Binswanger

Beihilfe zur Ethnisierung

Die USA werden von Identitätspolitik beherrscht – weil die politischen Eliten es so wollen. In der Schweiz zeichnen sich ähnliche Tendenzen ab.

Von Daniel Binswanger, 24.11.2018

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Für amerikanische Präsidenten sind die midterms die Stunde der politischen Abrechnung – und pünktlich zum Wahltermin ist auch eine wissenschaftliche Analyse erschienen, die umfassende Bilanz zieht zu Trumps Triumph im November 2016. Wohl zu Recht wird «Identity Crisis. The 2016 Presidential Campaign and the Battle for the Meaning of America» (Identitätskrise. Die Präsidentschaftskampagne von 2016 und die Schlacht darum, was Amerika bedeutet) der Politologen John Sides und Michael Tesler und der Politologin Lynn Vavreck als bisher bedeutendstes Werk über das Trump-Phänomen gefeiert. Es liefert eine stringente Analyse der komplexen sozialen Entwicklungen, welche die Trump-Präsidentschaft erst ermöglicht haben.

Doch das Buch kommt zu einem Fazit, das noch viel pessimistischer stimmt als die gesamtgesellschaftlichen Transformationen, die Voraussetzung für den rechtspopulistischen Durchmarsch waren und mit reichem Datenmaterial herausgearbeitet werden. Es zeigt auf, dass nebst dem gesellschaftlichen Wandel ein weiterer Faktor entscheidend ist: wie Politiker handeln. Verantwortungsträger sind nicht der Spielball der Geschichte, sondern haben Gestaltungsmacht. Und wer sich die heutige amerikanische Politik anschaut, muss mit der Wissenschaftlerin und den Wissenschaftlern leider den Schluss ziehen: Das ist keine gute Nachricht.

Wie der Titel anzeigt, ist das Verdikt der Analyse eindeutig. Entscheidend für die Präsidentschaftswahlen war die Identitätspolitik, insbesondere die Rassen- und die Migrationsfrage. Ökonomische Ungleichheit oder ökonomische Abstiegsängste fielen weniger ins Gewicht. Allerdings zeigen die Autoren auch, wie eng die Rassen- und die Klassenfrage miteinander verschränkt sind.

Der Kernbegriff ihrer Analyse lautet racialisation, buchstäblich mit «Verrassung» zu übersetzen – doch nehmen wir lieber zu «Ethnisierung» Zuflucht. Die Ethnisierung der amerikanischen Politik erfolgte in schwindelerregendem Tempo. Nach Umfragen des Pew Research Center bezeichneten sich noch im Jahr 2007 weisse Amerikaner exakt so häufig als Demokraten wie als Republikaner. Bereits im Jahr 2010 betrug der Unterschied zwischen Weissen, die sich als Republikaner bezeichneten, und Weissen, die sich als Demokraten ausgaben, jedoch 12 Prozent. Die Verschiebung ging vollständig auf das Konto von Befragten ohne College-Abschluss.

Von 1992 bis noch 2008 waren allerdings auch die Stimmen der niedrig qualifizierten weissen Wählerschaft zu gleichen Teilen auf Demokraten und Republikaner verteilt. 2015 betrug der Unterschied zugunsten der Republikaner jedoch bereits sagenhafte 24 Prozent. Bei der weissen Wählerschaft mit College-Abschluss haben die Demokraten im selben Zeitraum leicht zugelegt.

Niedrige Qualifikation korreliert mit niedrigem Einkommen. Es läge deshalb die Hypothese nahe, dass nicht das Erstarken rassistischer Reflexe, sondern wirtschaftliche Gründe verantwortlich sind für diese Verschiebung. Weisse Amerikanerinnen ohne College-Abschluss, die für rassistische Vorurteile nicht empfänglich sind, wählen jedoch mehrheitlich demokratisch. Wähler hingegen, die zum Beispiel überzeugt sind, dass Schwarze nicht hart arbeiten können, wählen grossmehrheitlich republikanisch. Die Haltung gegenüber der Rassenfrage, nicht die ökonomische Situation des Betroffenen, ist der aussagekräftige Indikator für das Wahlverhalten.

Gleichzeitig lässt sich eine Ethnisierung der Abstiegsängste feststellen. Die Identitätspolitik wird so mächtig, dass es zu Spill-over-Effekten kommt. Weisse Amerikaner, die rassistischen Vorurteilen zuneigen, haben generell unter Obama die Wirtschaftsentwicklung viel pessimistischer eingeschätzt als ihre Mitbürger. Die Autoren sprechen von einer «Ethnisierung der Wirtschaftslage».

Wie erklärt sich die zunehmende Dominanz der Identitätspolitik? Ein erster Grund liegt darin, wer Obama ist: Der erste schwarze Präsident rückte nicht nur die Rassenfrage ins Bewusstsein, er liess auch die demokratische zur Partei der ethnischen Minderheiten, die republikanische im Gegenzug zur Partei der Weissen werden. Ein zweiter Grund liegt jedoch darin, wie Trump handelt: Er hat die Identitätspolitik von Anfang an zum fast ausschliesslichen Kern seiner politischen Botschaft gemacht, ganz entgegen den Gepflogenheiten des republikanischen Establishments. Und er kann damit mächtige politische Affekte aktivieren – Affekte, die mächtig genug waren, alle seine Rivalen zu neutralisieren.

