Briefing aus Bern

Ein kontroverser Pakt, das Frauenticket – und die sorglose Schweiz

Das Wichtigste in Kürze aus dem Bundeshaus (34).

Von Urs Bruderer und Carlos Hanimann, 22.11.2018

Wären politische Probleme Raubtiere, sähe man sie kommen. Denn der menschliche Sehapparat erzeugt zwar nur in der Mitte ein richtig scharfes Bild, aber die Empfindlichkeit für Bewegungen ist auch an den Rändern hoch. Und vom Rand, von rechts aussen, kommt der Angriff auf den Migrationspakt, der jetzt einen ersten Erfolg feiert.

Der Bundesrat hat entschieden, nicht teilzunehmen an der Uno-Konferenz, die den Pakt am 10. Dezember in Marrakesch feierlich annehmen wird. Ob die Schweiz dem Pakt später beitreten wird, ist offen. Der Bundesrat will die parlamentarische Debatte abwarten.

Es waren Rechtsextreme in Deutschland und Österreich, die zuerst gegen den Uno-Pakt schossen. Und zwar mit Lügen, wie die deutsche Kanzlerin Angela Merkel kürzlich sagte. Der Pakt überlässt es den Ländern, ob und wie viele Ausländer sie aufnehmen, und er fördert die Migration nicht, sondern behandelt sie als Tatsache. Auf eine Formel gebracht, sagt er: Migranten sind auch Menschen mit einem Anspruch auf Menschenrechte.

Die SVP hat die rechtsextremen Lügen in die Schweiz importiert und verbreitet sie, herabgekühlt auf das hierzulande übliche rhetorische Mass bei politischer Hetze. Bundesrat Ignazio Cassis aber reagiert nicht auf den Druck der SVP, sondern auf den aus den eigenen Reihen.

FDP-Politiker, allen voran die Zürcher Nationalrätin Doris Fiala, hielten das Thema für schwierig. Sie hätten Kante zeigen sollen. Man sollte den Pakt loben und erklären, warum er im Interesse der Schweiz ist. Stattdessen wird er faktenfrei zerredet, und das Unbehagen gegenüber Menschenrechten und der Uno wächst. Und mit ihm der Nährboden der SVP.

Und damit zum Briefing aus Bern.

Ein Frauenticket der CVP

Was geschah: Das galt als ziemlich unwahrscheinlich. Doch die CVP-Fraktion hat Heidi Z’graggen und Viola Amherd als Bundesratskandidatinnen nominiert. Nur die beiden. Seither kursieren Fragen und Erklärungen. Warum nicht auch Peter Hegglin? Ist der mutmassliche Lieblingskandidat der SVP und von CVP-Präsident Gerhard Pfister daran gescheitert, dass die Partei ein Jahr vor den Wahlen keine Wählerinnen verärgern will? Und warum Z’graggen? War der rechte Flügel der CVP für sie, weil sie angeblich rechter tickt als die angeblich eher linke Amherd? Oder haben die Amherd-Anhänger Z’graggen aufs Ticket gehievt, weil die Aussenseiterin ihrer Favoritin am wenigsten gefährlich werden kann?

Wie es weitergeht: Mit Gesprächen, Geflüster und Gerüchten. Z’graggen will in Bern ein Hotelzimmer beziehen und in den knapp zwei Wochen bis zur Wahl Lobbying in eigener Sache betreiben. Amherd, nach dreizehn Jahren als Nationalrätin bestens bekannt in Bern, kann auf diskretere Weise am Rückhalt im Parlament arbeiten. Beide stellen sich Hearings (wie man das heute auch in der Schweiz nennt) und lassen sich hinter verschlossenen Türen von den Parteien verhören. Als Vertreterinnen der Mittepartei CVP werden beide um ein Profil ringen und zugleich Ecken und Kanten vermeiden.

Ist das wirklich wichtig? Ja, weil eine der beiden Frauen sehr wahrscheinlich in die Regierung einzieht. Ja, weil die Bundesräte aus der politischen Mitte besonders wichtig sind für das Funktionieren des Kollektivs. Und nein, weil niemand, nicht einmal Z’graggen oder Amherd selber, vorhersagen kann, wie sie sich in der Regierung entwickeln würden. Der Bundesrat ist ein echtes Abenteuer: einer der wenigen Orte, wo man hineingeht und nicht weiss, wie man herauskommt.


Ex-Fifa-Ermittler Borbély verlässt Aufsichtsbehörde

Das müssen Sie wissen: Der Zürcher Anwalt Cornel Borbély verlässt die Aufsichtsbehörde über die Bundesanwaltschaft (AB-BA), weil er sich zuletzt fast dauernd im Ausstand befand. In den vergangenen Wochen musste sich die Aufsichtsbehörde zunehmend mit dem Weltfussballverband Fifa beschäftigen. Borbély war bis 2017 Ermittler der Fifa-Ethikkommission gewesen.

Das ist passiert: Cornel Borbély wurde erst im März 2018 vom Parlament in die Aufsichtsbehörde gewählt. Die Parlamentarier ahnten damals nicht, dass der Fifa-Komplex der Bundesanwaltschaft eine derart «dominierende Stellung» einnehmen würde. Die Bundesanwaltschaft führt seit einigen Jahren ein Verfahren wegen Korruption in der Fifa, das die Aufsichtsbehörde AB-BA ohnehin beschäftigt. In jüngster Zeit kamen neue Enthüllungen dazu, die die Aufseher ebenfalls beschäftigen dürften: ein heikles Treffen zwischen Bundesanwalt Michael Lauber und Fifa-Präsident Gianni Infantino und der Abgang mit Nebengeräuschen des Chefermittlers des Fifa-Verfahrens aus der Bundesanwaltschaft.

So geht es weiter: Das Parlament wird einen Nachfolger für Borbély suchen müssen. Der Aufsicht über die Bundesanwaltschaft steht in nächster Zeit ohnehin ein weiterer Wechsel bevor: Der Bundesrichter Niklaus Oberholzer gibt sein Amt als Präsident Ende Jahr ab und scheidet damit aus der Behörde aus. Seinen Sitz in der AB-BA übernimmt die Bundesrichterin Alexia Heine. Kontinuität soll hingegen eine Ebene tiefer herrschen, an der Spitze der Bundesanwaltschaft: Lauber gab gestern bekannt, sich im kommenden Jahr für vier weitere Jahre zur Wahl stellen zu wollen.


Zahl der Woche: Sorglose Schweiz

72 Prozent aller Haushalte in der Schweiz haben keinen Notvorrat. Das ergab eine Umfrage der landwirtschaftlichen Forschungsstelle des Bundes Agroscope. Wären die Läden plötzlich geschlossen und fiele der Strom aus, gäbe es in den meisten Haushalten vor dem Ablauf von sieben Tagen nichts mehr zu essen. So lange aber sollte ein Notvorrat an Wasser und Lebensmitteln reichen, empfiehlt der Bund. Wenn Schweizerinnen und Schweizer doch Vorräte anlegen, dann erstens, weil sie nicht jeden Tag einkaufen wollen, zweitens, um von Aktionen zu profitieren, und drittens, um spontane Besucher bewirten zu können. Glückliches Land. Die Angst vor einer Versorgungskrise wird in der Umfrage als letzter Grund für einen Vorrat genannt.

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