«Wir stehen am Beginn einer neuen Ära der Rivalität zwischen China und den USA»

Kevin Rudd, der frühere Premierminister Australiens, sieht einen fundamentalen Wandel in der Beziehung zwischen den beiden Grossmächten. Nach vierzig Jahren Annäherung beginnt nun eine Phase des strategischen Konkurrenzkampfs.

Ein Interview von Mark Dittli, 26.11.2018

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In fünf Tagen treffen sich die beiden mächtigsten Männer der Welt. Am Gipfel der G-20-Staaten in Buenos Aires werden sich US-Präsident Donald Trump und Chinas Staatschef Xi Jinping die Hand reichen. Nach aktuellem Stand der Planung werden sie am 1. Dezember zusammen dinieren.

Die Stimmung am Tisch wird angespannt sein. Seit mehreren Monaten tobt ein Handelskonflikt zwischen den beiden Grossmächten; Trump hat im Frühsommer Strafzölle auf chinesischen Waren verhängt, für Januar 2019 hat er bereits eine Verschärfung angedroht. Peking erhöhte seinerseits die Einfuhrzölle auf amerikanischen Gütern.

Mike Pence, Vizepräsident der USA, schlug Anfang Oktober in einer Rede vor dem Hudson Institute, einem konservativen Thinktank in Washington, dezidiert harte Töne gegenüber China an. Zahlreiche Kommentatoren sprachen von einem «neuen Kalten Krieg». Im Umfeld von zwei Gipfeltreffen in Singapur und Port Moresby in Papua Neuguinea im November attackierte Pence Peking erneut.

Steht ein neuer Konflikt zwischen zwei Grossmächten bevor? Oder werden sich Xi und Trump zu einem Deal finden, der es beiden erlaubt, ihr Gesicht zu wahren?

Der frühere australische Premierminister Kevin Rudd ist überzeugt, dass gegenwärtig eine fundamentale Verschiebung im Verhältnis zwischen den USA und China stattfindet. «Die Zeit der Annäherung ist vorbei, jetzt beginnt eine Ära des strategischen Konkurrenzkampfs», sagt er.

1978, als Deng Xiaoping in Peking erste Reformen anstiess, studierte Rudd an der Australian National University in Canberra chinesische Sprache und Geschichte. Der Sinologe arbeitete im diplomatischen Dienst auf der australischen Botschaft in Peking, bevor er in die nationale Politik wechselte.

«Man muss Trump eines lassen: Es ist ihm gelungen, Peking komplett zu verwirren»: Kevin Rudd. Jason Alden/Bloomberg/Getty Images

Als Premierminister von 2007 bis 2010 sowie als Aussenminister von 2010 bis 2012 führte der Politiker der Labor Party das Land durch die weltweite Finanzkrise und prägte die Beziehungen zu China, dem mit Abstand wichtigsten Handelspartner von Australien. Schlagzeilen in seiner Heimat machte er, als er 2008 die erste formelle Entschuldigung der australischen Regierung an die Aborigines aussprach.

Heute ist Rudd Präsident des Asia Society Policy Institute, eines Thinktanks in New York. Am 14. November war er auf Einladung der Asia Society Switzerland in Zürich, wo er den Journalisten der Republik zu einem Podiumsgespräch traf. Der Text ist eine editierte, gekürzte Version des Interviews.

Herr Rudd, die USA und China stehen in einem gehässigen Handelskonflikt. Noch vor weniger als einem Jahr galt das als unwahrscheinlich mit dem Argument, beide Seiten könnten dabei nur verlieren. Was ist geschehen?
Wir sehen heute das Resultat einer Reihe struktureller Entwicklungen, die sich über längere Zeit abgespielt haben. In sicherheitspolitischen Kreisen in Washington werden der militärische Aufstieg und die strategischen Intentionen Chinas seit Jahren kritisch beäugt. Für Gegendruck sorgte bislang die Geschäftswelt, die sich die Chancen in China nicht verderben wollte.

Was passierte dann?
Die Stimmung in der Geschäftswelt schlug allmählich um. US-amerikanische Unternehmen klagen über Schikanen in China, willkürliche Änderungen von Regeln und die unverhohlen nationalistische Industriepolitik Pekings. Im Strategiepapier «Made in China 2025» ist deutlich formuliert, in welchen Industriezweigen China die Weltmärkte dominieren will. Das alles hat dazu geführt, dass US-Unternehmen China nicht mehr primär als Chance, sondern als Bedrohung sehen.

