Plündern, töten, ausrotten – ein Kinderleben
Noch nie hat es am Internationalen Strafgerichtshof einen Prozess gegen einen ehemaligen Kindersoldaten gegeben. Wie kann jemand Täter sein, der doch selbst ein Opfer war? Und warum ist dieser Fall für das Gericht so wichtig? Teil II/II.
Von Elsbeth Bräuer und Minh Thu Tran, 07.11.2018
Dieses Gericht wird nicht entscheiden, ob Dominic Ongwen gut oder böse ist, auch nicht, ob er Mitleid verdient, sondern ob er sich der schweren Verbrechen schuldig gemacht hat, die er als Erwachsener begangen hat und für die er hier angeklagt ist.
Der Prozess beginnt
Den Haag, 6. Dezember 2016: Dominic Ongwen sitzt hinter seinen Anwälten. Er ist 41, wirkt aber jünger, ein mittelgrosser Mann mit weichen, ebenmässigen Gesichtszügen. Er trägt einen locker sitzenden Anzug, ein rosafarbenes Hemd und eine blaue Krawatte. Er sieht nicht aus wie ein Mensch, der einer Frau in den Rücken sticht, weil sie die falsche Frisur hat. Wie einer, der lacht, wenn er erzählt, wie viele seine Brigade getötet hat. Aber wie soll so jemand schon aussehen?
Richter Bertram Schmitt: Sie sagen, Sie verstehen die Anklage nicht. Können Sie sich daran erinnern, Folgendes gesagt zu haben, ich zitiere: «Dass ich die Anklageschrift gelesen und verstanden habe»?
Dominic Ongwen: Ich habe die Anklageschrift verstanden. Aber ich verstehe die Anklagepunkte gegen mich nicht. Die LRA [Lord’s Resistance Army] hat in Norduganda schreckliche Verbrechen begangen, und ich bin ein Opfer dieser Verbrechen. (…) Im Namen Gottes bestreite ich all diese Anklagepunkte im Hinblick auf den Krieg in Norduganda.
Richter Bertram Schmitt: Sie plädieren also auf nicht schuldig in allen Anklagepunkten, nehme ich an.
Dominic Ongwen: Ja.
Ein Fall wie kein anderer
Einen Fall wie den von Dominic Ongwen hat es noch nie gegeben am Internationalen Strafgerichtshof (IStGH). Zum ersten Mal steht ein ehemaliger Kindersoldat vor Gericht, zum ersten Mal umfasst ein Fall siebzig Anklagepunkte, und zum ersten Mal wird jemand eines Verbrechens bezichtigt, das an ihm selbst begangen wurde: Rekrutierung und Einsatz von Kindersoldaten.
Dass Täter auch Opfer sind, kommt vor Gericht häufiger vor: der Drogendealer aus zerrütteten Familienverhältnissen, das Missbrauchsopfer, das selbst missbraucht. Doch selten sind die Fälle so spektakulär wie der von Dominic Ongwen. Er ist zwar nur für Verbrechen angeklagt, die er im Erwachsenenalter begangen haben soll. Und doch wirft der Prozess grundlegende Fragen auf: Ist einem Kind, das schwer traumatisiert ist und ständig Gewalt erfährt, der Weg vorgezeichnet? Hat man als Kindersoldat überhaupt eine Wahl? Was macht einen zu dem, der man ist?
Für Dominic Ongwens Verteidiger ist die Sache klar. «Schlechte Umstände schaffen schlechte Menschen», sagt er vor Gericht. Krispus Ayena Odongo und sein Team wollen beweisen: Ongwen ist kein Täter, sondern ein Opfer.
Nach einem Verhandlungstag im März 2017 muss Ayena Odongo erst mal Frust ablassen. Der Verteidiger, ein untersetzter Mann mit Glatze und gutmütigen Augen, ist sauer. Stundenlang hat heute ein ehemaliger LRA-Kämpfer vor Gericht ausgesagt. «Dominic Ongwen hat entsetzliche Dinge getan. Er hat Zivilisten Schlimmes angetan.» Der Verteidiger fragt ihn entnervt: «Also wollten Sie nur herkommen und dem Gericht schlechte Dinge über Ongwen erzählen. Ist das korrekt?»
