Auf lange Sicht

Grossbritannien stellt sich selbst ein Bein

Was der Brexit für die britische Wirtschaft bedeutet und welche Optionen der Premierministerin Theresa May noch bleiben: ein politisch-ökonomisches Erklärstück in drei Charts.

Von Mark Dittli, 19.11.2018

Es gibt wenige Situationen in der hohen Politik, in denen der englische Begriff cock-up angebracht ist. Der Brexit ist eine davon.

Knapp zweieinhalb Jahre nach dem Referendum, an dem 51,9 Prozent für den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union gestimmt haben, demontiert sich dieser Tage die regierende Konservative Partei in der Frage der Austrittsformalitäten.

Vergangene Woche, am 14. November, präsentierte Premierministerin Theresa May endlich den mit der EU ausgehandelten Deal: In einer fünfstündigen Sitzung brachte sie ihr Kabinett dazu, den 585 Seiten starken Scheidungsvertrag abzusegnen.

Stark verkürzt umfasst das Werk für die Zeit nach dem formellen Austritt des Vereinigten Königreichs (UK) aus der EU am 29. März 2019 folgende Eckwerte:

  • UK bleibt Teil einer provisorischen Zollunion mit der EU, wodurch das Problem einer harten EU-Aussengrenze zwischen Nordirland und der Republik Irland entschärft werden konnte.

  • Konsequenz davon ist, dass UK mindestens bis 2021 keine eigenen Freihandelsverträge abschliessen kann.

  • UK erhält die Kontrolle über den Personenverkehr zurück, muss aber möglicherweise Privilegien für EU-Bürger einräumen.

  • Der Europäische Gerichtshof behält die Deutungshoheit über die Fragen, die das Binnenmarkt-Verhältnis zwischen UK und der EU betreffen.

  • UK bezahlt der EU eine Scheidungsabgeltung von rund 40 Milliarden Pfund.

Noch verkürzter gesagt: UK bezahlt 40 Milliarden Pfund, erhält aber in den meisten Themengebieten – ausser teilweise im Personenverkehr – keine echte Souveränität zurück.

Das ist die Konsequenz davon, dass es sich Westminster nicht leisten konnte, auf die wirtschaftlichen Privilegien des Binnenmarkts zu verzichten. Besonders die Perspektive einer harten Grenze in Irland war für May ein zu grosses Risiko.

Die Quittung erhielt die Premierministerin vergangenen Donnerstag in Form eines dreistündigen Spektakels im Unterhaus: Aus den Reihen ihrer eigenen Partei wie auch von der Opposition erntete May lautstarke Kritik. Der Brexit-Minister der Regierung, Dominic Raab, trat aus Protest gegen den Deal zurück – den er notabene massgebend selbst ausgehandelt hatte.

Was nun?

May muss mit ihrem Deal in den kommenden Wochen drei Hürden überwinden:

  1. Ein mögliches Misstrauensvotum innerhalb der konservativen Tory-Partei

  2. Die formelle Verabschiedung des Scheidungsvertrags von allen EU-Mitgliedsstaaten Ende November

  3. Die Ratifizierung im britischen Parlament Mitte Dezember

Der Verlauf der Ereignisse in den nächsten Wochen ist pfadabhängig, mit vielen offenen Fragen. Spielen wir die Szenarien im Folgenden einmal durch.

Misstrauensvotum aus der eigenen Partei?

Der konservative backbencher Jacob Rees-Mogg stellte am vergangenen Freitag die Lancierung eines Misstrauensvotums gegen May in Aussicht. Voraussetzung dafür ist, dass mindestens 48 der 316 Tory-Parlamentarier ihren Wunsch nach einem Misstrauensvotum schriftlich ausdrücken. Das könnte schon im Lauf dieser Woche der Fall sein.

Sollte May verlieren, dann müsste sie den Parteivorsitz abtreten. Danach würde die Partei in zwei Abstimmungsrunden ihre neue Führerfigur wählen, die dann das Amt des Premierministers übernehmen würde.

Sollte May hingegen gewinnen, dann könnte sie künftig aus einer deutlich gestärkten Position politisieren. Die erste Hürde wäre genommen.

Weitere Forderungen von EU-Ländern?

Am 25. November treffen sich dann die Staats- und Regierungschefs der 27 EU-Länder – inklusive May, sofern sie die Woche politisch überlebt –, um den Brexit-Deal zu unterzeichnen. Dies bestätigte EU-Ratspräsident Donald Tusk am Donnerstag.

Bis dahin wird der Deal in den Hauptstädten der EU-Mitgliedsländer diskutiert, und es ist gut möglich, dass einzelne Staaten noch Anpassungen am Vertragswerk einfordern werden.

Sollte der Deal auch diese Hürde schaffen, folgt die nächste, grösste Prüfung: die Ratifizierung im Parlament des Vereinigten Königreichs. Diese Abstimmung wird voraussichtlich Mitte Dezember stattfinden. Der Ausgang ist offen, doch aus aktueller Perspektive ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Vertrag abgelehnt wird.

Doch noch ein zweites Referendum?

Sollte der Deal im Parlament angenommen werden, steht dem Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU am 29. März 2019 nichts mehr im Weg. Der «Soft Brexit» ist dann Tatsache.

Sollte er im Parlament jedoch abgelehnt werden, sind wieder verschiedene Szenarien möglich:

  1. Innerhalb von 21 Tagen könnte die Regierung im Parlament eine abermalige Abstimmung durchsetzen – freilich mit geringer Wahrscheinlichkeit eines anderen Resultats.

