Serie «Let’s Talk About Drugs» – Teil 4

«Wenn man schon dealen will, zieht man das Ganze besser gleich gross auf»

Ab wann kriege ich als Dealer Probleme mit der Justiz? Wann muss ich als Konsument mit harten Konsequenzen rechnen? Ein Gespräch mit den Betäubungsmittel­gesetz-Experten und Straf­verteidigern Thomas Fingerhuth und Stephan Schlegel. «Let’s Talk About Drugs», Teil 4.

Von Daniel Ryser, Olivier Würgler (Text) und Yves Bachmann (Bilder), 14.11.2018

Stephan Schlegel (l.): «Dealer führen oft ganze Buchhaltungen.» – «Viele von ihnen agieren wirklich sehr doof»: Thomas Fingerhuth.

Thomas Fingerhuth, Stephan Schlegel, angenommen, ich entscheide mich dazu, mein Leben als Drogenhändler zu führen. Ab wann kriege ich echte Probleme?

Stephan Schlegel: Welche Drogen?

Kokain, Heroin.

Thomas Fingerhuth: In welchem Kanton?

Warum spielt das eine Rolle?

Fingerhuth: Es kann Sie fünf Jahre kosten.

Wie bitte?

Fingerhuth: Je nachdem, wo Sie erwischt werden, macht das einen riesigen Unterschied. Im Aargau wollen Sie lieber nicht erwischt werden. Das kostet Sie ein paar Jahre mehr als im angrenzenden Zürich.

Schlegel: Auch bei Gras ist das wirklich auffällig. Der Anbau von Marihuana wird nach meinem Eindruck im Aargau viel härter bestraft als in Zürich.

Wenn wir in den Grashandel einsteigen wollen und eine Indoor-Zuchtanlage bauen wollen, dann also lieber nicht im Aargau?

Fingerhuth: Konkret darf ich Ihnen als Anwalt keinen Rat geben. Damit würde ich mich strafbar machen. Theoretisch müsste man sagen: irgendwo im Kanton Zürich. Und machen Sie einen grossen Bogen um den Aargau. Ich hatte mal einen Fall, wo einer in Spreitenbach mit 30 Kilo Heroin verhaftet wurde. Die Zürcher haben die Untersuchung geführt bis zum Schluss. Dann haben sie die Sache den Aargauern zur Beurteilung übergeben. Der Zürcher Staatsanwalt kam zu mir und sagte: Das hat deinen Klienten fünf Jahre gekostet. In Zürich hätte er etwa zehn Jahre bekommen, im Aargau bekam er sechzehn.

Warum gibt es diese enormen Unterschiede zwischen den beiden Kantonen?

Fingerhuth: Das Zürcher Justizsystem ist ziemlich luxuriös. Ich würde behaupten: Wir haben eine gute Justiz.

Was meinen Sie damit?

Fingerhuth: Die Zürcher Justiz ist professionell, nicht mit Laienrichtern gespickt, die womöglich aus dem Bauch heraus entscheiden. Die Entscheide in Zürich sind häufig gut begründet.

Schlegel: Die Erfahrung zeigt: Wenn man die Kantonsgrenze überschreitet, ist das Risiko enorm, eine deutlich höhere Strafe zu kassieren als in Zürich. Man kann aber auch im Kanton selbst Unterschiede ausmachen. Bülach, wo die ganzen Schmuggelfälle vom Flughafen landen, ist bekannt dafür, härter zu strafen als die Stadt Zürich.

Serie «Let’s Talk About Drugs»

Wie könnte man in der Drogen­politik – analog zur regulierten Heroin-Abgabe zu Beginn der Neunziger­ – Fortschritte erzielen, die der organisierten Kriminalität schaden und Konsumenten sauberen Stoff garantieren? Über solche Fragen sprechen wir mit Fachleuten in der Schweiz und den USA.

Teil 3

Carl Hart, Abhängigkeits­forscher

Sie lesen: Teil 4

Thomas Fingerhuth und Stephan Schlegel, Betäubungsmittel­gesetz-Experten

Teil 5

Toni Berthel, Präsident der Eid­ge­nös­si­schen Kommission für Sucht­fragen

Teil 6

Andrea Caroni, FDP-Ständerat

Schluss

Jessica Jurassica, Bloggerin

Warum gibt es diese kantonalen Unterschiede generell?

