«Jedes Rechtssystem hat blinde Flecken»
Das neue Buch von Oliver Diggelmann handelt von der Geschichte des Völkerrechts, von seiner Bedeutung, von der Spannung zwischen nationalem und internationalem Recht – und von der Selbstbestimmungsinitiative.
Ein Interview von Daniel Binswanger, 15.11.2018
Professor Diggelmann, woher kommt eigentlich das Völkerrecht?
Wenn wir vom Völkerrecht unserer Tage sprechen: Wichtige Grundelemente stammen aus der Zeit, in der sich in Europa vom 15. bis zum 18. Jahrhundert das moderne Staatensystem herausbildete. Von dieser Grundschicht ist bis in die Gegenwart des globalisierten Völkerrechts vieles erhalten geblieben. Auch wenn es sich im 20. Jahrhundert noch einmal stark verändert und weiterentwickelt hat.
Die Entstehung der modernen Staaten hat viel mit den Konfessionskriegen zu tun. Ist das Völkerrecht ein Kind der Konfessionskriege?
Das ist zwar etwas zugespitzt, aber durchaus richtig. Der Dreissigjährige Krieg von 1618 bis 1648 endete mit einem militärischen Patt, also konnte keine Konfession ihre religiöse Ordnung zur allgemeinverbindlichen erklären. Man brauchte religiös neutrale Regeln für die Beziehungen zwischen den Gemeinwesen. Das beschleunigte die Herausbildung des Völkerrechts.
Weil man keine gemeinsame religiöse Basis mehr hatte, suchte man säkulare Regelungen als neue Gemeinsamkeit?
Ja. Beide Lager hatten ja beansprucht, im Namen des einzig wahren Glaubens zu kämpfen, führten ihrem Verständnis nach Krieg gegen Ungläubige, Häretiker. Solche Kriege werden mit besonderer Erbarmungslosigkeit geführt. Man musste nach dem Flächenbrand eine neue gemeinsame Basis finden.
Aber das frühneuzeitliche Völkerrecht kannte doch ein «Recht zum Krieg». Wie kann das Frieden stiften?
Man muss die Situation der Zeit sehen. Der Flächenbrand in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts war unter anderem wegen Loyalitäts- und Bündnispflichten unter Konfessionsangehörigen entstanden. Das Recht zum Krieg nach dem Dreissigjährigen Krieg bedeutete dann im Prinzip, dass ein Krieg eine Angelegenheit zwischen den direkt Beteiligten bleiben kann. Wenn Staat A und Staat B Krieg führen, ist Staat C nicht automatisch auch Konfliktpartei, weil er die gleiche Konfession hat wie Staat B. In der damaligen Situation bedeutete das Recht zum Krieg ein gewisses Entzurren der Konflikte. Die Entmoralisierung des Krieges sollte neuen Flächenbränden entgegenwirken. Der Dreissigjährige Krieg wurde als Menschheitskatastrophe erlebt, in seiner traumatisierenden Wirkung vergleichbar mit den grossen Kriegen des 20. Jahrhunderts.
Ein weiteres Grundprinzip des neuzeitlichen Völkerrechts ist das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten.
Es folgt der gleichen Logik. Wenn sich die Staaten nicht in die inneren Konflikte der anderen einmischen, bleiben diese im Prinzip beschränkt. Das kann unmoralisch sein, begrenzt aber die Reichweite von Gewalt im Innern und hat so gesehen durchaus auch eine ethische Dimension. Heute, im Zeitalter der Menschenrechte, sehen wir das natürlich anders. Da liegt die Aufforderung zur Intervention näher.
Die Entwicklung des Völkerrechtes wurde nicht nur von realpolitischen Zwängen vorangetrieben, sondern auch von einem aufklärerischen Diskurs, vom Vernunftglauben, von einem Fortschrittsethos.
