Küss mich an meinen Geschlechtern!

Die Kulturkämpfe um Gender und sexuelle Emanzipation gehen quer durch die Popmusik der Gegenwart. Dass queere Künstler*innen dabei sind, im Mainstream anzukommen, ist deshalb der vielleicht kraftvollste Beat dieser Tage.

Von Jens Balzer, 17.11.2018

Die sexuelle Pop-Avantgarde des Jahres 2018: Planningtorock. Goodyn Green

«Baby, ich bin so erregt, komm lass uns ins Schlafzimmer gehen, baby, I want you to know / that I feel transome, ich will, dass du weisst, dass ich mich ganz transmässig fühle, und wenn wir im Schlafzimmer sind, küsst du mich an meinen Geschlechtern, baby, you touch me right / kissing my genders / in our bedroom light»: So lockt Planningtorock im Liebeslied «Transome». Und unter «you» darf und soll man sich auch mehrere Personen vorstellen, mit unterschiedlichen Geschlechtsidentitäten.

Ein «Transome» ist in der Fachsprache des Sexualvergnügens eine flotte Kopulationskonstellation mit mindestens drei Personen, von denen höchstens zwei heterosexuell sein dürfen. In diesem Zusammenhang liesse sich sagen: Je mehr Leute beteiligt sind, desto besser. Denn wenn Planningtorock darum bittet, an den Geschlechtern geküsst zu werden – eben jenen genders im abstrakten und zugleich handfesten Sinn –, dann haben die Kusspartner*innen einiges zu tun; Planningtorock wechselt die Geschlechter unaufhörlich, es handelt sich dabei um die Verkörperung einer endlosen sexuellen Metamorphose, eines polymorph perversen Begehrens. Als sprachliche Konsequenz aus einer Geschlechtsidentität, die sich nicht in eine binäre Logik zwingen lässt, schlägt Planningtorock für sich das Pronomen «sier» vor: eben nicht «sie», nicht «er», sondern eine dritte Kategorie. Bei Konzerten pflegt sier mit einer wulstigen Stirnapplikation mit einem Nasenhöcker auf die Bühne zu kommen, was an einen Transgender-Klingonen erinnert.

Hinweis: sie – er – sier

In der ursprünglichen Fassung war dieser Text mit herkömmlichen binären Pronomen formuliert. Wir haben in dieser überarbeiteten Fassung versucht, die sprachliche Konsequenz aus dem zu ziehen, wovon inhaltlich die Rede ist.

«Transome» ist die erste Single aus dem neuen Album von Planningtorock, «Powerhouse», das vorige Woche erschienen ist. Es handelt sich um einen lasziven R’n’B-Song mit einem leicht klickernden Beat und einer untergründigen Spannung, die auf künftige Erregungszustände verweist; man spürt, wie etwas pulsiert und schwillt. Dazu singt Planningtorock mit einer Stimme, von der sich wiederum nicht sagen lässt, ob sie einem Mann gehört, einer Frau, einem Transgender-Wesen oder vielleicht auch einer Maschine, der alles Menschliche gleichermassen fremd und befremdlich erscheint, einschliesslich der menschlichen Sexualität und ihrer überkommenen Klassifizierungen. Der Gesang von Planningtorock ist ein Maschinengesang, die «natürliche» Stimme ist durchweg elektronisch manipuliert mit Instrumenten wie Auto-Tune und Pitch-Shifter; sie wird in den Tonhöhen verändert und begradigt und aufgeraut, bis sie sich keiner vertrauten menschlichen Erscheinungsform mehr zuordnen lässt. So klingt die sexuelle Pop-Avantgarde des Jahres 2018.

Soundtrack zum Artikel

Die Playlist auf Spotify.