Die Tür zum Besprechungsraum stösst er heftig auf, setzt sich breitbeinig auf den Stuhl wie ein Cowboy. Die Anklage sei befangen, schimpft er, mit dem Fall Ongwen wolle sich das Gericht nur profilieren.
Ayena Odongo provoziert gern. Er sagt Dinge wie: «Ich verabscheue den Internationalen Strafgerichtshof.» Oder: «Ich würde sogar den Teufel verteidigen, wenn er zu mir käme.» Vieles an ihm scheint wie ein Klischee aus einem TV-Gerichtsdrama: die Lederschuhe mit Schlangenmuster, die dramatischen Pausen, wie verächtlich er über die Anklage spricht. Er hat die LRA in den Friedensverhandlungen vertreten, dort lernte er Ongwen kennen. Ongwen wird dem Anwalt später sagen, dass Gott ihm im Traum erschien und ihm sagte: Lass dich von Ayena Odongo verteidigen.
Der setzt auf eine kühne Strategie: Nötigung. Wenn Ongwen Verbrechen begangen hat, dann stets unter Zwang, sagt die Verteidigung. «Wenn dir jemand eine Pistole an den Kopf hält und dich zwingt, jemanden zu töten, dann musst du das tun», sagt Ayena Odongo. Genauso sei es bei Ongwen gewesen, über zwanzig Jahre hinweg. Als er Kommandant war, war da vielleicht keine körperliche Gewaltandrohung mehr im Spiel – aber sehr wohl eine spirituelle. In der LRA glaubte man, der Rebellenführer Kony sähe und wüsste alles. Die Gehirnwäsche einer Terrormiliz.
«Aber wie überzeugt man die weissen Richter, dass ein Afrikaner an so etwas glaubt?», fragt Ayena Odongo. Und lässt einen Vorwurf anklingen, den man dem IStGH öfter gemacht hat: Es stehe für eine rassistische, koloniale Justiz.
Und es stimmt ja: Auf der Anklagebank landen meist afrikanische Angeklagte. Spöttisch bezeichneten afrikanische Politiker den IStGH schon als «Internationalen Kaukasischen Gerichtshof», als «Spielball untergehender Imperialmächte» oder als «Haufen nutzloser Leute». Dabei lässt sich der Vorwurf des Rassismus nicht halten. Viele afrikanische Länder haben die Fälle selbst an den IStGH übergeben. Die Chefanklägerin Fatou Bensouda ist Gambierin, und am Strafgerichtshof sind viele afrikanische Mitarbeiter angestellt.
Unter Druck
Im Jahr 2002 nahm der Internationale IStGH in Den Haag seine Arbeit auf: ein ständiges Gericht, nicht für einen bestimmten Konflikt zuständig, sondern für Gräueltaten in aller Welt. Damit sich nicht wiederholt, was schon so oft geschehen ist: dass geplündert, gefoltert, getötet wird, dass ganze Ethnien oder Glaubensgemeinschaften ausgerottet werden, von Deutschland bis Ruanda.
Vor allem geht es um Verbrechen gegen Zivilisten: Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit – systematische Attacken gegen Zivilpersonen. Der IStGH wird aktiv bei Verbrechen, die ein einzelner Staat nicht verfolgen kann oder will.
Doch die Bilanz ist mager. Seit der IStGH vor sechzehn Jahren seine Arbeit aufnahm, hat er in nur sechs Fällen Urteil gesprochen. Auf der Anklagebank sassen schon kongolesische Warlords oder Islamisten aus Mali. Der Ex-Milizenführer Jean-Pierre Bemba wurde erst wegen Kriegsverbrechen verurteilt, dann im Berufungsverfahren freigesprochen.
Das Gericht leidet unter seinen Geburtsfehlern: Es hat keine eigene Polizei und ist bei seinen Ermittlungen oft von lokalen Machthabern abhängig. Kritiker behaupten, der IStGH verfolge lieber Rebellengruppen als Regierungen, die weiter fest im Sattel sitzen. Und lieber Schwarze als Weisse. Denn bisher sassen vor allem Afrikaner auf der Anklagebank. Auch deshalb drohten Länder wie der Senegal und Nigeria schon mit dem Austritt.