Auf jeden Fall. Es gab im 17. und 18. Jahrhundert ja keine internationalen Gerichte, die geltendes Völkerrecht feststellten. Das verschaffte den Völkerrechtsgelehrten eine Schlüsselrolle. Unter ihnen gab es Pragmatiker und auch visionäre Aufklärer – Letztere dachten das Völkerrecht als vernünftiges Recht. Sie formulierten auf der Grundlage internationaler Praxis allgemeine Prinzipien und teilweise auch detaillierte Regeln – und trugen durchaus auch zur Habitualisierung von Rechtsgrundsätzen bei.
Es setzte sich also die Vorstellung durch, dass Staaten trotz ihrer Souveränität nicht einfach tun dürfen, was sie wollen.
Die Vorstellung vollkommener Ungebundenheit gab es eigentlich nie. Aber Völkerrecht war zunächst überwiegend Gewohnheitsrecht und relativ unscharf. Ab den 1860er-Jahren setzte ein Prozess ein, den man als Kodifizierung des Völkerrechts bezeichnen kann. Den Beginn machte die erste Genfer Konvention von 1864. Die Welt dynamisierte sich damals, es war eine erste Phase des Freihandels, erste internationale Organisationen entstanden. Manche von ihnen übrigens mit Sitz in Bern.
Es kam zu einer ersten Blüte des Völkerrechts – vor allem wegen der engeren Handelsbeziehungen gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die vertraglich abgesichert werden mussten?
Ich würde den Ausdruck «Blüte» hier nicht verwenden, obschon das Völkerrecht zunahm. Man steuerte auf den Ersten Weltkrieg zu, und das Völkerrecht war einer der Faktoren, die zu diesem Krieg führten. Auch, aber nicht nur wegen des Rechts zum Krieg. Es fehlte zudem jede strafrechtliche Verantwortlichkeit politischer und militärischer Führer. Politisches und militärisches Führungspersonal konnte davon ausgehen, dass es Kriege führen kann, ohne persönlich zur Rechenschaft gezogen zu werden.
Sie sagen, der Dreissigjährige Krieg war ein zentraler Faktor für die Entstehung des neuzeitlichen Völkerrechts. Kam der nächste grosse Schub mit dem Ersten Weltkrieg?
Wir sollten das Vierteljahrhundert zwischen Französischer Revolution und Wiener Kongress nicht ganz übergehen, die Zeit der sogenannten Koalitionskriege, das heisst der Koalitionen zunächst gegen das revolutionäre und dann gegen das Frankreich Napoleons. Das Völkerrecht gewann nach dieser Periode an Bedeutung. Ausserdem hatte die Französische Revolution Spuren hinterlassen. Damals wurde beispielsweise erstmals die Idee eines Selbstbestimmungsrechts der Völker formuliert, das dann im 20. Jahrhundert zu geltendem Völkerrecht werden sollte.
Aber dann kam der Erste Weltkrieg mit seinen industriellen Massentötungen, und alles veränderte sich?
Der Erste Weltkrieg brachte Verheerungen jenseits des damals Vorstellbaren. Er bedeutete das Ende des «europäischen» Völkerrechts und auch den Zusammenbruch der Idee, dass Friede und Stabilität im Wesentlichen durch das Gleichgewicht der Grossmächte erreicht werden können. Das Völkerrecht musste fortan «mehr Last» tragen. So sah die Völkerbundsatzung punktuelle Relativierungen des Rechts zum Krieg vor, 1928 wurde in einem Pakt die Kriegsächtung beschlossen. Nach dem Zweiten Weltkrieg verbot die Uno-Charta schliesslich nicht nur den Krieg, sondern auch die Drohung mit einem solchen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg kam eine weitere bedeutende Neuerung: die internationalen Menschenrechte.