Schlegel: Weil die kantonalen Behörden für die Strafverfolgung zuständig sind und das Bundesgericht bei der konkreten Strafzumessung ihnen grosse Freiheiten gewährt. So kann jeder Kanton eine eigene Praxis entwickeln. Und die ist dann natürlich auch von politischen Vorstellungen der Staatsanwälte und Richter geprägt.

«Die heutige Situation ist Bullshit, man muss Drogen legalisieren»: Thomas Fingerhuth.

Fingerhuth: Um zu Ihrer Anfangsfrage zurückzukehren: Grundsätzlich kriegen Sie als Drogenhändler sehr schnell sehr grosse Probleme. Es ist eigentlich ziemlich verrückt, wie tief diese Grenzen für einen schweren Fall angesetzt sind. Bei Heroin spricht man schon bei 12 Gramm Reinsubstanz von einem schweren Fall. Bei Kokain ab 18 Gramm, bei Amphetamin ab 36 Gramm. Darauf steht eine Mindeststrafe von einem Jahr Gefängnis. Die Strafe steigt dann aber nicht linear an. Grosse Mengen werden verhältnismässig deutlich milder bestraft als kleine Mengen. Als Anwalt muss ich feststellen: Wenn Sie schon dealen wollen, ziehen Sie das Ganze besser gleich gross auf. Man handelt lieber gleich mit 10 Kilogramm als mit 50 Gramm. Ob einer mit 2 oder mit 3 Kilogramm erwischt wird, macht den Schaden dann auch nicht mehr wirklich grösser. Man darf aber nicht vergessen, dass Geld den Verlust der Freiheit und des sozialen Umfelds durch eine Gefängnisstrafe wohl nicht aufwiegt. Zudem zieht der Staat normalerweise den Gewinn aus dem Handel ein, sodass bei einer Verurteilung nur Schulden bleiben.

Schlegel: Für die konkrete Strafzumessung ist der Richter zuständig, der alle wichtigen Aspekte des vorliegenden Falls berücksichtigen muss. Hier kommt unser Gesetzeskommentar ins Spiel. Er soll den Gerichten in diesem Land helfen, die passende Strafe zu finden für eine konkrete Tat. Im Gesetz steht zum Beispiel nur, dass der Handel von Betäubungsmitteln, die viele Menschen gefährden können, als qualifizierter Fall gilt und mit einem Jahr Freiheitsstrafe bis zu zwanzig Jahren bestraft wird. Welche Strafe ist nun also angemessen, wenn jemand zum Beispiel 3 Kilogramm Kokain importiert?

Fingerhuth: Wir haben im Kommentar alle Kriterien für die Strafzumessung aufgelistet. Die erste Frage lautet immer: Überschreitet die Menge an reinen Drogen die Grenze zum qualifizierten Fall? Der Kommentar ist bei den Gerichten deshalb beliebt, weil er bei der Strafzumessung relativ konkret sagt, welche Strafen für bestimmte Mengen in etwa in Aussicht stehen.

Schlegel: Er enthält die Strafzumessungstabelle, die der St. Galler Staatsanwalt Thomas Hansjakob in den Neunzigern mit den genannten Untergrenzen für schwere Fälle entworfen hat. Diese Tabelle führt immer wieder zum Vorwurf einer «Grämmlijustiz», bei der die Einzelfallbetrachtung keine grosse Rolle spiele, die Tabelle entscheide. Dieser Vorwurf ist ja nicht falsch. Man kann durchaus darüber streiten, wie sinnvoll es ist, den Mengen ein derartiges Gewicht zu geben. Wir haben mit unserem Kommentar versucht, ein wenig Gegendruck zu geben.

Wie meinen Sie das?

Schlegel: Das Bundesgericht sagt eigentlich klar, dass bei der Strafzumessung noch viele andere Kriterien eine Rolle spielen, so steht es auch in unserem Kommentar. Wir haben sie aufgelistet. Wir wissen aber aus der regionalen Praxis, dass die Gerichte teilweise stark auf Hansjakobs Mengentabelle abstellen und alles andere rundherum als Schönfärberei betrachten. Die Tabelle ist ja nicht nur schlecht: Der Beschuldigte oder der Anwalt können so abschätzen, was im Urteil stehen kann.

Welche Kriterien wären denn für die Strafzumessung ebenfalls wichtig ?