Grossmächte wie die USA, Russland und China haben das Gründungsstatut nie ratifiziert. Besonders die Trump-Administration stört sich an dem Gericht. Noch im September 2018 drohte der Nationale Sicherheitsberater John Bolton dem IStGH mit Sanktionen. Das Gericht ermittelt aktuell in Afghanistan. Es geht um Kriegsverbrechen von Taliban, aber auch um Foltervorwürfe gegen US-amerikanische Soldaten. «Der ICC ist für uns gestorben», sagte Bolton. Auf Englisch heisst der Gerichtshof International Criminal Court.
Die Anklagebehörde steht unter Druck. Eineinhalb Jahre lang präsentiert sie akribisch neue Zeugen, neue Beweise für Ongwens Schuld. Für sie steht fest: Als Kommandant war Ongwen unabhängig. Er traf seine eigenen Entscheidungen. Der höhere Rang bedeutete, dass er Befehlsgewalt über seine Soldaten hatte und sie ihm Bericht erstatteten. Manchmal vergingen Jahre, ohne dass er seinen Vorgesetzten Kony zu Gesicht bekam. Er handelte also nicht ständig aus Not und aus Angst vor physischer Gewalt heraus. Die Anklage sagt, Ongwen hätte seine Soldaten einfach zur nächsten Militärbaracke führen und die Waffen niederlegen können. Er hätte genug Gelegenheiten zur Flucht gehabt. Wenn es so vielen Kindersoldaten gelang, zu entkommen, warum sollte es dann einem Kommandanten nicht möglich sein?
Zeugen der Anklage
Mehr als 6000 Kilometer von Den Haag entfernt. In Gulu, einer Stadt im Norden Ugandas, macht sich Jimmy Otim an einem Montagmorgen im Mai 2018 auf zu einer «Mission», wie er sagt. Auch er war Kindersoldat bei der LRA. Heute arbeitet er für den Internationalen Strafgerichtshof. In Jeans und rosa Poloshirt steigt Otim in das Einsatzauto. Der weisse Landrover rattert über die Strassen, bald wird der Staub ihn rot färben. Es geht nach Pajule, in eines der Dörfer, die besonders unter den Angriffen der LRA gelitten haben.
Norduganda ist ländlich geprägt. Viele Menschen hier leben vom Ackerbau. Nur wenige Haushalte haben Strom und fliessend Wasser, geschweige denn Fernsehen und Internet. Zum Prozess in Den Haag können die wenigsten anreisen. Der IStGH organisiert deshalb Screenings, Video-Übertragungen. «Damit bringen wir den Gerichtssaal, der so weit entfernt ist, vor ihre Haustüren», sagt Jimmy Otim.
Bürgerrechtlerinnen protestieren, das genüge nicht. Sie fordern, dass der Prozess in Uganda stattfindet, näher an den Menschen, an den Opfern. Das gehe aus Sicherheitsgründen nicht, entgegnet der IStGH. Und weil die Gerichtssäle in Uganda oft technisch schlecht ausgestattet seien.
In Pajule läuft fröhliche ugandische Popmusik. Frauen und Kinder warten im Ortszentrum, nach und nach kommen die Bauern mit Spaten und Spitzhacke vom Feld. Otim schleppt mit seinem Fahrer Sixpacks Softdrinks, hilft beim Anwerfen des Generators. Unter dem Mangobaum steht ein Flachbild-Fernseher. Hier wird es die nächsten 45 Minuten um Paragrafen und Schuldfähigkeit gehen.
Der IStGH tut viel, um die Bevölkerung über den Ongwen-Fall auf dem Laufenden zu halten. Laut Gerichtshof verfolgten etwa 13’000 Menschen den Prozessauftakt bei den Screenings, mittlerweile sei das Interesse zurückgegangen. Es gibt Radio- und Fernsehsendungen, einen Whatsapp- und SMS-Service. Eine gute Sache, finden viele. Nicht ganz uneigennützig, sagen andere. Sie halten die Übertragungen für einen geschickten PR-Stunt, in dem sich der Strafgerichtshof als nahbar inszeniert, als Kämpfer für die Gerechtigkeit.