Planningtorock wurde 1971 in der Nähe von Manchester geboren und bekam den Namen Janine Rostron. Seit Anfang der Nullerjahre lebt sier in Berlin, seit Anfang der Zehnerjahre möchte sier nicht mehr als Frau angesprochen werden und hat darum auch den Vornamen in das neutrale Jam abgeändert. Die maschinelle Androgynisierung, die Planningtorocks Ästhetik heute bestimmt, findet sich erstmals auf ihrem 2014er-Album «All Love’s Legal». Darauf singt Planningtorock zu durchweg tanzbaren Disco- und House-Beats energische Selbstermächtigungshymnen, die zum Beispiel «Patriarchy Over & Out» heissen oder auch «Misogyny Drop Dead» und «Let’s Talk About Gender Baby». Dieser Entschiedenheit in der Botschaft steht eine kunstvoll kalkulierte Unentscheidbarkeit in der Performance entgegen. Indem die eigene Stimme sexuell unbestimmbar wird, will Planningtorock sich als Person «im Fluss» identifizieren: «Trying to find the words to explain my sexuality / It’s liquid, it’s living, a moving love defined by itself», heisst es im Stück «Human Drama»: «There’s no rules, no convention / This love can go where ever it wants».

Rechte Hetze gegen den «Genderwahn»

Die Liebe geht dorthin, wo sie hingehen möchte; für die Liebe gibt es keine Regeln und Konventionen. Kein Mensch darf einem anderen Menschen vorschreiben, wen er oder sie lieben darf und wen nicht. Das ist eigentlich so simpel und selbstverständlich. Aber wie vieles, was uns bereits selbstverständlich erschien, werden auch die einfachsten Errungenschaften der Emanzipation heute wieder infrage gestellt, gerade auch die der sexuellen Emanzipation.

Die Neue Rechte hetzt gegen den «Genderwahn»; auch scheinbar liberale Feuilletonisten finden neuerdings, dass dem Kampf gegen sexuelle Diskriminierung zu viel Aufmerksamkeit geschenkt werde; die Zahl der homophoben Gewalttaten steigt. So wirkt ein Lied wie «Transome», das vor ein paar Jahren bloss als zarte Liebesbekundung wahrgenommen worden wäre, plötzlich wieder wie ein Manifest: weil die darin beschriebene Form der Erotik nicht mehr zuerst als Erotik wahrgenommen wird. Sondern als Bekundung des Andersseins, der Abweichung von der gesellschaftlichen Normalität. Und weil das Recht, in «abweichenden» Zuständen zu leben, wieder verteidigt werden muss gegen eine grösser und lauter werdende Zahl an Menschen, die alles «andere» verachten und ausmerzen wollen.

So, wie die sexuelle Emanzipation wieder ins Schlaglicht des kulturkämpferischen Ernstfalls geraten ist, so ist sie als politisches Thema auch ins Zentrum der Popmusik zurückgekehrt. Eine Vielzahl an Künstlerinnen und Künstlern hat sich im jetzt zu Ende gehenden Jahr mit dem Zustand der sexuellen Verhältnisse befasst: Der schwule Schmerzensmann John Grant besingt auf seinem neuen Album «Love Is Magic» die Rückkehr von Sexismus und Homophobie in sarkastisch-absurden Liedern. Und der New Yorker R’n’B-Sänger Dev Hynes alias Blood Orange klagt auf seiner grossartigen LP «Negro Swan» um die Opfer des Massakers in Orlando, wo in einem queeren Nachtclub vor zwei Jahren 49 Menschen erschossen wurden.

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Blood Orange - Saint (Official Video)

«Powerhouse» von Planningtorock ist in dieser Reihe vielleicht die interessanteste Platte; jedenfalls ist sie ästhetisch und politisch besonders ambitioniert. Zum einen, weil sie mit der grössten Konsequenz die neuesten technischen Mittel zur Überwindung überkommener sexueller und ästhetischer Normen einsetzt. Zum anderen, weil in dieser Kunst eben zwei – historisch tendenziell eher getrennte – Traditionen des sexuell emanzipatorischen Pop zueinanderfinden: der hymnische Imperativ und der Einspruch gegen festgelegte Identitäten.