Schlegel: Zum Beispiel dasjenige, welche Position der Angeklagte in der Hierarchie im Handel einnimmt. In St. Gallen zum Beispiel wird jemand, der viel Stoff dabei hat, automatisch dem Mittelbau zugerechnet, was strafverschärfend wirkt – selbst wenn er nur ein einfacher Kurier ist.

Fingerhuth: Ein Geständnis ist zum Beispiel ein sehr wichtiges Kriterium für die Strafzumessung. Das gibt einen grossen Abschlag bei einer Strafe. Angenommen, Sie werden mit 2 Kilogramm Koks erwischt. Dafür könnten Sie etwa 50 Monate bekommen. Unbedingt – ab 36 Monaten ist alles unbedingt. Bei einem Geständnis zieht man etwa 20 Monate ab. Dann sind es noch 30 Monate.

Gibt es weitere Kriterien?

Schlegel: Wie lange Sie im Geschäft waren. Wer über einen Zeitraum von drei Jahren Handel treibt, wird in der Regel härter bestraft als einer, der die gleiche Menge einmal in einem Monat umsetzt. Da geht es um die kriminelle Energie.

Fingerhuth: Dann spielt das Motiv eine Rolle: Warum hat er es gemacht? Aus der Not? Unter Druck? Konnte er nicht aussteigen, weil er Angst vor gewissen Leuten hatte? Das könnte einen Abschlag geben. Wenn Sie Teil einer organisierten Bande sind, wirkt sich das wiederum verschärfend aus. Letztlich ist das alles aber virtuell. Wie stark zum Beispiel ein Geständnis wirklich reduzierend wirkt, liegt im Ermessen des Gerichts.

Sie haben gesagt, dass es eigentlich verrückt sei, wie tief die Menge für schwere Fälle angesetzt sei. Würden Sie sagen, dass kleine Fälle zu hart bestraft werden?

Fingerhuth: Ich würde sagen, dass es bei Drogen einfach sehr schnell geht, dass man eine Gefängnisstrafe riskiert. 18 Gramm Kokain – das ist wirklich nicht viel. Das ist, als ob man sagen würde: Diebstahl ab 10’000 Franken gibt ein Jahr. Das gibt es nicht.

Schlegel: Diese Grenzen für schwere Fälle – 12, 18 oder 36 Gramm – hat das Bundesgericht festgelegt. Dabei geht es um die «Gefährdung von vielen Menschen». Nach Rechtsprechung sind das zwanzig Personen. Wenn man mindestens so viele Menschen gefährdet, begeht man nach Betäubungsmittelgesetz einen schweren Fall. Das war der Gedanke. Also 18 Gramm reines Kokain dealen zum Beispiel. Was nichts daran ändert, dass der Einstieg extrem ist, denn danach kommt es nicht mehr so drauf an. Wenn einer 1,8 Kilogramm verkauft, wird er nicht hundertmal härter bestraft, sondern nur drei- oder viermal härter.

Sagen wir, es ist Street Parade. Eine kauft für sich und ihre Freunde 10 Gramm Kokain. Die Polizei stoppt sie. Wird es mühsam?

Schlegel: Man sollte auf jeden Fall sagen, dass es sich um Eigenkonsum handelt. Blöd ist es, wenn Sie ein Kilo im Koffer dabeihaben. Da wird es schwierig zu behaupten, das sei zum Eigenkonsum. Der Punkt ist, dass es eine Privilegierung im Gesetz gibt, die besagt, dass alle Handlungen, die zum Eigenkonsum vorgenommen werden, nur Übertretungen sind. So wie Geschwindigkeitsbussen im Strassenverkehr, da bekommen Sie ein paar hundert Franken Busse und Verfahrenskosten auferlegt.

Fingerhuth: Wenn man mit Betäubungsmitteln erwischt wird, sollte man sinnvollerweise immer behaupten, dass es für den Eigenkonsum ist. Blöd ist es natürlich, wenn man dabei beobachtet wurde, wie man etwas an andere abgegeben hat.

Schlegel: In diesem Fall kriegen Sie wirklich schnell grosse Probleme. Auch wenn Sie die Drogen für Ihre Freunde kaufen und sie dann gratis an einer Party an Freunde verteilen, gilt das bereits als Abgabe von Betäubungsmitteln und bedeutet eine Freiheitsstrafe beziehungsweise – je nach Menge – eine Geldstrafe. Wenn Sie aber gemeinsam mit Ihren Freunden einen Joint rauchen, wäre das zwar juristisch auch bereits Abgabe, wird aber noch unter der Privilegierung des Eigenkonsums erfasst.