Jimmy Otim ist in Pajule ganz der Pressesprecher. Aber die Freundlichkeit wirkt nicht professionell-aufgesetzt. Er kennt viele Leute persönlich, begrüsst sie jovial mit Handschlag. Dazwischen klingelt immer wieder sein Handy. «Das ist beruflich, da muss ich rangehen», sagt er, nicht ohne Stolz. Ein Interviewtermin um 14 Uhr beim Radiosender Gulu FM, dann ploppt bei Whatsapp eine Nachricht auf, ein Briefing für die IStGH-Mitarbeiter in Kampala kommende Woche.
Jimmy Otims Vergangenheit kennen die meisten hier nicht. «Ich erzähle es den Leuten nicht», sagt er, «sonst würden sie sich nur auf meine persönliche Geschichte konzentrieren und nicht auf den IStGH.» Nein, die Arbeit bringe bei ihm fast nie Erinnerungen hoch. Die Dinge seien im Langzeitgedächtnis, und dort hätten sie ihren Frieden gefunden.
Nicht allen geht es so. Viele Opfer der LRA sind von den Ereignissen traumatisiert. Manche haben den Angriff überlebt, um sich später in den Tod zu trinken. Wer keine Therapie macht, dem kann das Trauma auch Jahre später noch genauso den Boden unter den Füssen wegziehen wie kurz nach dem Angriff. Zusammengebrochen ist beim Screening noch niemand, sagt Otim. Aber man sehe an ihren Gesichtern, wie sehr es die Leute berührt.
Während der Übertragung ist es still. Als das Handy einer Frau klingelt, werfen die anderen ihr böse Blicke zu. Die Dorfbewohner schauen konzentriert auf den kleinen Flachbildschirm – vor allem, wenn Dominic Ongwen erscheint. Viele Opfer sehen ihn zum ersten Mal im Fernsehen, da er bei einigen Angriffen nicht am Tatort war.
Warum trägt so einer einen feinen Anzug, werden viele nachher fragen. «Zu essen bekommt er offenbar genug, sogar einen Fernseher hat er in Den Haag», sagt eine Frau, Verachtung in der Stimme. Steht das einem Häftling zu? «Früher», sagt eine andere, «da brachte man Mörder nach Kampala, verband ihnen die Augen und tötete sie mit einem Schlag in den Nacken.»
Der IStGH kennt keine Todesstrafe. Die Höchststrafe ist dreissig Jahre Gefängnis, in besonders schweren Fällen auch lebenslang. Die bisherigen Strafen fielen nicht sehr hoch aus. Thomas Lubanga, Anführer einer kongolesischen Miliz, die Kindersoldaten rekrutierte, bekam vierzehn Jahre Haft. Germain Katanga, Komplize bei Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: zwölf Jahre. Ahmad al-Faqi al-Mahdi, Zerstörung von Weltkulturerbe-Stätten in Mali: neun.
Nach der Übertragung lässt sich Jimmy Otim ein Mikrofon geben. Die Leute haben viele Fragen. Meistens sind es dieselben: Warum steht Ongwen vor Gericht, obwohl er als Kind entführt wurde? Welche Beweise gibt es? Am Anfang musste Otim noch erklären, was der IStGH ist. Mittlerweile wissen manche Bewohner hier aus dem Stand heraus, dass man gerade beim 52. Zeugen der Anklage ist. «Warum dauert der Prozess so lange?», fragt eine Frau. «Mit der Gerechtigkeit ist es so wie mit dem Kochen», antwortet Otim, «ihr seid hungrig, ihr wollt essen, aber ihr müsst das Fleisch trotzdem gut durchkochen, sonst wird das nichts.»