Einerseits richtet sich Planningtorock mit politisch expliziten, pathetisch verstärkten Botschaften an ihre Hörer*innen und fordert sie dazu auf, für die Abschaffung des Patriarchats zu kämpfen und für eine Kritik des patriarchal geprägten Bewussteins: «Patriarchal life, you’re out of date / patriarchal life, get out of the way»; «Hear the drum / degenderise all intellect». Diese parolenhafte Sprache steht in der Tradition grosser queerer Selbstermächtigungshymnen wie etwa «Smalltown Boy» von Bronski Beat, «Freedom» von George Michael oder «Born This Way» von Lady Gaga: Popmusik, die ihrem Publikum sehr wohl ein Identitätsgefühl stiften will: die verbindende Einsicht nämlich, dass es noch viele andere Menschen gibt, die genauso abweichen von der «Norm» wie sie selber. Und dass sie sich nicht dafür schämen müssen, so zu sein, wie sie sind, denn sie sind ja nun einmal so geboren: born this way.

Der Pop und die Neuerfindung des Selbst

Andererseits steht gegen diesen identitätsstiftenden und um Eindeutigkeit bemühten imperativischen Pop eine Tradition der sexuell emanzipatorischen Musik, der es gerade um den Entzug von Eindeutigkeit geht, um das Spiel mit Unschärfe, Überlagerung und Ambivalenz. Planningtorock wirkt gewissermassen auf beiden Seiten. Die Musik bietet ihre eindeutigen Botschaften in einer ästhetisch möglichst uneindeutigen Weise dar. So, wie die Stimme sich mit technischen Mitteln der sexuellen Identifizierung entzieht, so wird sie, wie es der Kritiker Klaus Walter einmal formuliert hat, zu einer «geschminkten Stimme» gemacht.

Das weist zurück in eine lange popkulturelle Geschichte der sexuell überschreitenden Verstellung und Maskerade. Denn das alles gehört zu Pop: Neuerfindung des Selbst, Travestie und Drag. Man kann diese Tradition bis zu den Cross-Dressing-Partys in den frühesten Jazzclubs von New Orleans in den 1910er-Jahren zurückverfolgen. Oder wenigstens – wenn man sich auf die neuere Popgeschichte beschränken will – bis in die frühen 1970er-Jahre, als David Bowie sich in seiner Rolle als «Ziggy Stardust» als bisexuelles Alien inszeniert und zugleich in den Underground-Clubs in New York die Discokultur entsteht. Dort erschaffen DJs und Partyveranstalter wie der 2016 verstorbene David Mancuso mit ihren Clubs und Veranstaltungsreihen geschützte Räume für die Inszenierung sexueller Abweichung und Nichtidentität. In diesen safe spaces können die Besucher*innen ihre Identitäten verbergen und wechseln. Es sind Räume, in denen die hier tanzenden Menschen ohne Angst vor Repressionen und Diskriminierung ihrem sexuellen Begehren folgen können; Räume, in denen die Menschen sich so kleiden und so verhalten, wie es ihnen im Alltag unmöglich ist.

Auch die Discokultur hat grosse Selbstermächtigungshymnen hervorgebracht wie etwa «I Will Survive» von Gloria Gaynor. Doch geht es in dieser Tradition des sexuell emanzipatorischen Pop zunächst nicht um die Veränderung der Gesellschaft, um die Forderung nach Gleichberechtigung und um die Utopie einer sexuell emanzipierten Welt. Sondern vielmehr darum, diese Utopie im Kleinen sofort zu verwirklichen.

In Clubs wie dem Berliner Berghain lebt diese Idee bis in die Gegenwart fort: die Idee, dass man die Besucher und Besucherinnen in eine – wie es der Autor Hakim Bey einmal genannt hat – «temporär autonome Zone» versetzt, in der die Regeln und Zuschreibungen der Aussenwelt bis auf weiteres nicht gelten. Darum herrscht etwa im Berghain auch ein absolutes Fotografierverbot, weil nichts, was in den hermetisch abgeschirmten Gemäuern geschieht, nach aussen dringen soll. So wird den Menschen, die hier tanzen und sich hier lieben, die Freiheit gewährt, wenigstens für die Dauer einer Nacht oder auch eines Wochenendes zu anderen zu werden, ihre alltägliche Identität abzulegen.