Fingerhuth: Eine Geld- und Freiheitsstrafe bedeutet, dass es automatisch einen Eintrag ins Strafregister gibt. Gewisse Leute trifft das empfindlich. Andere wiederum hätten lieber eine bedingte Geldstrafe als eine Busse. Denn eine Busse muss man bezahlen, während eine bedingte Geldstrafe nach zweijähriger Probezeit gestrichen wird.

Schlegel: Grundsätzlich sollte man sicherlich nicht 30 Gramm Kokain auf einmal kaufen, ganz egal, wie toll die Party ist, die ansteht. Das sollte man wirklich nicht tun. Wenn man wöchentlich eine kleine Menge kauft, ist das nicht das Riesenproblem. Die Sache mit dem Eigenkonsum kann unter Umständen trotzdem eine heikle Geschichte sein, und zwar wegen des möglichen Führerausweisentzugs. Sie sollten auf keinen Fall sagen, dass Sie regelmässiger Konsument sind. Oder dass Sie konsumieren, wenn Sie Auto fahren. Das gibt dann auf jeden Fall eine Meldung ans Strassenverkehrsamt.

Zürich ist Vizeeuropameister im Kokainkonsum. So viele Leute in dieser Stadt konsumieren illegalisierte Substanzen, aber kaum jemand scheint deswegen Probleme zu bekommen. Stimmt dieser Eindruck? Wie komme ich überhaupt ins Visier von Betäubungsmittelfahndern?

Fingerhuth: Nun, wenn Sie, wie das immer wieder mal an uns herangetragen wird, mehrere hunderttausend Euro gefaltet und gepresst ins Auto eingebaut haben und damit an der Grenze erwischt werden, verlangt das natürlich schon nach einer Erklärung …

Nein, wir meinen als Normalkonsument ...

Fingerhuth: Wenn Sie nicht gerade in eine Verkehrskontrolle geraten, interessiert es die Polizei ehrlich gesagt nicht sonderlich, ob jemand, der normal funktioniert, nebenbei ein wenig LSD konsumiert oder manchmal ein paar Linien zieht. Es gibt ja auch Leute, die regelmässig Heroin konsumieren und ganz normal funktionieren.

Schlegel: Ein typisches Setting, wo normale Konsumenten überproportional auffliegen, sind Bestellungen aus dem Ausland im Darknet – etwa Hanfsamen oder Grow-Kits für psychedelische Pilze. Oder wenn die Polizei einen Kleindealer hochnimmt, geraten manchmal ein paar Konsumenten mit in den Fokus. Die kriegen dann eine Busse.

Fingerhuth: Viele Dealer agieren wirklich sehr doof. Entweder haben sie ein schwarzes Büchlein, in dem sie die Ein- und Ausgaben notieren, oder man findet alle ihre Abnehmer in ihrem Handy …

«Es ist einfacher, einer Minderheit den Spass zu verbieten, als einer Mehrheit»: Stephan Schlegel.

Schlegel: Das läuft nicht nur bei Kleindealern so, sondern auch im Kilobereich … Beim Handel läuft vieles auch auf Kredit. Da steht dann auf irgendwelchen Zetteln kryptisches Zeug wie «M 100 / 5000». Die Polizei kann dann daraus ableiten, an wen wie viel verkauft wurde und zu welchem Preis. Das sind häufig ganze Buchhaltungen, extrem belastendes Material. Ein Dealer muss schliesslich auch im illegalen Geschäft die Übersicht behalten und mit dem Lieferanten abrechnen.

Fingerhuth: Die Leute sind so in ihrem Ding drin, dass sie die Gefahr fast vergessen. Sie reden auch immer wieder erstaunlich offen am Telefon, obwohl ja jeder weiss, dass Telefone in diesem Bereich abgehört werden. Klar, man versucht es ein wenig zu kaschieren, spricht von Pizzas oder CDs, aber der Fall ist klar. Was wir hier in Zürich bis vor ein paar Jahren häufig hatten, waren Anzeigen im Zusammenhang mit therapeutischen Settings …

Legale Drogentherapien?

Fingerhuth: Natürlich nicht. Trotzdem sind diese Therapieformen in Zürich verbreitet. Therapeuten, die psychedelische Substanzen einsetzen: LSD, MDMA, Ketamin, Ayahuasca. Sie behandeln zum Beispiel Menschen, die schwer depressiv sind, bei denen man mit einer normalen Gesprächstherapie nicht an das Problem herankommt. Die Substanzen sollen wie ein Bohrer wirken. Sie gehen durch die Wand durch, die das Problem verstellt, und sie öffnen. Und dann kann man es anschauen. Das ist die Idee hinter solchen Therapien.