Die Positivierung – das heisst schriftliche, explizite Festlegung – internationaler Menschenrechtsgarantien war eine Schlüsselentwicklung des 20. Jahrhunderts. Man muss in diesem Zusammenhang aber auch die Kriegsverbrechertribunale zunächst von Nürnberg und Tokio erwähnen, die die internationale Bestrafung der Verletzung elementarster Menschenrechte einführten. Die alte Vorstellung, der einzelne Mensch sei gewissermassen im Staat aufgehoben und nur diesem gegenüber verantwortlich, wurde dadurch überwunden. Das war primär eine Reaktion auf die nationalsozialistischen Verbrechen. Man muss aber auch sehen, woher die Idee des im Staat aufgehobenen und durch diesen geschützten Menschen kam: In der frühen Neuzeit war es der sich herausbildende Territorialstaat gewesen, der es schaffte, grosse Gebiete zu pazifizieren. Diese Leistungsfähigkeit bei der Herstellung von Sicherheit war zentral dafür, dass sich der Territorialstaat als Form der Organisation von Herrschaft überhaupt durchsetzte. Er vermochte den Bürgerkrieg auf seinem Gebiet zu verhindern.
Sie sagen in Ihrem Buch, wir seien mit den Menschenrechten in gewisser Weise zu einer vormodernen Rechtsvorstellung zurückgekehrt, in der der Einzelne Teil einer umfassenden Ordnung ist.
Zwischen der Ordnung des mittelalterlichen christlichen Universalreiches und dem Völkerrecht im Zeitalter der Menschenrechte gibt es insofern einen gemeinsamen Boden, als der Einzelne Teil dieser Ordnung ist. Im Universalreich steht er der Idee nach dem liebenden und strafenden Gott gegenüber, der die Ordnung stiftet, und im heutigen Völkerrecht ist er Träger elementarer Rechte und als solcher eigenständiges Rechtssubjekt. Von der frühen Neuzeit bis zur schriftlichen Fixierung der Menschenrechte war er durch den Staat «mediatisiert». Er verschwand gewissermassen zeitweilig vom völkerrechtlichen Radar.
Die Menschenrechte setzen aber auch voraus, dass es eine universell geteilte Wertebasis gibt.
Eine solche Wertebasis dürfte es schon geben, auch wenn sie weltweit wohl nicht so breit ist, wie wir in Europa gerne annehmen möchten. Wir beide könnten uns vermutlich sehr rasch auf mehr als ein Dutzend Situationen einigen, die wir als moralisch eindeutig und unverhandelbar empfinden und in denen absoluter Schutz des Einzelnen nötig ist. Die Verbote der Folter etwa oder des willkürlichen Freiheitsentzugs. Wir wissen, was Menschen einander antun können. Dieses Wissen schafft eine kulturübergreifende Wertegrundlage. Wie weit aber soll der Schutz gehen? Irgendwann wird es komplizierter. Die Menschenrechte beziehen ihre moralische Wucht aus einer letztlich überschaubaren Anzahl bekannter Situationen des unerträglichen Machtmissbrauchs.
Wo aber zieht man die Grenze, was ist noch Menschenrecht und was nicht?
Ganz schwierig. Die ersten verbindlichen internationalen Menschenrechtsverträge enthielten einen ziemlich überschaubaren Katalog von Garantien. Mit der Zeit wuchs der Bestand. Man konkretisierte die bereits vorhandenen Garantien in Spezialkonventionen und fand neue Menschenrechte. Manche Aktivisten und Wissenschaftler sind dazu übergegangen, auch wichtige Sozialstandards wie etwa zentrale Garantien für Arbeitnehmer als Menschenrechte zu bezeichnen. War das richtig, weil auch hier wichtige Fragen der Gerechtigkeit angesprochen werden? Oder hat man zu viel an Eindeutigkeit des Konzepts der Menschenrechte geopfert und damit Kraft preisgegeben? Ich vermute dies, bin aber unsicher.
Die Menschenrechte bedeuten, dass jeder Mensch heute ein Völkerrechtssubjekt ist.