Welche Rolle spielte dabei Präsident Trump?
Wir wissen, dass Donald Trump intellektuell nicht besonders hoch fliegt – aber er hat politischen Instinkt. Er hat die strukturellen Faktoren erkannt, die das Verhältnis zwischen den USA und China abkühlen liessen. Schon während seiner Wahlkampagne hat er formuliert, wer Schuld trägt am Verlust heimischer Arbeitsplätze: China und die «Globalisten» von der Wallstreet. Er gab das Versprechen ab, das Handelsdefizit mit China zu reduzieren. Viele Leute waren bloss überrascht, dass er seine Versprechen nach seinem Wahlsieg tatsächlich umsetzte.

«Die Amerikaner gehen davon aus, dass sie den längeren Atem haben» – Donald Trump und Xi Jinping 2017 in Florida. Alex Brandon/AP Photo/Keystone

Sie haben kürzlich im Magazin «Foreign Affairs» von einer fundamentalen Verschiebung im Verhältnis zwischen den beiden Supermächten geschrieben: Nach vierzig Jahren Annäherung beginnt nun eine Ära des strategischen Konkurrenzkampfs.
Ja, wir stehen heute an dieser Schwelle. Das Vokabular des Konkurrenzkampfs war in den vergangenen zwölf Monaten in mehreren Strategiepapieren der US-Regierung zu lesen. Auch Trumps Vize Mike Pence liess in seiner Rede Anfang Oktober am Hudson Institute keinen Zweifel daran: Die Zeit des strategischen Konkurrenzkampfs hat begonnen.

Die Rede von Pence wurde vielerorts als Ansage eines neuen Kalten Krieges bezeichnet. Teilen Sie diese Meinung?
Nein. Das waren oberflächliche Kommentare. Die Sache ist komplexer. Im Kalten Krieg standen sich die USA und die Sowjetunion mit Tausenden von Atomraketen gegenüber. Es gab keine wirtschaftlichen Verflechtungen zwischen ihnen, es herrschte ein System der mutually assured destruction, der gegenseitig garantierten Vernichtung, sollte ein Staat den anderen angreifen. Zudem fochten die beiden Mächte rund zwanzig Stellvertreterkriege an allen möglichen Orten auf der Welt gegeneinander aus. Das hat keine Gemeinsamkeiten mit dem heutigen Verhältnis zwischen den USA und China. Ich würde hier eher von einem System der mutually assured misperception sprechen, von gegenseitig garantiertem Missverständnis.

Für den Moment haben wir es also nur mit einem Handelskrieg zu tun?
Ich würde es einen Disput nennen. Es ist kein ausgewachsener Handelskrieg.

Wer kann diesen Disput länger überstehen?
Objektiv betrachtet die USA. Ihre jährliche Wirtschaftsleistung beträgt 20’000 Milliarden Dollar, die Exporte nach China machen davon nur gerade 130 Milliarden aus. Chinas Wirtschaft ist 12’000 Milliarden Dollar schwer, wovon rund 500 Milliarden aus Exporten in die USA erwirtschaftet werden. China ist abhängiger vom Welthandel als die USA. Pence hat das auch formuliert: Die Amerikaner gehen davon aus, dass sie den längeren Atem haben.

«China ist abhängiger vom Welthandel als die USA» – Xi Jinping (Mitte) 2018 auf einem Landwirtschaftsbetrieb in der Provinz Heilongjiang. Wang Ye/Xinhua/AP Photos/Keystone

Wird das auch in Peking so gesehen?
Aus chinesischen Regierungskreisen vernehmen wir ein Vokabular von Durchhalteparolen: Wir haben in unserer Geschichte schon schwere Zeiten durchgestanden, wir können das wieder tun. Sogar Staatspräsident Xi Jinping spricht von einer «neuen Periode der Eigenständigkeit». Alles in allem denke ich aber, dass es Peking bewusst ist, wie verletzlich Chinas Wirtschaft gegenwärtig ist. Sie haben wohl ein Interesse daran, den Handelsdisput mit einem Deal zu entschärfen.