Schlegel: Dabei kann natürlich einiges schiefgehen. Patienten, die einen Zusammenbruch haben. Oder dass solche Substanzen im Rahmen einer Paartherapie eingesetzt werden und die eine Person plötzlich findet, sie will jetzt nicht mehr mit dem Partner zusammen sein. Da ist die andere Person dann überzeugt, der Psychiater sei schuld, die Drogen hätten zur Trennung geführt. Sie geht zur Polizei, macht eine Anzeige, und alles fliegt auf.

Grundsätzlich ist es aber schon so, dass Normalkonsumenten wenig Probleme haben. Und wenn sie mal ein Problem haben, gehen sie damit nicht gleich zum Anwalt. Warum sollte man das wegen einer Busse tun? Klar, wenn der Führerausweis dranhängt, dann kommen die Leute schon. Oder wenn man in einem bestimmten Beruf arbeitet, in dem es problematisch wäre, wenn der Konsum dem Arbeitnehmer oder den Aufsichtsbehörden bekannt wäre. Etwa als Anwalt, Arzt, Lehrer.

Fingerhuth: Fälle, die wir sehr häufig haben und bei denen die Beteiligten wirklich sehr stark unter dem Drogenverbot leiden, sind Leute von der Gasse. Menschen, die ich seit zwanzig Jahren vertrete, die sich den Konsum durch Kleinhandel verdienen und nicht mehr aus dem Strudel rauskommen. Chronische Konsumenten, die der Polizei längst bekannt sind, die regelmässig erwischt werden, weil sie ihr Leben nur finanzieren können, indem sie dealen. Die können ihren Konsum anders gar nicht finanzieren. Und werden wieder hochgenommen und wieder und wieder. Das ist völlig bizarr und unnötig. Armi Sieche. Man würde ihnen am besten einfach ihren Stoff abgeben. Denn es ergibt einfach keinen Sinn, diese Leute zu plagen. Und natürlich plagt man sie. Und natürlich ist es ein Fakt, dass die Leute vom Radar verschwinden würden, wenn sie Geld hätten. Sie würden sich ihr Heroin ganz einfach leisten können und nicht weiter auffallen. In diesem Feld trifft das Betäubungsmittelgesetz Arme, weil sie arm sind.

Schlegel: Der Konsument geht auf die Gasse, um sich seinen Konsum zu finanzieren, und läuft einem Polizisten in die Arme, der sich als Käufer ausgibt. Der Beamte kann ihn dann nicht laufen lassen. Wir haben manchmal chronische Konsumenten, die die Polizei nicht in Ruhe lässt, weil sie hofft, dass sie irgendwann ihre Dealer verpetzen, wenn sie sie immer und immer wieder anhält.

Fingerhuth: Die heutige Situation ist Bullshit. Man muss Drogen legalisieren. Klar, für uns als Anwälte ist die Situation gut, wir verdienen mit der Strafverteidigung Geld. Gleichzeitig sehen wir diese Never-ending-Story: Selbst wenn mal ein angeblich grosser Fisch mit 40 Kilo erwischt wird, steht am nächsten Tag einfach der nächste da.

Schlegel: Letztlich ist es eine ganze Industrie von Therapeuten, Medizinern, Staatsanwaltschaften, Polizeibeamten, Anwälten, Medien, die von der Illegalisierung profitiert. Zugespitzt gesagt wäre wohl die Hälfte der Untersuchungsgefängnisse in diesem Land leer, wenn Drogen legalisiert wären. Klar, eine Regulierung von Substanzen, wie immer die aussehen würde, würde neue Arbeitsplätze schaffen. Die Drogen müssten ja produziert, zertifiziert und verkauft werden.

Beim Cannabis sagt das Betäubungsmittelgesetz, dass Kleinstmengen, bis 10 Gramm, straffrei blieben. Warum gilt das nicht für andere Substanzen?

Fingerhuth: Es ist nicht so, dass das grundsätzlich nicht für andere Substanzen gelten würde.

Wie meinen Sie das?