Komplexe Fälle, wenig Geld
Eine halb gare Antwort. Denn selbst Experten, die dem Gericht nahestehen, finden, der IStGH arbeite ineffizient. Die Verfahren sind langwierig und teuer. Der Bemba-Prozess zog sich über acht Jahre hin, nach seiner Verurteilung gab es ein Berufungsverfahren und dann doch einen Freispruch. Die Ineffizienz am IStGH hat nicht nur, aber auch mit dem Budget zu tun. 147 Millionen Euro beträgt das Jahresbudget 2018.
Finanziert wird das Gericht vor allem von seinen Mitgliedsstaaten. Doch trotz zunehmender Ermittlungen bekommt es nicht proportional mehr Geld. Der Rechtsexperte Stuart Ford hat untersucht, wie viel nationale Gerichte in Westeuropa und den USA für vergleichbare Ermittlungen ausgeben. Sein Fazit: Ihnen stehen zehn- bis hundertmal mehr Ressourcen zur Verfügung als dem IStGH – und das, obwohl er in schwereren und komplexeren Fällen ermittelt.
An der Aufklärung des Falls der über der Ostukraine abgeschossenen MH17-Maschine arbeiteten mehr als 1300 Mitarbeiter. Beim IStGH bestehen die Ermittlerteams aus maximal 35 Personen. Aus Kostengründen nutzt das Gericht nur zwei der drei Gerichtssäle in Den Haag gleichzeitig. Das Gericht will sparen. Dabei kostet allein die Sicherheitsverwahrung für eine Handvoll Angeklagter laut «Journalists for Justice» etwa 2,5 Millionen Euro pro Jahr.
Geld, das die Opfer der LRA dringend brauchen könnten. Rund fünfzehn Jahre nach der Tat sind die Gemeinden von Pajule, Lukodi, Odek und Abok immer noch wirtschaftlich schwer getroffen. In den Angriffen haben sie alles verloren: ihr Vieh, ihre Häuser. Weil sie die hohen Schulgebühren für ihre Kinder nicht mehr bezahlen konnten, mussten viele davon die Schule abbrechen. Viele lungern nur noch herum, sagen die Alten, sind aggressiv und trinken und sehen keinen Sinn im Leben.
Wie viel die über 4000 Opfer bei einem Schuldspruch gegen Ongwen jeweils bekommen werden, ist noch unklar. Im Katanga-Fall gab es eine Entschädigung von 250 Dollar – zusätzlich zu kollektiven Reparationen wie Hilfe bei der Schulbildung oder Jobsuche. Für viele ein Schlag ins Gesicht, nachdem sie so viele Jahre auf ein Urteil gewartet hatten.
Wie beweist man ein Kriegsverbrechen?
Hat Ongwen die Angriffe auf Lukodi, Pajule, Odek und Abok geplant und angeordnet? Das zu beweisen, ist keine leichte Aufgabe. Denn die Verfahren am IStGH sind viel komplizierter als ein einfacher Mordprozess. Oft liegen die Verbrechen schon lange zurück: Im Fall Ongwen sind es vierzehn, fünfzehn Jahre. Viel Beweismaterial ist bis dahin vernichtet. Dazu kommt, dass die Tatorte in weit entfernten Ländern liegen, in denen der Gerichtshof bei der Recherche auch von Dritten abhängig ist.
Im internationalen Strafrecht verfolgt man nicht den Täter mit blutigem Messer in der Hand, sondern Diktatoren, Warlords, Generäle. Sie begehen Verbrechen im grossen Stil – aber oft nicht persönlich. Manchmal ordnen sie sie an, manchmal lassen sie ihre Untergebenen einfach gewähren. Wer die Taten nicht verhindert oder die Täter nicht nachträglich bestraft, kann trotzdem haftbar gemacht werden.
«Vorgesetzten-Verantwortlichkeit» nennt sich das – und auch die ist schwer zu beweisen. In den wenigsten Fällen werden Befehle dokumentiert. Gegen Ongwen hat die Anklage immerhin abgefangene Funksprüche in der Hand: Er erstattete oft Bericht an seine Vorgesetzten, wenn auch in Codesprache.