Nicht weiblich, nicht trans, sondern vaping, verdampfend: Sophie. Charlotte Wales

«I could be anything I want», singt die in Los Angeles lebende Transgender-Person Sophie in dem Stück «Immaterial»: «You could be me and I could be you / Always the same and never the same». Neben Planningtorocks «Transome» ist dies die andere grosse Hymne der sexuellen Transgression und Emanzipation, die 2018 entstanden ist; sie findet sich auf Sophies Debütalbum «Oil of Every Pearl’s Un-Insides» aus dem vergangenen Juni. Ausgiebig preist Sophie darauf das neue Reich der Digital Natives: eine whole new world (so der Titel des letzten Stücks) ohne Körper und ohne feste Identitäten; eine Welt des reinen Werdens und des stetigen Wandels, in der sich nicht zuletzt die eigene sexuelle Identität unentwegt neu bestimmen lässt.

So überträgt Sophie das Prinzip der sexuellen Maskerade und Neuerfindung aus den safe spaces der klassischen Clubs in den endlosen Raum der globalen Netzwerke. Freilich ist diese Übertragung auch mit dem Zweifel belegt, ob die grenzenlose Freiheit in der virtuellen Welt nicht auch von den weit mühevolleren Kämpfen um die Freiheit im Realen ablenkt. «I feel so cold / Is this the way I feel?» lautet die letzte Zeile von «Whole New World»: Was fühlen wir, wenn wir unsere Gefühle nur noch für Erfindungen halten? Was bleibt von uns, wenn wir nicht nur uns selber (im Rausch) aufgeben, sondern auch jenseits des Rausches (im Realen) das gesamte Konzept des Selbst?

Ein irre gewordener Schlumpf

Wie bei Planningtorock ist die Stimme bei Sophie elektronisch bearbeitet, doch ist sie nicht in den Tonhöhen «heruntergepitcht», also erniedrigt und «maskuliner» gemacht, sondern im Gegenteil zu höchsten Höhen erhoben: Sie klingt nun wie ein Tonband, das man viel zu schnell abspulen lässt, wie ein irre gewordener Schlumpf oder ein Backenhörnchen aus einem Walt-Disney-Film unter MDMA-Einfluss. Zu erster Bekanntheit gelangte Sophie um das Jahr 2013 herum mit Liedern, die «Bipp» oder «Eeehhh» hiessen und holpernde Rhythmen mit wildem Flötenspiel und klein gehacktem Operngesang kombinierten. In der Öffentlichkeit wurde sie damals als Mann wahrgenommen, der sich als Frau kostümiert. Sophie hat diese Deutung niemals kommentiert und vermied lange Zeit, von sich in der dritten Person zu sprechen. Heute nutzt sie zwar das weibliche Geschlecht, wenn sie über sich selbst spricht. Aber sie beschreibt sich nicht als weiblich, auch nicht als trans oder queer, sondern als vaping, verdampfend.

Zu Mainstream-Ruhm gelangte Sophie 2014 als Koproduzent*in der Madonna-Single «Bitch I’m Madonna». Und «Immaterial» erinnert nicht nur im Text, sondern auch in der Melodieführung an das alte Madonna-Stück «Material Girl» aus den Achtzigerjahren. Bloss scheint die materielle Welt, die Madonna weiland besang, aus der Musik von Sophie inzwischen verschwunden. Die Sounds, die Stimmen stammen ganz aus der Sphäre des Digitalen; wie bei Planningtorock kann man auch hier beim Hören nicht herausfinden, wo die Grenze zwischen dem «Männlichen» und dem «Weiblichen», dem «Natürlichen» und dem «Artifiziellen» verläuft. Doch ist Sophies Maskerade noch radikaler, sie bietet sich ihrem Publikum gar nicht mehr als realer Körper dar, sondern als Avatar, als Prophetin eines universalen Fake. Schon der Titel des Albums deutet darauf hin: «Oil of Every Pearl’s Un-Insides» – das hat jemand aufgeschrieben, der sich verhörte. Eigentlich müsste es nämlich I love every person’s insides heissen: «Ich liebe von jedem Menschen die Innenseite.»