Im dritten Quartal verlangsamte sich die Wachstumsrate Chinas überraschend auf 6,5 Prozent. Steht es um die Konjunktur so schlecht?
Die wirtschaftliche Verfassung ist die grösste Schwachstelle für Xi. Wir kennen die wahre Wachstumsrate nicht – aber wir wissen, dass die offiziellen Statistikämter recht kreativ arbeiten. Klar ist: Chinas Wirtschaft hat nach 2008 einen horrenden Anstieg der Verschuldung verzeichnet, und die Banken sitzen nun auf faulen Krediten. Xi hat in den letzten drei Jahren seine ursprünglich angekündigten Wirtschaftsreformen stark gebremst und die ineffizienten, hoch verschuldeten Staatskonzerne geschützt. Ein wichtiger Wachstumstreiber der vergangenen zwei Jahrzehnte, die staatlichen Investitionen in die Infrastruktur, fällt allmählich weg, weil der Bedarf weitgehend gedeckt ist. Sie finden in der Provinz Xinjiang heute bessere Breitbandnetze als in Manhattan. Wie ernst die Lage ist, sehen Sie daran, dass Xi Jinping plötzlich erkannt hat, dass er sich besser um die privaten Unternehmer kümmern sollte. Er und Vizepremier Liu He haben in den vergangenen Tagen mehrmals die privaten Entrepreneurs im Land gelobt. Das sind neue Töne.

Sehen Sie denn die Möglichkeit eines Deals zur Lösung des Handelsdisputs, der es Trump erlaubt, zu Hause einen Sieg zu verkünden, während gleichzeitig Xi in Peking sein Gesicht wahren kann?
Trump hat es sogar geschafft, nach seinem Treffen mit Nordkoreas Diktator Kim Jong-un in Singapur ein wertloses Dokument als Sieg zu verkaufen, obwohl völlig klar war, dass er nichts Materielles erreicht hatte. Der Mann besitzt eine formidable Fähigkeit, sich seine eigene Realität zu schaffen. Und weil er mit Fox News auf ein ihm höriges Massenmedium zählen kann, wird er diese Realität auch seinen Anhängern als Sieg verkaufen können.

Wie könnte ein Deal konkret aussehen?
Trump könnte aus Argentinien zurückkehren und verkünden, er habe sich mit Xi darauf geeinigt, dass China den bilateralen Handelsüberschuss mit den USA in zwei Jahren um, sagen wir, 200 Milliarden Dollar reduziert. Die Details könnte dann ein gemeinsames Komitee ausarbeiten. Aber es kommt wohl stark darauf an, in welcher Gemütsverfassung Trump nach Buenos Aires reist. Sollten sich etwa in den Untersuchungen des Sonderermittlers Robert Mueller neue Entwicklungen zeigen, die ein schlechtes Licht auf Trump werfen, könnte er zur Ablenkung versucht sein, den Konflikt mit China zu eskalieren. Entscheidend wird auch sein, von wem er sich unmittelbar vor der Reise beraten lässt.

Auf wen hört denn Trump?
Das ist schwierig zu sagen. Frühere US-Präsidenten haben ihren Rat in Bezug auf China typischerweise vom heute 95-jährigen Henry Kissinger geholt. Ebenfalls eine wichtige, gut vernetzte Stimme war Hank Paulson, der frühere Chef von Goldman Sachs und Schatzminister unter George W. Bush. Ich weiss nicht, ob Kissinger und Paulson im Weissen Haus noch Einfluss haben. Gleichzeitig ist klar, dass Trump von einigen Hardlinern umgeben ist, beispielsweise Peter Navarro, der ihn in Handelsfragen berät. Das sind Leute, die in China den strategischen Erzfeind sehen. Ihrer Meinung nach muss China gestoppt werden, notfalls militärisch, da die USA sonst ihren Status als Supermacht verlieren werden. Am Ende wissen wir nicht, ob Trump in seiner extremen Unberechenbarkeit überhaupt auf jemanden hört.

Wie wird denn Trump in Peking interpretiert? Was sieht Xi in ihm – einen unberechenbaren Spinner oder einen gewieften Verhandler?
Man muss Trump eines lassen: Es ist ihm gelungen, Peking komplett zu verwirren. Die Chinesen waren sehr gut darin, die amerikanischen Präsidenten zu lesen. Seit Richard Nixon haben sie sie kommen und gehen sehen; sie haben gehört, wie sie im Wahlkampf Feuer speien, und sie haben erlebt, wie sie nach gewonnener Wahl zahme Kätzchen werden. Trump widerspricht komplett dem Handbuch, das sich die Chinesen im Umgang mit Washington angeeignet hatten. Damit können sie nicht umgehen, das Polit-Establishment in Peking verabscheut Ungewissheit. Das ist aber genau die Welt von Donald Trump. Er wird sagen, das sei seine art of the deal, den Verhandlungspartner stets über die eigenen Absichten im Dunkeln zu lassen. Das mag in der Welt der Golfplätze funktionieren, aber ich bezweifle, ob das im Umgang mit einer Nuklearmacht zum Ziel führt.

