Am Wegesrand

Zürich. Oder in der Nähe von überall

Von Daniel Graf, 24.11.2018

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Wer von irgendwo nach woanders auswandert, erzählt am liebsten vom Kulturschock. Dahinter will ich nicht zurückstehen, nur weil ich als Ex-Berliner und Neu-Zürcher keine Sprachbarriere überwinden muss. Zumindest keine große, Pardon: grosse.

Neulich also im Kreisbüro 7, gleich bei der Asylstrasse. Ich folge den Hinweisschildern in den ersten Stock, ziehe am Automaten meine Wartenummer und will mich in alter Berliner Gewohnheit gerade setzen, um so ein, zwei Bücher zu lesen, da – werde ich aufgerufen! Habe ich mich des unbefugten Knopfdrückens schuldig gemacht? Dafür sieht mich die Dame am Schalter zu freundlich an. Es stellt sich heraus, dass ich einfach dran bin. Geschätzte 0,7 Sekunden nachdem ich meine Nummer gezogen habe. Die doch eine Wartenummer ist.

Womöglich ist gebürtigen Eidgenossen die Ungeheuerlichkeit dieses Vorgangs nicht unmittelbar einsichtig, weshalb man halt doch wieder kurz über Berlin sprechen muss, jenen Ort, wo Menschen auf einen Termin im Bürgeramt länger warten als ein gesetzlich Versicherter auf einen Augenarzttermin. Den Ort, wo heiratswillige Paare vor dem Standesamt übernachten, weil sich das Zeitfenster zur Anmeldung für ihren Wunschtermin just an diesem einen Morgen öffnen und mit grösster Wahrscheinlichkeit auch wieder schliessen wird. Und falls Sie jetzt denken, das sei nun Berlin gegenüber doch ein bisschen ungerecht, missverstehen Sie das Berliner Herz, dem jede Dosis Behördenversagen immer auch eine Portion Erleichterung verschafft, weil Berlin nur echt ist, wenn nix funktioniert.

Ja, denke ich, das ist es!

Aber ich schweife ab, denn eigentlich sass ich doch als Nächstes im 31er-Bus und dachte darüber nach, dass ich soeben stolzer Besitzer eines Merkblatts zur Integration und des Zürcher Entsorgungskalenders 2018 geworden war. Da sah ich, was für ein Zufall!, ausgerechnet gleich an meinem ersten Zürcher Tag meinen alten Studienfreund Philipp im Bus. Was, wie sich herausstellte, gar nicht so zufällig war, denn auch er wohnt in Witikon, wo ich eine «Übergangsbleibe» gefunden hatte, ein Wort, das mich aus irgendeinem Grund an Berlin erinnert.

Am nächsten Tag dachte ich noch einmal über Zufälle nach, weil ich im 31er wieder auf Philipp stiess, aber das doch an einer ganz anderen Haltestelle und zu einer völlig anderen Uhrzeit. Allerdings konnte ich mich nicht länger mit dem Gedanken befassen, denn für meine neue Arbeit bei der Republik musste ich dringend ein Buch lesen, und auf den Ämtern hier kommt man ja zu nix. In dem Buch fragt dann Hans Magnus Enzensberger nach Zürich, und Ingeborg Bachmann antwortet: «Ich möchte gern von Zürich sprechen, aber es fällt mir nicht viel ein dazu. Es ist still, von sympathischer Öde.»

Das mit der Öde finde nun ich ein bisschen ungerecht und vermute, es hatte einfach damit zu tun, dass Bachmann mit Max Frisch zusammenlebte. Der Passus zu Zürich geht aber noch weiter, und die tiefe Weisheit von Bachmanns Sätzen ging mir erst auf, als ich tags drauf im 31er fuhr und zu meiner Erleichterung kein Schwein kannte: «Und mitten in Zürich wohne ich, es fühlt sich aber an wie in der Nähe von Zürich. In der Nähe von überall.» Ja, denke ich, das ist es! Man ist hier, im Grossen wie im Kleinsten, immer in der Nähe von überall, und es gibt vermutlich keinen zweiten Ort dieser Welt, der gleichzeitig so weltläufig und – sagen wir – übersichtlich ist.

Und dann: Der Naturschock

Es muss ein Schweizer gewesen sein, der den Begriff global village erfunden hat, aber das ist eine Unterstellung, die ich bislang nicht überprüft habe. Jedenfalls weiss ich mittlerweile, warum auf Zürcher Wohnungsportalen bei quasi allen Anzeigen als Lage «zentral» angegeben ist: weils stimmt. Berlin hat kein Zentrum, Zürich ist nur Zentrum. Und in der Zeit nach meiner Übergangsbleibe werde ich noch zentraler zentral sein, als Witikon schon zentral ist, weil man in 15 Minuten am Hauptbahnhof und in 25 am Flughafen ist und in einer Minute mitten im Wald. Und das ist vielleicht der grösste Kulturschock: dass es eigentlich ein Naturschock ist. Weil alles hier permanent beides ist, Kultur und Natur, während Berlin Letzteres an den Tiergarten delegiert oder an Brandenburg.

So ging ich also vors Haus und stand am Elefantenbach. Der heisst angeblich so wegen Hannibal und der Alpenüberquerung, aber Witiker Kinder würden sagen, das ist Quatsch, der heisst so, weil mitten im Bächli ein Steinelefant steht und sauberstes Züri-Wasser durch seinen Rüssel bläst. Aber dann war da, 200 Meter hinter dem Elefanten und maximal 3 Meter entfernt von mir, ein Fischreiher, ebenfalls steingrau und wunderschön und mit dem Blick straight Richtung Elefantenpo. Und als ich mich noch fragte, ob dieser Vogel nun Natur oder Kultur ist, senkte sich plötzlich der eben noch steinsteife Kopf ins Wasser, tauchte wieder auf mit einem Fischli im Schnabel, das er mir stolz präsentierte, bevor ers verschlang, dann spannte der Reiher die Flügel auf und flog davon.

Also ging auch ich, und zwar zur Haltestelle Schlyfi, damit da auch mal einer einsteigt, und nahm meinen 31er Richtung Central, wo dann doch tatsächlich unter den neu hinzukommenden Fahrgästen – aber jetzt muss ich schweigen und notlügen, sonst glaubt mir künftig keiner mehr. Und das wäre wirklich jammerschade, weil doch jetzt erst das Bekenntnis kommt: Zürich, du global city village am Elefantenbach, ich sing dir eine sympathische Ode! Und ich verwette meinen Ausländerausweis, dass das schon was werden wird mit uns.