Ja. Das heisst aber noch nicht, dass er auch die Möglichkeit hat, sie gerichtlich durchzusetzen. Vereinfacht gesagt: Man hat die Menschenrechte zuerst formuliert und darauf gesetzt, dass man mit der Implementierung schrittweise vorankommt. Auf globaler Ebene sind die Überwachungsorgane bis heute zwar nicht unbedeutend, aber insgesamt relativ zahnlos. In Europa steht mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte die effektivste Institution zum Schutz internationaler Menschenrechtsgarantien.
Die Positivierung der Menschenrechte besteht im Wesentlichen aus den Uno-Menschenrechtspakten von 1966 und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950.
Die wichtigsten Konventionen für uns sind die EMRK und der Uno-Pakt II, der sogenannte Bürgerrechtspakt. Er enthält viele klassische Garantien wie etwa die Meinungsfreiheit oder das Verbot der Folter. Der Uno-Pakt I dagegen positivierte sogenannte wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte, die fast ausnahmslos nicht vor Gericht einklagbar sind. Dieser Pakt kam auf Betreiben der Sowjetunion zustande. Sie wollte ein Gegengewicht zu den bürgerlichen und politischen Rechten, um die es dem Westen ging. Die baldige Schaffung der EMRK nach dem Zweiten Weltkrieg war auch eine Folge davon, dass man auf globaler Ebene mit einem verbindlichen Pakt zunächst nicht vorankam.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erlangte erst Mitte der Siebzigerjahre richtige Bedeutung. In jener Zeit sind die ersten wirklich wichtigen Entscheide gefällt worden, zum Beispiel zur Unzulässigkeit der Diskriminierung unehelicher Kinder. Ein anderes Beispiel?
Sehr wichtig war auch der Entscheid zu den Verhörmethoden des britischen Militärs in Nordirland von 1977. Es ging um die sogenannten «fünf Techniken»: Den Verhörten wurden Kapuzen über den Kopf gezogen, sie wurden Lärm und Schlaf- und Essensentzug ausgesetzt, ausserdem mussten sie lange mit gespreizten Beinen gegen eine Wand lehnen. Der EGMR fand, dass Grossbritannien gegen das Verbot der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung verstossen hatte.
Die «fünf Techniken» waren Folter?
Der als «Folterverbot» bekannte Artikel 3 der EMRK enthält drei Garantien. Neben Folter sind auch die unmenschliche und die erniedrigende Behandlung verboten. Die Schwelle zur Folter wurde nach Ansicht des Gerichts nicht erreicht, nur jene der beiden anderen Verbote. Nach dem Entscheid war klar: Der EGMR schaut bei Verhören genau hin. Das ist bis heute so.
Und die Briten haben das umgesetzt? Grossbritannien gilt ja als Land mit einer gewissen Widerständigkeit gegen die Strassburger Urteile.
Die Briten haben zwar lange gebraucht, um die Garantien der EMRK formell im eigenen Land in Kraft zu setzen, haben aber schon zuvor viel Substanz über ihr eigenes common law importiert. Sie verhalten sich konventionskonformer, als ihr Ruf vermuten lässt. Die EMRK geht im Übrigen, was weniger bekannt ist, weitgehend auf einen britischen Entwurf von 1950 zurück. Die Briten betrachten die EMRK-Garantien als Ausdruck ihrer eigenen angelsächsischen Grundrechtstradition mit starkem Akzent auf einem fairen Verfahren und ideellen Grundrechten wie der Meinungsfreiheit. Sie haben mit dem Grundsätzlichen der Garantien keine Probleme.
Wo hat sich Strassburg positiv auf die Schweizer Rechtskultur ausgewirkt?