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SOPHIE — It's Okay To Cry (Official Video)

Nun ist es keineswegs so, dass der Pop sich 2018 im Ganzen als utopisch-ästhetische Alternative zum globalen Siegeszug des Maskulinismus empfiehlt. Nicht nur die Gesellschaft ist in den letzten Jahren ja wieder patriarchaler und sexistischer geworden – auch wesentliche Teile der Popmusik sind es. Gerade das enorm erfolgreiche Genre des Deutschrap ist von einem rohen und trostlosen Sexismus geprägt. Für ihn stehen Künstler wie Kollegah und Bushido, die Frauen als bitches betrachten, denen sie beim Sex das Steissbein brechen wollen (Kollegah); und denen Schwule als «Schwuchteln» gelten, die es wahlweise zu foltern oder zu verkloppen gilt (Bushido).

Der erfolgreichste deutschsprachige Schlagersänger der Gegenwart, Andreas Gabalier, inszeniert sich als Botschafter und Retter einer angeblich bedrängten Welt, in der Männer noch Männer und Frauen noch Frauen sind (Letztere natürlich zuständig für Küche und Kinder). Und während die erfolgreichste Schlagersängerin, Helene Fischer, sich vor einigen Jahren noch als «deutsche Lady Gaga» titulieren liess und in ihren Kostümen und Bühnenshows queere Ästhetik zitierte, hat sie aus ihrer aktuellen Erscheinung alle eventuell kontroversen, sexuell provokanten Aspekte getilgt.

Popmusik war schon immer ein Spiegel der Verhältnisse und der Motor ihrer Veränderung. Ohne diese Dialektik ist Pop nicht zu denken, das ist auch 2018 nicht anders. Das heisst andererseits nicht, dass der Mainstream der massenbegeisternden Hitparadenmusik ganz an den Rand der sexuellen Restauration fällt. Gerade im jetzt zu Ende gehenden Jahr – und das ist vielleicht die interessanteste Entwicklung – finden sich auch dort prominente Kunstschaffende, die sich selber als sexuell «anders» oder «abweichend» bezeichnen; und dabei handelt es sich nicht nur um solche aus dem Feld des Elektropop und der Clubmusik. Auch die erfolgreichste Gitarrenrockdebütant*in des Jahres, Tash Sultana aus dem australischen Melbourne, bezeichnet sich als non-binäre Person, die weder mit «er» noch mit «sie» angesprochen werden möchte. Im Spätsommer ist gerade erst Tash Sultanas Debütalbum «Flow State» erschienen, doch die Europatournee fand durchweg in ausverkauften grossen Hallen statt.

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TASH SULTANA - JUNGLE (LIVE BEDROOM RECORDING)

Die erfolgreichste französische Popsängerin des Jahres, Hélöise Letissier, hat wiederum unter ihrem Alias Christine and the Queens ein queeres Manifest namens «Chris» aufgenommen. Letissier inszeniert sich mit trainierter Lesbenfigur und Kurzhaarschnitt als Identifikationsfigur für junge Mädchen, die sich mit den für sie vorgesehenen Zuschreibungen von «Weiblichkeit» nicht abfinden wollen. Dazu spielt Chris(tine) eine Art pansexuellen Powerballadenpop mit allerlei Zitaten des queeren New Wave der frühen Achtzigerjahre. Manchmal gibt es auch nach Art des mittleren Prince knuckelnde Funkrhythmen zu Soli auf dem Umhängekeyboard zu hören. «Don’t feel like a girlfriend / but lover / damn, I’d be your lover» heisst es programmatisch in dem Song «Girlfriend». Darin bekundet Letissier gegenüber ihrer oder ihrem Geliebten, dass sie gerade keine unterwürfige Freundin sein will, sondern ein lover – also jemand, der oder die ohne jene geschlechtlichen Bestimmungen und Restriktionen auskommt, die beim Ausleben der sexuellen Wünsche nur stören.