Schlegel: Im Gesetz steht: «Wer eine geringfügige Menge eines Betäubungsmittels für den Eigenkonsum vorbereitet (…), ist nicht strafbar …» Das Bundesgericht hat irgendwann mal gesagt, vorbereiten ist auch, wenn man die Drogen für den Eigenkonsum besorgt oder aufbewahrt. Die grosse Diskussion war immer: Wann ist die Menge geringfügig, und von welchem Betäubungsmittel reden wir? Von allen? Eigentlich meint das Gesetz jedes Betäubungsmittel. Man könnte also sagen: Die Vorschrift wird bis heute einfach nicht richtig angewendet. Und was heisst geringfügig? Ein Joint? Zwei Ecstasy-Tabletten? Ein Gramm Kokain? Der Gesetzgeber hat diese Menge dann für Cannabis 2008 festgelegt, aber für alle andere Substanzen lässt er es bis heute offen. Wenn man an der Street Parade jemanden mit ein paar Pillen erwischt, könnte man nach heutiger Vorschrift durchaus sagen: «Das ist eine geringfügige Menge und deswegen straffrei.»

Wieso hat man beim Cannabis diese Mengen festgelegt und bei den anderen Substanzen nicht?

Schlegel: Nachdem die Legalisierungsinitiative 2008 gescheitert war, hat man sich überlegt, wie man beim Cannabis eine gewisse Entkriminalisierung hinbekommen könnte, ohne dass es riesige Diskussionen gibt. Man sah bei dieser Substanz die Notwendigkeit, weil sie so breit konsumiert wird. Bei den anderen Substanzen sah man sie nicht. Oder man fürchtete sich vor der Diskussion, wenn man sagen würde, ein Gramm Kokain sei jetzt quasi legal. Dieses Vorgehen ist vor allem in Bezug auf Substanzen absurd, die von der Gefährlichkeit her mit Cannabis vergleichbar sind: MDMA, Pilze, LSD. Bei LSD ist es eigentlich regelrecht verrückt, dass diese Substanz unter dem Betäubungsmittelgesetz verboten ist. Denn sie macht nicht abhängig. Das aber wäre die Voraussetzung für ein Verbot. Betäubungsmittel sind nach dem Gesetz «abhängigkeitserzeugende Substanzen». Anders Alkohol: Das macht aus der Substanz heraus abhängig und ist legal. Oder Zigaretten.

Fingerhuth: Alkohol ist eine gesellschaftlich anerkannte Droge, welche die übergrosse Mehrheit konsumiert. Die anderen Stoffe werden von einer Minderheit konsumiert.

Schlegel: Und es ist einfacher, einer Minderheit den Spass zu verbieten, als einer Mehrheit. Auch wenn es sehr inkonsequent ist.

Zu den Gesprächspartnern

Thomas Fingerhuth verfasste 2002 mit Christof Tschurr den ersten, fast tausendseitigen Kommentar zum Betäubungsmittelgesetz (BetmG), der heute in dritter Auflage vorliegt. Als Strafverteidiger machte Fingerhuth immer wieder mit medial beachteten Fällen von sich reden, etwa als ihm 2012 eine Klientin gestand, ihre drei Kinder umgebracht zu haben.

Stephan Schlegel ist zusammen mit Oliver Jucker und Thomas Fingerhuth Co-Autor der 2016 bei Orell Füssli erschienenen dritten Auflage des BetmG-Kommentars. Der Rechtsanwalt arbeitet auch als Lehrbeauftragter an den Universitäten Zürich und Basel.

Fingerhuth und Schlegel arbeiten bei der Zürcher Kanzlei Meier Fingerhuth Fleisch Häberli mit Schwerpunkt auf Straf- und Strafprozessrecht.

Was ist Ihre Meinung zur Drogenpolitik?

Gibt es Alternativen zum Krieg gegen die Drogen? Was halten Sie von einer regulierten Abgabe von Kokain? Welches sind die Vorteile, welches die Risiken einer kontrollierten Legalisierung? Wir freuen uns auf Ihren Beitrag!

Serie «Let’s Talk About Drugs»

Teil 3

Carl Hart, Abhängigkeits­forscher

Sie lesen: Teil 4

Thomas Fingerhuth und Stephan Schlegel, Betäubungsmittel­gesetz-Experten

Teil 5

Toni Berthel, Präsident der Eid­ge­nös­si­schen Kommission für Sucht­fragen

Teil 6

Andrea Caroni, FDP-Ständerat

Schluss

Jessica Jurassica, Bloggerin