Wichtige Fälle betrafen Interessenkollisionen von Behörden. In einem klassischen Fall ging es darum, dass die Polizei eine Frau wegen angeblicher Teilnahme an einer unbewilligten Demonstration büsste, und über die Rechtmässigkeit der Busse urteilte dann ein Polizeirichter. Das geht nicht. Ein anderer wichtiger Fall betraf die Personalunion von Untersuchungs- und Haftrichter, die bei uns verbreitet war. Ein Untersuchungsrichter muss abklären, ob die Voraussetzungen einer Anklage erfüllt sind, und ein Haftrichter entscheidet über die Untersuchungshaft. Natürlich hat der Untersuchungsrichter ein Interesse daran, dass die Untersuchungshaft grosszügig angeordnet wird. Wir hatten in der Schweiz eine Neigung zu sagen: Unsere Justiz kann das schon. Das geht natürlich nicht. Dass Strassburg mit mehr Distanz auf die Sache blicken konnte, war gut für die Schweiz.
Ein anderes Beispiel einer wichtigen Rechtsanpassung betraf den fürsorgerischen Freiheitsentzug.
Ein wirklich krasses und nicht mehr so präsentes Beispiel. Noch in den 1970er-Jahren konnte man sich gegen eine Einweisung in eine Anstalt aus sogenannt fürsorgerischen Gründen kaum wehren. Mit dem Beitritt zur EMRK stieg der Handlungsdruck, das Zivilgesetzbuch wurde angepasst. Jedes Land weist menschenrechtlich blinde Flecken auf. Auch entwickelte Rechtsstaaten.
Wie die Schweiz?
Natürlich. Man kann ebenso Deutschland, Frankreich oder die skandinavischen Länder nennen, mit denen wir uns am ehesten vergleichen lassen. Nehmen wir Frankreich als Beispiel. Frankreich besitzt im Grundsatz hoch entwickelte rechtsstaatliche Strukturen, doch in der französischen Polizei herrschte lange eine Kultur besonders robusten Zupackens. Die Strassburger Rechtsprechung wirkte hier mässigend.
Aber besonders wichtig ist die EMRK für Länder mit eher schwachen rechtsstaatlichen Strukturen?
Sie war zunächst enorm wichtig für die Transformation der früheren südeuropäischen Diktaturen – Portugal, Spanien und Griechenland – in liberale Demokratien. Nach dem Fall des Eisernen Vorhanges spielte der EGMR eine vergleichbare, wenn auch im Einzelnen stark variierende Rolle in Mittel- und Osteuropa. Für uns ist die Rolle der EMRK in Gesamteuropa wohl sogar wichtiger als ihr unmittelbarer Einfluss in der Schweiz. Sie ist für die Stabilisierung des gesamten Kontinents von einer Bedeutung, die schwer zu überschätzen ist.
Die Schweiz muss also nur schon Mitglied des Europarats und der EMRK bleiben, weil diese so wichtig ist für Gesamteuropa?
Ich kann nicht verstehen, weshalb manche von diesem Argument nichts wissen wollen.
Was halten Sie von folgendem Argument für den EGMR: Strassburg ist gewissermassen der Verfassungsgerichtshof der Schweiz, weil wir selber keine Verfassungsgerichtsbarkeit haben?
Ein Stück weit ist das sicher richtig. Wir haben zwar durchaus eine Verfassungsgerichtsbarkeit, insbesondere gegenüber kantonalen Akten; bei Bundesgesetzen aber weist sie Lücken auf. Bundesgesetze müssen im Prinzip auch dann angewandt werden, wenn sie der Verfassung widersprechen. Wir reden diese Regel mit der Formulierung vom «Vorrang des Demokratieprinzips vor dem Rechtsstaatsprinzip» etwas schön. Der EGMR schliesst die Lücke nicht ganz, aber doch weitgehend.
Und wenn wir die EMRK kündigen würden, würde in unserem Rechtssystem eine Lücke aufgehen?
Richtig!
In Ihrem Buch widmen Sie der Frage der «Verzahnung» von internationalem und nationalem Recht viel Aufmerksamkeit. Sie sagen, sie ist für alle Länder eine Herausforderung.