  2. Westminster könnte in Brüssel um eine Neuverhandlung einzelner Punkte bitten. Die EU-Kommission hätte dann die Option, auf die Bitte einzugehen oder sie abzulehnen.

  3. Die britische Regierung könnte den Weg des «harten Brexit» wählen, also einen chaotischen Austritt aus der EU per 29. März 2019 ohne formellen Austrittsvertrag.

  4. Die Regierung könnte ein zweites Referendum ansetzen und die Bürgerinnen des Vereinigten Königreichs abermals fragen, ob sie wirklich einen Austritt aus der EU wollen.

Wir wollen an dieser Stelle nicht spekulieren, welchen Pfad die Entwicklung nehmen wird. Sicher ist nur eines: Die Ungewissheit ist gross.

Wie die Wirtschaft damit umgeht

Zunächst die gute Nachricht: Grossbritanniens Wirtschaft hat sich in den gut 28 Monaten seit dem Brexit-Referendum passabel entwickelt. Eine Rezession ist ausgeblieben. Blickt man auf die offiziell ausgewiesene Arbeitslosenquote, scheint alles in Ordnung zu sein:

Weniger Arbeitslose in allen Ländern

Arbeitslosigkeit im Monatsmittel

20082011201520189,2 % Frankreich3,4 % Deutschland4,0 % Grossbritannien4,5 % G-70,07,515,0 %

Quelle: OECD

Mit 4 Prozent liegt die Arbeitslosigkeit in UK sogar leicht unter dem Durchschnitt der G-7-Staaten (USA, Japan, Deutschland, Frankreich, Italien, Kanada, UK). Aber Achtung: Die Arbeitslosigkeit ist ein nachlaufender Konjunkturindikator, das heisst, sie gibt kein gutes Bild über den aktuellen Zustand der Wirtschaft ab.

Mehr Besorgnis erregt ein Blick auf das Wirtschaftswachstum. Dieses ist auf der folgenden Grafik abgebildet.

Die blaue Kurve zeigt das jeweils quartalsweise festgestellte Wachstum des britischen Bruttoinlandprodukts (BIP), in Prozent zur Vorjahresperiode. Die graue Fläche zeigt das BIP-Wachstum der anderen sechs G-7-Staaten: die obere Grenze wird vom Land mit dem stärksten Wachstum definiert, am unteren Ende der Fläche steht die Entwicklung des schwächsten Landes.

Seit dem Brexit lässt die Wachstumsdynamik nach

Wirtschaftswachstum von Grossbritannien und den G-7-Staaten, in Prozent

Grossbritannien und Spannweite in den G-7-Staaten
2008201020122014201620181,2 %−505 %

Quelle: St. Louis Fed. Wachstumsraten gegenüber dem Vorjahresquartal.

Uns interessieren an dieser Stelle nicht die Details der anderen G-7-Staaten, sondern die Frage, wie sich UK in dieser Vergleichsgruppe bewegt.

  • Eindrücklich zu erkennen ist der Einbruch während der Wirtschaftskrise von 2008 und 2009. UK war davon stark betroffen, da das Land einen grossen Finanzsektor besitzt und eine geplatzte Immobilienblase zu verdauen hatte.

  • Wichtig ist nun aber die Entwicklung nach der Krise: Ab etwa 2012 bewegte sich UK konstant am oberen Ende der Wachstumsbandbreite, die britische Wirtschaft expandierte also schneller als die anderen G-7-Staaten.

  • Dann folgt ein Bruch: Ab etwa Mitte 2016, also zum Zeitpunkt des Brexit-Referendums, lässt die Wachstumsdynamik in UK wieder nach, die anderen G-7-Staaten ziehen vorbei. Aktuell bringt es die britische Wirtschaft gerade noch auf 1,2 Prozent Wachstum. Zusammen mit Italien bildet sie damit das Schlusslicht in den G-7-Staaten.

Und dies, obwohl die britische Wirtschaft im Gegensatz zu Italien sogar noch vom Rückenwind einer Währungsabwertung profitierte. Zum Zeitpunkt des Brexit-Referendums kostete ein Pfund rund 1.30 Euro. Heute sind es noch 1.14 Euro, was einer Abwertung von fast 13 Prozent entspricht.

Sterling verlor mit dem Brexit an Wert

Wechselkurs von Pfund Sterling zum Euro

Achse gekürzt20162017201720181,141,01,21,4 Pfund pro EuroKurs beim Brexit: 1,30

Quelle: Bank of England. Kurse im Wochenmittel.

Die Daten

Die für die drei Grafiken in diesem Beitrag verwendeten Daten stammen aus unterschiedlichen Quellen. Für die Grafik der Arbeitslosenraten haben wir die Datenbank der OECD verwendet. Die BIP-Wachstumsraten stammen aus der überaus benutzerfreundlichen FRED-Datenbank der Federal Reserve Bank of St. Louis. Die Wechselkursgrafik Pfund–Euro schliesslich stammt aus dem Statistikangebot der Bank of England.

Eine Abwertung des Wechselkurses kurbelt unter normalen Umständen die heimische Wirtschaft an – und trotzdem kommt das Vereinigte Königreich gegenwärtig nicht mehr auf höhere Wachstumsraten als Italien.

Das ist ein starkes Zeichen dafür, dass sich UK – zumindest wirtschaftlich betrachtet – mit dem Brexit-Beschluss selbst ein Bein gestellt hat.

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