Die Frau mit der Sonnenbrille im Kino
Von Michael Rüegg, 13.11.2018
«Ich dachte: Warum um Himmels willen trägt die eine Sonnenbrille im Kinosaal?», erzählt mir Marco. Vor einigen Wochen, während des Zurich Film Festival, besuchte mein alter Freund eine Kinovorstellung. Gezeigt wurde ein Dokfilm über Mathangi Arulpragasam.
Arulpragasam ist eine junge Engländerin, die aus Sri Lanka stammt. Ihr Vater hatte einst eine Widerstandsorganisation mitgegründet, die später in den Tamil Tigers aufgegangen war. Zu Beginn des Bürgerkriegs war «Maya», wie sie sich auch nennt, aus ihrer Heimat nach Grossbritannien geflohen. Heute ist sie Musikerin und Produzentin, bekannt unter dem Namen M.I.A. Der Film erzählt ihre Geschichte.
Hinter Marco sass im Publikum die Frau mit der Sonnenbrille, gross, blondes Haar. Neben ihr eine andere Frau, die selber an die Protagonistin des Films erinnerte. Vermutlich, dachte Marco, auch aus Sri Lanka stammend.
Bevor der Streifen begann, verschwand die Sonnenbrille vom Gesicht der Dame. Ein Blick über die Schulter bestätigte, was Marco bereits leise ahnte: Da sass tatsächlich Alice Weidel. In Zürich. Dieselbe Alice Weidel, die als Fraktionschefin der AfD im Bundestag sitzt. Die dort über «Kopftuchmädchen, alimentierte Messermörder und andere Taugenichtse» schimpft. Von der ein E-Mail auftauchte, in der sie über «kulturfremde Völker wie Araber, Sinti und Roma» herzog.
Dieselbe Alice Weidel schaute sich einen Film an über die Geschichte eines Flüchtlingskindes, das sich erfolgreich in eine europäische Gesellschaft integrieren konnte.
«Ich wäre nach dem Film gerne zu der Weidel hingegangen», sagt Marco, «und hätte sie gefragt, wie sie über Mathangi Arulpragasam und ihre Geschichte denkt.»
Doch Frau Weidel setzte umgehend wieder die Sonnenbrille auf und verschwand mit ihrer Frau aus dem Kino. Wie schön wäre es, denke ich so bei mir, wenn der Film etwas genützt hätte.