Der internationale Vergleich hilft, die eigene Sicht etwas zu relativieren. Alle westlichen Demokratien haben in der einen oder anderen Form ein Problem damit, dass die demokratische Legitimation des sie bindenden Völkerrechts dünner ist als jene ihrer eigenen Gesetze. Der Vertrag wird von der Regierung und Spitzenbeamten ausgehandelt, das Parlament kann höchstens punktuell Akzente setzen und am Ende zustimmen oder ihn ablehnen. Das ist etwas ganz anderes als bei nationalen Gesetzgebungsprozessen.
Die Zunahme völkerrechtlicher Verträge bedeutet eine Verlagerung von den Parlamenten und den Stimmbürgern hin zur Exekutive?
Man sollte das offen benennen. Hinter der Zunahme des Völkerrechts stehen mächtige Treiber. Da ist zum einen die Technikentwicklung. Sie vergrössert die Reichweite menschlicher Handlungen und vermehrt die grenzüberschreitenden Sachverhalte, es entsteht ein Bedarf an völkerrechtlichen Regeln. Die Wirtschaft neigt zur Expansion, deshalb schliessen wir regelmässig neue Freihandelsabkommen ab. Die zunehmende Wichtigkeit des Völkerrechts bedeutet aber unter anderem, dass das Parlament weniger Spielräume für Kompromisse und Konzessionen an diese oder jene Gruppe hat. Wenn man nur Ja oder Nein sagen kann, erzeugt das ein Gefühl der Frustration, solange man eigentlich davon ausgeht, selbst am Steuerrad zu sitzen.
Das wurde in der Schweiz mindestens teilweise kompensiert durch die Ausdehnung des Staatsvertragsreferendums.
Solche Ausdehnungen fangen immer nur einen Teil der Verschiebungen auf. Ein Staatsvertragsreferendum ist nicht dasselbe wie ein Gesetzes- oder ein Verfassungsreferendum. Wenn das Volk über ein neues Arbeitsrecht abstimmt und dieses ablehnt, kann das Parlament ein halbes Jahr später eine tragfähigere Regelung annehmen. Bei völkerrechtlichen Verträgen ist das nicht so. Da besteht a priori eine Abhängigkeit vom Willen des Dritten, auf dessen Kooperation man angewiesen ist. Ein Teil der Frustrationen rührt daher, dass man glaubt, die Bürgerpartizipation könne bei der internationalen Rechtssetzung genau die gleiche sein wie bei der Binnengesetzgebung. Das ist eine Illusion. Wenn ich allein entscheiden kann, habe ich immer grössere Freiheiten, als wenn ich mit anderen kooperieren muss.
Und wir müssen kooperieren, weil das internationale Recht immer wichtiger wird?
Ich habe die Haupttreiber genannt: den technischen Fortschritt und die Expansion der Wirtschaft. Sie erzeugen beide Handlungsdruck. Wirtschaftlich entsteht solcher Druck auch, weil andere sich enger zusammenschliessen.
Sie sagen also, es gibt tatsächliche Erosionsprozesse bei der staatlichen Selbstbestimmung?
Denken Sie nur an die grossen internationalen Vertragspakete, eigentliche Vertragsbündel wie das WTO-Recht, zu denen man nur «en bloc» Ja oder Nein sagen kann. Muss man das als Problem definieren? Es ist auf alle Fälle eine Veränderung, zu der man sich über kurz oder lang verhalten muss. Man ist eingebundener, abhängiger, hat aber an den Vorteilen der Kooperation Anteil. Das ist die Makrosituation im 21. Jahrhundert. Für die Volksrechte ist diese Diagnose keine besonders gute Nachricht. Man kann auf die internationalisierten Sachfragen weniger gut und zuweilen faktisch gar nicht zugreifen, nicht nur bei durch Menschenrechtsgarantien präjudizierten Fragen. Die Frage ist, wie man mit dieser Situation umgehen kann und soll.
