den flankierenden Massnahmen um den Lohnschutz. Wollen wir den wirklich preisgeben?» Wie in den EU-Ländern (oder den USA) dürften wir es vermehrt mit einem Rechtspopulismus zu tun bekommen, der sich offensiv sozialpolitische Pappnasen aufsetzt.
Europapolitischer Bruderzwist
Zweitens: Wie in den meisten europäischen Ländern werden auch die Linken in der Schweiz in eine sehr delikate Situation geraten. Es ist bemerkenswert, wie diszipliniert die Sozialdemokraten sich noch hinter dem gewerkschaftlichen Banner scharen – wenn wir einmal vom kurzfristigen Dissidenzversuch von Nationalrat Nussbaumer absehen.
Das Aufbrechen von offenen Flügelkämpfen zwischen einer pro- und einer antieuropäischen Linken dürfte jedoch nur eine Frage der Zeit sein. Die Gewerkschaften haben keine andere Wahl, als die Interessen ihrer Basis wahrzunehmen. Aber die urbane, akademische Mittelschicht, die den grösseren Teil der SP-Wählerschaft ausmacht, ist auf Lohnschutz nicht angewiesen und wird sich einer antieuropäischen Politik nicht anschliessen.
Die französischen Sozialisten sind am europapolitischen Bruderzwist zugrunde gegangen. Die ansonsten erfolgreiche Labour-Partei trägt sich schwer mit ihrer Brexit-Positionierung. Selbst in Deutschland scheint nun eine nationalistische Linke ihr Haupt zu erheben. Letztlich ist es simpel: Das neoliberale Europa ist für die proeuropäische Linke ein Problem, auf das es keine gute Antwort gibt. Bisher hatte diese Herausforderung für die Schweizer Sozialdemokraten wenig Relevanz. Das dürfte sich ändern.
Eine Steilvorlage für die GLP
Drittens: Politisch profitieren von der Entwicklung dürfte ein Segment der Mitte. Ein politisches Feld geht auf für eine Pro-Rahmenabkommen-Offensive aus der Mitte, eine Art Macron-Bewegung im Kleinen. Falls die Linke bei den urbanen Mittelschichten tatsächlich Sympathien verliert, wird jemand die verwaisten Wähler übernehmen können. Die CVP und die FDP sind mittlerweile viel zu konservativ positioniert und europapolitisch viel zu eingeschüchtert, um diese Funktion zu erfüllen. Die FDP bringt es ja nicht einmal mehr zustande, ihrem eigenen Aussenminister ein Anstandsminimum an Flankenschutz zu geben.
Aber die GLP steht in den Startlöchern. Schon im Wahlkampf 2015 versuchte sie sich als unzweideutig proeuropäische Alternative zu den Sozialdemokraten und den bürgerlichen Traditionsparteien zu positionieren – allerdings viel zu zögerlich und zaghaft. Wenn sich jetzt die Frontstellungen verhärten, dürfte dies jedoch eine Steilvorlage werden, um auf diesem Weg Profil zu gewinnen. Wie in anderen europäischen Ländern könnte sich neben einer eher konservativen eine dezidiert progressive Mitte mit Europa-freundlicher Agenda etablieren.
Der Kampf um das institutionelle Rahmenabkommen ist dabei, Grundstrukturen der Bildung politischer Lager aus der EU in die Schweiz zu importieren. Wir werden uns politisch europäisieren, so viel steht fest. Nur wünschenswert ist das nicht.
Illustration: Alex Solman
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