Kann Xi Trump aussitzen und darauf hoffen, dass in zwei Jahren ein neuer Präsident ins Weisse Haus zieht?
Nein. Ich denke, das ist die Erkenntnis, die Peking am stärksten beunruhigt. Das Verhältnis zwischen den beiden Staaten hat sich nicht wegen Trump abgekühlt. Trump war bloss das Symptom. Wir haben es mit einer strukturellen Verschiebung zu tun; die Geschäftswelt, das Pentagon, die Nachrichtendienste. Republikaner und Demokraten sind sich darin einig, dass die Ära der strategischen Annäherung an China vorbei ist. Deshalb kann Xi auch nicht auf ein günstigeres Klima hoffen, sollte in zwei Jahren ein neuer Präsident übernehmen.

«Das Polit-Establishment in Peking verabscheut Ungewissheit» – Parade an einer militärischen Schule, 2018 in Binzhou. VCG/Getty Images

Sitzt Xi Jinping überhaupt fest im Sattel?
Das politische System in China ist extrem schwer zu durchschauen. Grundsätzlich müssen wir uns aber vergegenwärtigen, dass das Land nach wie vor ein leninistischer Staat ist, geführt von einer autoritären Partei, deren Macht am Ende auf Gewehrläufen beruht. Deshalb ist die entscheidende Frage: Wer kontrolliert die Gewehrläufe? Da ist die Antwort eindeutig: Xi Jinping. Er beherrscht die Armee und die Sicherheitsdienste, seine Machtstruktur ist extrem stark. Gleichzeitig ist es bemerkenswert, wie jüngst da und dort kritische Stimmen zu Wort kommen. Ein Sohn von Deng Xiaoping, Deng Pufang, erinnerte kürzlich in einer Rede an die Maxime seines Vaters, China solle seine Stärke verbergen und seine Zeit abwarten. Das war eine indirekte Kritik am Stil von Xi Jinping.

Angenommen, Sie liegen richtig mit der These, dass eine neue Ära des strategischen Konkurrenzkampfs zwischen den USA und China beginnt. Wie wird sich das auf andere Länder auswirken?
Zunächst einmal wissen wir nicht, welche Regeln künftig gelten werden. Wir wissen nicht, ob das regelbasierte System, etwa in Handelsfragen, das die USA stets verteidigt haben, in seiner heutigen Form überlebt. Auch in dieser Frage haben wir es mit einer strukturellen Verschiebung zu tun. Zu sehen ist der Sinneswandel etwa in Japan. Teile des aussenpolitischen Establishments in Tokio fragen sich heute, ob sie sich auf die USA noch verlassen können. Was, wenn sich die USA in die Isolation zurückziehen? Der Besuch von Japans Premierminister Shinzo Abe Ende Oktober in Peking war ein Meilenstein; nach sieben eisigen Jahren demonstrierten Abe und Xi plötzlich wieder freundschaftliche Nähe. Ähnlich präsentierte sich Xi im Mai mit Indiens Premier Modi. Mit der Belt-and-Road-Initiative, kurz BRI, will Peking zudem eine Fülle von Infrastrukturprojekten umsetzen, sich als führende Wirtschaftsmacht auf der eurasischen Landmasse etablieren und diverse Staaten in Ostafrika, Südostasien und Lateinamerika an sich binden.