Die Selbstbestimmungsinitiative ist auch eine Art und Weise, sich dieser Veränderung zu stellen.
Die Befürworter der Initiative sagen: Nicht mit uns, solche Veränderungen lassen wir uns nicht gefallen. Ihre Haltung entspringt einem Gefühl der Frustration, und sie versuchen die Entwicklung mit einem pointierten Akt zu stoppen. Das kann nicht gelingen. Auch eine Annahme der Selbstbestimmungsinitiative würde an der Rechtsentwicklung und den zunehmenden Abhängigkeiten nichts ändern. Sich selbstbestimmt das Leben schwer zu machen, ergibt wenig Sinn.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Verzahnung von nationalem und internationalem Recht ein politischer Balanceakt ist. Und Sie sagen: Eine gewisse Flexibilität bei dieser Frage ist sinnvoll.
Das mag etwas gegen unsere Intuition gehen, der Vorteil klarer Regeln liegt ja auf der Hand. Aber der Staat befindet sich hier, grundsätzlich gesprochen, in einem Dilemma: Er muss international verlässlich sein, wenn er sich nicht selbst schädigen will, und zugleich muss er auf seine Verlässlichkeit im Innern achten. Wo das wirklich Eigene auf dem Spiel steht, wird es für alle Staaten schwierig. Wenn ein Staat nun in einer Ausnahmekonstellation der Verlässlichkeit im Innern Priorität einräumt, muss ihn das im Aussenverhältnis noch nicht dauerhaft schädigen. Die Frage ist, wie die Spielräume sind, die er sich für solche Ausnahmekonstellationen herausnimmt. Kein Staat räumt dem Völkerrecht absoluten Vorrang vor allem staatlichen Recht ein. Das Problem der Selbstbestimmungsinitiative ist, dass sie Volksentscheiden in gewisser Weise generell gegenüber dem Völkerrecht zum Durchbruch verhelfen will. Das ist ein rabiater Zugang zu einem hochsensiblen Problem. Besser ist es, wenn die Verfassung in diesem Punkt eine gewisse Offenheit aufweist und Spielräume für die Praxis lässt.
Was heisst das konkret?
Es ist sinnvoll, rechtsanwendenden Behörden, der Verwaltung und dem Bundesgericht, gewisse Entscheidungsspielräume zuzugestehen. Die Konstellationen von Kollisionen sind sehr unterschiedlich. Es macht etwa einen Unterschied, ob staatliches Recht einem wichtigen Wirtschaftsvertrag, der Uno-Charta, einem Menschenrechtsabkommen oder einer Vereinbarung über Forschungskooperation widerspricht. Eine pauschale Regelung hat bei einer solchen Vielfalt von Konstellationen immer etwas Über- oder Unterschiessendes.
Das heisst, es ist gut, wenn Lausanne zwischen Völkerrecht und Verfassung in Eigenregie Abwägungen treffen kann?
Ihre Frage führt so gestellt in die Irre. Das Bundesgericht soll nicht «in Eigenregie» gestalten. Im Grundsatz ist die Schweiz an das Völkerrecht gebunden, so steht es in der Verfassung: Bund und Kantone beachten das Völkerrecht. Für rechtsanwendende Behörden kann sich aber bei einer Kollision die Frage stellen, ob die Annahme einer Ausnahmekonstellation und damit eine Nichtbeachtung eingegangener Bindungen gerechtfertigt wäre. Die Verfassung lässt Raum für eine solche Rolle der rechtsanwendenden Behörden, die ohnehin zunächst immer versuchen, das nationale Recht im Licht des Völkerrechts auszulegen und Kollisionen auf diese Weise zu entschärfen. Im Auslöser der Selbstbestimmungsinitiative, dem Bundesgerichtsurteil von 2012, konnte man eine über das Nötige hinausgehende Gestaltungsambition des Bundesgerichts erkennen. Die Passage zum Verhältnis von Europäischer Menschenrechtskonvention und «Ausschaffungsartikel» war für das konkrete Urteil irrelevant. Man muss aber auch sehen, dass sich das Problem letztlich deshalb stellte, weil wir bei der Volksinitiative einen Konstruktionsfehler in der Verfassung haben.