Sides, Tesler und Vavreck insistieren dabei stark auf dem Begriff «aktivieren». Ihre Daten zeigen, dass die rassistischen Reflexe, die Angst vor dem Islam und die Ablehnung der Migration in der Bevölkerung nicht plötzlich angeschwollen sind, sodass Trump auf ihrer Welle ins Weisse Haus hätte surfen können. Diese Affekte bilden keine Welle, sondern ein Reservoir. Sie waren schon seit langen Jahren in etwa gleicher Stärke vorhanden, haben teilweise sogar abgenommen. Aber Trump hat das Reservoir mit einer Konsequenz angezapft wie vor ihm kein anderer Präsidentschaftskandidat in der amerikanischen Geschichte.

Wenn die USA heute von Identitätspolitik immer heftiger dominiert werden, dann ganz einfach deshalb, weil Trump die Identitätspolitik zu seinem Hauptkampfmittel erhoben hat. Dass der Präsident rassistisch redet, macht das Land rassistisch. Dass die Demokraten fast zwangsweise die Gegenposition einnehmen und zur Partei einer Minderheitenkoalition werden, verstärkt den Effekt.

Auch im Midterm-Wahlkampf hat die identitätspolitische Agenda die Debatte nun weitgehend beherrscht. Trumps ganze Wahlpropaganda war um die sogenannte «Karawane» konstruiert, eine Gruppe von vornehmlich honduranischen Flüchtlingen, die sich zu Fuss der amerikanischen Grenze durch Mexiko nähern. Der Präsident stellte während des Wahlkampfs mit grossem Spektakel 6000 Soldaten zur «Grenzsicherung» ab – obwohl der Migrantenzug noch Hunderte Kilometer von der Grenze entfernt war. Natürlich war das reiner Bullshit. Aber um Realitätsbezug hat sich Trump nie gekümmert. Wichtig ist, on message zu bleiben. Es geht ausschliesslich um «ethnisierte» Symbolpolitik.

Und hier lässt sich wieder einmal feststellen, wie weit die globale Strahlkraft der trumpschen Methoden geht. Denn auch in Europa haben wir es ja gerade mit einer rein symbolischen Karawane von bedrohlichen Flüchtlingen zu tun. Sie zierte zum Beispiel am letzten Mittwoch die Titelseite von «20 Minuten» – als Bild der braunen Horden, die in die Schweiz einfallen sollen, wenn wir den Migrationspakt unterzeichnen.

Natürlich geht es auch hier um Symbolpolitik ohne jeden Realitätsbezug – und um Abstimmungspropaganda. Aber erschütternderweise hat sich nun selbst die FDP den Nonsens von der Gefährlichkeit des Migrationspaktes auf die Fahnen geschrieben.

Natürlich geht es der Partei ausschliesslich darum, ihre rechte Flanke zu decken: Sie will die über 30 Prozent ihrer Sympathisanten, die für die Selbstbestimmungsinitiative stimmen, im nächsten Herbst nicht an die SVP verlieren. Also muss irgendwie der Beweis erbracht werden, dass auch der Freisinn die «Karawanen» an der Schweizer Grenze zu stoppen gewillt ist. Egal, wie. Egal, wenn man dadurch die Schweizer Diplomatie und den eigenen Bundesrat desavouiert. Egal, hinter welchen Bullshit-Argumenten man sich verstecken muss. In der Geschichte des Schweizer Freisinns dürfte so krasse Beihilfe zur Fake-News-Beglaubigung ohne Beispiel sein.

Die Parteistrategen, die sich solches ausdenken, meinen sicher, das Richtige zu tun. Man muss schliesslich auf die Ängste der Bevölkerung Rücksicht nehmen. Politik muss die Impulse der gesellschaftlichen Entwicklung schliesslich aufnehmen.

Doch «Identity Crisis» hat es wieder eindrücklich vorgeführt: Politiker können sich hinter der Bevölkerung nicht verstecken. Es macht einen Unterschied, wenn sie Nonsens erzählen. Es macht einen Unterschied, wenn sie Rassismus beglaubigen. So leid es uns tut: Politiker haben Gestaltungsmacht. Es kommt, wie das amerikanische Exempel gerade wieder demonstriert, wirklich darauf an, wie das Führungspersonal handelt. Leider.

Mit ihrer unsäglichen Aktion erreicht die FDP nichts anderes, als dass sie das populistische Framing der Migrationsdebatte unterstützt. Wird sie damit sich selber oder der rechtsbürgerlichen Rivalin nützen? Die Stunde der politischen Abrechnung ist in der Schweiz im nächsten Herbst.

Illustration: Alex Solman

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