«Mit der Belt-and-Road-Initiative will Peking diverse Staaten an sich binden» – von China finanzierter Bau einer Brücke in Laos, 2018. Taylor Weidman/Bloomberg/Getty Images

Wird das gelingen? Oder wird sich die BRI für Peking zu einem Milliardengrab entwickeln?
Es ist zu früh, darauf eine Antwort zu geben. Wir haben im Asia Society Policy Institute während Monaten versucht, ein Bild über die Organisation der Belt-and-Road-Initiative zu erhalten. Doch es war unmöglich. Es gibt keine publizierten Projektkriterien, keine Entscheidungswege, keine Berechnungsgrundsätze. Wenn man alle Projekte zusammenzählt, die im Rahmen der BRI kommuniziert wurden, kommt man auf ein Investitionsvolumen von 1000 bis 3000 Milliarden Dollar in 72 Ländern. Alles völlig intransparent. Deshalb können wir auch nicht sagen, was die langfristigen Erfolgsaussichten sind. Zahlreiche Projekte werden scheitern, denn wären sie so lukrativ, wären sie längst von privaten Investoren finanziert worden. Aber: China streckt just zu dem Zeitpunkt seine Hände aus, da sich die USA isolieren. Angenommen, Sie wollten heute einen Tiefseehafen in Tansania bauen – würden Sie die US-Amerikaner um Hilfe bitten? Wohl kaum. Und die Chinesen? Wahrscheinlich schon.

Unter dem Banner der BRI finanziert China Infrastrukturprojekte in Ost- und Südosteuropa. In Westeuropa, besonders in Deutschland und der Schweiz, kaufen chinesische Staatskonzerne lokale Unternehmen. Was ist die Strategie dahinter?
Mit Infrastrukturinvestitionen bindet Peking einzelne Staaten der EU an sich. Bestes Beispiel ist Griechenland, das von China Kapital erhielt, während es von seinen EU-Partnern durch ein Austeritätsprogramm getrieben wurde. Die griechische Regierung bedankt sich, indem sie mit ihrem Veto in der EU Kritik an der Menschenrechtspraxis in China blockiert. Ähnlich agiert Peking in Südostasien: Kambodscha erhält Kapital aus China und blockiert im ASEAN-Staatenbund seither verlässlich eine koordinierte Verurteilung der chinesischen Territorialansprüche in der Südchinesischen See.

Und der Kauf von Unternehmen in Westeuropa?
Peking bewundert die deutsche Wirtschaft. Die Chinesen haben grossen Respekt für die Innovationskraft und die Wettbewerbsfähigkeit der Mittelklasseunternehmen in Deutschland. Auf dem zweiten Platz der Bewunderungsliste stehen die Schweiz und Schweden. Das sind aus chinesischer Sicht die perfekten Länder, um Technologie einzukaufen.

Die Schweiz errichtet keine Hürden für chinesische Käufer, die lokale Unternehmen erwerben wollen. Der Agrochemiekonzern Syngenta beispielsweise landete ohne Widerstand in den Händen der staatlichen ChemChina. Was halten Sie davon?
Es ist nicht meine Aufgabe, der Schweizer Regierung Ratschläge zu erteilen. Ich kann Ihnen bloss sagen, wie wir in Australien damit umgegangen sind, als chinesische Staatskonzerne ab etwa 2005 im grossen Stil lokale Firmen kaufen wollten. Schon seit 1976 haben wir ein Komitee, das bei angekündigten Grossübernahmen die nationalen strategischen Interessen prüft. Mehrmals habe ich als Premierminister Käufer aus China abgewiesen – was mir aus Peking den Vorwurf einbrachte, ich sei Rassist. Aber ich halte es für normal und legitim, dass ein Land seine strategischen wirtschaftlichen Interessen schützt. Es kann noch sehr lange dauern, bis China ausländischen Unternehmen ein gleichwertiges Gegenrecht einräumt.

Vor wenigen Tagen jährte sich das Ende des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal. In diesem Zusammenhang wurde auch von der «Thukydides-Falle» gesprochen; sie besagt, dass es in der Welthistorie oft zu grossen Kriegen kam, wenn eine aufstrebende Macht ihren Platz in der Weltordnung einnehmen wollte und dabei auf eine etablierte Grossmacht stiess. Der Harvard-Politologe Graham Allison warnt heute vor einer derartigen Konstellation mit China und den USA. Werden sich die beiden Grossmächte dereinst unweigerlich in einem Krieg messen?
Teile der Sicherheitsapparate in Washington wie auch in Peking scheinen diese These zu unterschreiben. Doch ich halte nichts von einer derart deterministischen Geschichtsschreibung. Der Gang der Welt wird nicht von Washington und Peking allein bestimmt. Deutschland, Frankreich, Japan, Kanada und Grossbritannien – sollten sich Letztere jemals von ihrer Brexit-Dummheit erholen – können ebenfalls Führungsrollen einnehmen und den Lauf der Geschichte beeinflussen. Nichts ist unvermeidlich.