Minarett der Verzweiflung
Von Urs Bruderer, 20.11.2018
Arme SVP.
Da reisst sich die Partei so richtig am Riemen und macht die leiseste Kampagne seit Jahrzehnten – brav wie ein frisch gewaschenes, gebügeltes und zusammengelegtes Abtröchnitüechli.
Da frisst die SVP Kreide und umarmt sogar die Menschenrechte. Vergessen die Aussagen, dass die Schweiz die Menschenrechtskonvention kündigen sollte oder könnte. Das will man nie, wollte man nie, wird nie passieren.
Da verzichtet die Partei auf Politmarketing und ihr Logo auf den Plakaten: Diesmal soll es nur um die hohe, heilige Sache gehen. Hält monatelang durch, als lauteste Partei der Schweiz. Verklemmt sich jede Provokation und vertraut ganz auf das ruhige Gesicht einer gepflegten jungen Frau, die auf allen Plakatwänden Ja sagt zur direkten Demokratie. Zur Selbstbestimmung.
Und dann platzt, wie ein gigantischer Pickel auf der Stirn der jungen Frau, dieses Inserat in die Kampagne: geschaltet vom Egerkinger Komitee um die SVP-Nationalräte Walter Wobmann und Andreas Glarner, platziert auf der Front und der Seite 2 der Gratiszeitung «20 Minuten» vom 20. November. Auflage in der Deutschen Schweiz: 436'000.
Darauf ragt ein weisses Minarett in den blauen Himmel. Daneben steht: «Sollen türkische Richter unser Minarettverbot aushebeln können? Wer das nicht will, sagt Ja zur Selbstbestimmungsinitiative!»
Woher das Geld für das Inserat kommt, will Komitee-Geschäftsführer und Ex-SVP-Nationalrat Ulrich Schlüer auf Anfrage nicht sagen. Mit der Parteileitung oder den Kampagnenchefs sei das Inserat nicht abgesprochen worden: «Wir müssen niemanden um Erlaubnis fragen, wir sind selbstbestimmt.»
Gefragt haben sie auch niemanden, wieviele türkische Richter es am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gibt.
(Der EGMR würde ein Minarettverbot wegen der Religionsfreiheit vielleicht für unzulässig erklären, vielleicht aber auch nicht; er klärt die Frage erst, falls eines Tages jemand ein Minarett bauen wollte und daran gehindert würde. Jedes Land schickt einen Richter nach Strassburg. Mehr als eine türkische Richterin kann es also nicht geben. Entscheide werden von sieben Richtern gefällt. Wenn es um die Schweiz geht, ist die Schweizer Richterin immer dabei; die türkische Richterin aber nur vielleicht, und als eine von sieben.)
Arme SVP.
Die Maske der Biederkeit sass ihr nicht besonders gut. Die Bekenntnisse zu den Menschenrechten wirkten aufgesetzt. Aber sie strengte sich an. Und jetzt, nach Monaten des Zusammenraufens, reisst das Egerkinger Komitee der Partei die Maske vom Gesicht.
PS: Der Verlag Tamedia nimmt mit dem Inserat gemäss Preisliste (ohne Rabatte) 164'500 Franken ein. Und das Egerkinger Komitee hat die Front von «20 Minuten» auch schon für den Folgetag gekauft, wie die Gratiszeitung selber berichtet. Um gegen den Migrationspakt und Bundesrätin Sommaruga zu hetzen.
PPS: Der Schweizer Presserat hält es für zwingend, dass Verlagshäuser an politische Werbung ethische Kriterien anlegen. «20 Minuten»-Geschäftsführer Marcel Kohler hält es offenbar für zwingend, solche Inserate zu bringen: «Es wäre unzulässig und höchst undemokratisch, wenn 20 Minuten in politischen Debatten Position beziehen würde, indem gewisse Meinungen nicht zugelassen würden», lässt er sich von seinem Blatt zitieren.
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version schrieben wir, dass es derzeit keinen türkischen Richter gebe am EGMR. Das ist falsch. Die Amtszeit der türkischen Richterin ist zwar vergangenes Jahr abgelaufen. Da die von der Regierung Erdogan vorgeschlagenen Nachfolger aber nicht gewählt wurden, bleibt sie vorderhand im Amt. Wir bedauern diesen Fehler.