Ein queeres Manifest

Dieser Wunsch verbindet Letissier mit der Londoner Sänger*in und Rockgitarrist*in Anna Calvi – auch wenn diese eine eher traditionelle, also maskulin geprägte Form der musikalischen Virtuosität pflegt. Calvi hat sich dieses Spiel nach eigener Auskunft autodidaktisch bei Jimi Hendrix und klassischen Flamencogitarristen abgeschaut. Nach dem fabelhaften Debüt «Anna Calvi» aus dem Jahr 2011 half Nick Cave Calvi in eine länger anhaltende Karriere hinein. Ähnlich dunkel, feucht und sündig lockend wie die Erotik des frühen Cave war auch jene, die Calvi auf dem Debüt wie auch auf dem 2013 nachfolgenden Album «One Breath» darbot. Das neue Album «Hunter» aus dem Spätsommer des Jahres ist nun musikalisch weit reicher geworden, es beschenkt uns mit kräftig aus der Gitarre herausgekraulten Soli und flottem Feedbackgefiepe ebenso wie – in dem sagenhaften Stück «Swimming Pool» – mit dramatisch schillerndem Technicolorpop.

Alpha-Wesen jenseits des Geschlechterdualismus: Anna Calvi. Maisie Cousins

Wie Planningtorock, Sophie und Christine and the Queens möchte auch Calvi das eigene Album ausdrücklich als queeres Manifest verstanden wissen: In Stücken wie «As a Man» oder «Don’t Beat the Girl Out of My Boy» wird den Hörer*innen empfohlen, im Leben wie in der Liebe zwischen «männlichen» und «weiblichen» Rollen und Verhaltensweisen zu wechseln. Niemand ist ausschliesslich Mann oder ausschliesslich Frau, und nichts ist erregender – erfahren wir in «As a Man» –, als sich in den Körper eines anderen Geschlechts zu versetzen. Denn wer sich nicht festlegt, sondern mit den Identitäten zu spielen versteht und mit dem Wechsel zwischen dominanten und submissiven Rollen – der oder die hat zweifellos auch den besseren und interessanteren Sex. Und das ist ja in der Tat eine unschlagbare Begründung und Motivation.

Anna Calvi selbst, indes, hält sich aus dem Spiel der polymorphen Perversionen und sexuellen Metamorphosen am liebsten heraus. In dem Stück «Alpha» besingt sich Calvi als Alpha-Wesen jenseits des Geschlechterdualismus: Dieses Ich allein bestimmt, wer ihm als der Mann und wer als die Frau gilt und wer beim Sex mit ihm zu welchem Zeitpunkt zum Orgasmus gelangt. «I divide and conquer», heisst es am Ende des Songs. Ich teile und herrsche: So will das wahrhaft souveräne Subjekt aus dem Spiel der Identitäten heraus doch wieder zu einer Position finden, in der die Regeln des Spiels sich erkennen und also bestimmen lassen. Auch in der schönen neuen Welt der unendlichen Transgression ist die Verbindung zwischen Sex und Macht nicht gekappt.

Zum Autor

Jens Balzer lebt in Berlin und arbeitet als Autor und Kolumnist für «Die Zeit», den Deutschlandfunk, «Rolling Stone» und Radio Eins. Zu seinen Büchern gehören «Die Tocotronic Chroniken» (2015, mit Martin Hossbach) und «Pop. Ein Panorama der Gegenwart» (2016). Im Mai 2019 erscheint «Das entfesselte Jahrzehnt. Sound und Geist der 70er» bei Rowohlt Berlin.