Einen Konstruktionsfehler?
Dass man via Volksinitiative ohne Beachtung grundrechtlicher Schranken neues Verfassungsrecht schaffen kann, ist ein Konstruktionsfehler. Als die Freisinnigen die Volksinitiative 1891 schufen, sahen sie das Problem zwar, gingen aber davon aus, dass die Anliegen genügend allgemein formuliert würden, sodass dem Parlament Spielraum für eine abwägende Konkretisierung bleiben würde. Wir haben aber in der jüngeren Vergangenheit Bekanntschaft mit einer Art «Gesetzgebung auf Verfassungsstufe» gemacht. Insbesondere das Ziel der Ausschaffungs- und der abgelehnten Durchsetzungsinitiative war es ja gerade, die Anliegen so hart zu formulieren, dass eine abwägende Konkretisierung im Parlament nachher nicht mehr möglich ist. Hinter der Selbstbestimmungsinitiative steht also nicht nur das ohnehin schon schwierige Problem der «Verzahnung» von Völker- und Landesrecht, sondern auch die Anomalie, dass man mit der Initiative Verfassungsrecht schaffen kann, das mit übrigem Verfassungsrecht offen konfligiert.
Wie erklärt sich dieser Konstruktionsfehler?
Man vertraute schlicht darauf, dass die Initiative nicht in einer Weise verwendet würde, wie dies heute teilweise der Fall ist. Dieses Grundvertrauen in den Demos findet sich auch anderswo in der Bundesverfassung. Bis zu einem gewissen Grad kann man auch die Lücken bei der Verfassungsgerichtsbarkeit in diesem Licht etwas besser verstehen. Dennoch: Es bleibt ein Konstruktionsfehler, der erst in jüngerer Vergangenheit richtig virulent geworden ist.
Oliver Diggelmann ist Professor für Völkerrecht, Europarecht, Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Universität Zürich. Sein neues Buch richtet sich an ein breites Publikum, gibt einen Überblick über die Geschichte des Völkerrechts und diskutiert die besondere Rolle, welche völkerrechtliche Fragen für die Schweiz immer wieder gespielt haben und auch heute wieder spielen.
Oliver Diggelmann: «Völkerrecht. Geschichte und Grundlagen mit Seitenblicken auf die Schweiz», Hier-und-Jetzt-Verlag, 216 S., 34 Fr.
«Von Völkerrecht und fremden Richtern»: Podiumsdiskussion im Zürcher Schauspielhaus
Die Selbstbestimmungsinitiative will den Vorrang der Schweizer Bundesverfassung vor internationalem Völkerrecht sichern. Sie postuliert «Schweizer Recht statt fremde Richter» und verspricht eine Klärung der juristischen Situation. Die Gegner sehen darin einen Angriff auf den Rechtsstaat, die Grund- und Menschenrechte und einen Vertragsbruch der Schweiz gegenüber internationalen Partnern. Bevor es zur Abstimmung kommt, diskutieren wir heute (15. 11., 20 Uhr) im Zürcher Schauspielhaus mit Befürwortern der Initiative sowie Kritikern, die sich unter anderem als die sogenannte Allianz der Zivilgesellschaft versammelt haben. Es diskutieren: Thomas Aeschi (SVP), Nina Fehr Düsel (SVP), Andrea Huber (Allianz der Zivilgesellschaft), Laura Zimmermann (Operation Libero). Das Podium wird von Republik-Autor Daniel Binswanger moderiert. Es ist eine Kooperation zwischen Republik, Schauspielhaus Zürich und Kosmos. Der Eintritt ist frei. Hier finden Sie weitere Informationen.