«Wir gehen zum Garten des Zuckerrohrs» hiess etwa «Wir überqueren jetzt den Fluss». Doch um die Befehlskette nachzuzeichnen, muss man die Strukturen in der LRA verstehen. Wanderten Befehle von oben nach unten, sodass der mit dem höheren Rang verantwortlich ist? Oder war die LRA chaotischer, widersprüchlicher, glich mehr einer Gang als einer Armee, in der Befehle schon mal eine Hierarchieebene überspringen konnten? Selbst Ongwens Leibwächter Sam, der ständig an seiner Seite war, weiss nicht, ob Ongwen aus eigenem Antrieb handelte oder seinerseits unter Zwang Befehle ausführte.
Und dann ist da noch die Sache mit den Zeugen. 69 erschienen für die Anklage in Den Haag. Nach vierzehn Jahren erinnern sich diese natürlich nicht mehr an alles. Während einer Attacke hat man Dringenderes zu tun, als sich die Zahl der Angreifer zu merken. Bei Überlebenden des Massakers kommt noch das Trauma dazu. Das macht etwas mit der Erinnerung.
Oft wird, bei einem so hohen Stresslevel, das Ereignis vom Kontext abgespalten: von Zahlen, Daten, Fakten. Man erinnert sich zwar noch an das Blut, die Angst, den Horror. Aber Angriffe überlappen sich im Gedächtnis, die Zeugen verwechseln Orte und Namen. Die Verteidigung nutzt das aus.
Immer wieder stellen Ongwens Anwälte Detailfragen, die auf den ersten Blick absurd wirken: Wie lang war der Fluss? Wie weit waren die Dörfer voneinander weg? Die Zeugen haben darauf meist keine Antwort.
Was den Prozess noch komplizierter macht, ist die Frage der Schuldfähigkeit. Wusste Ongwen, was er tat? Sein Anwalt will Ongwens psychische Verfassung zum Tatzeitpunkt zum Thema machen. Damals war er schwer traumatisiert, litt unter Depressionen, behauptet die Verteidigung. Doch kann man das glauben?
Eine, die es nicht tut, ist Catherine Abbo. Die ugandische Psychiaterin und Trauma-Expertin hat für die Anklage ausgesagt und monatelang Hunderte Dokumente ausgewertet: Aussagen von Ehefrauen und Weggefährten, Videos von Ongwens Verhalten vor Gericht. Puzzleteile seiner Psyche.
Abbo zeichnet das Bild eines intelligenten Mannes voller Energie, sie nennt ihn «highly functioning» in allen Lebensbereichen: im Kampf, in der Vorbereitung darauf, im Umgang mit seinen Soldaten und Frauen. Wäre er schwer depressiv gewesen, wäre er dazu nicht in der Lage gewesen. Nein, er habe Gewalt nicht wahllos angewendet. Sondern geplant und gezielt. Ongwen sei sich seiner Umgebung stets bewusst gewesen. Im vollen Besitz seiner geistigen Kräfte.
Kriegsbeute: Frauen
Vergewaltigung, sexuelle Sklaverei, Zwangsehen, erzwungene Schwangerschaft: Zum ersten Mal spielen auch diese Verbrechen eine grosse Rolle in einem Prozess am IStGH. Für die LRA sind die Dörfer eine nie versiegende Quelle an Frauen. Sie werden als «Ehefrauen» an Kommandanten gegeben. Alle Kommandanten haben mehrere Frauen. Aber Ongwen mag sie besonders jung, sagt ein Zeuge vor Gericht.
Die Zeugin mit der Nummer [P-0101] flehte Ongwen an, sie nicht zu vergewaltigen. Ongwen sagte zu ihr: «Hast du diese Waffe gesehen? Wenn du dich weigerst, hier zu schlafen, wirst du schon sehen, was passiert.» Gemeinsam mit seinen Leibwächtern hielt Ongwen sie nieder und vergewaltigte sie. Sie weinte. Ihre Kleidung war voller Blut. Es war ihr erstes Mal.
Etliche Frauen haben Ongwen der Vergewaltigung beschuldigt. Und manche lieben ihn.
Agnes aber ist 31 Jahre alt und wohnt am Strassenrand von Gulu. Eine schüchterne Frau, man muss sie bitten, fürs Aufnahmegerät lauter zu sprechen. Das ganze letzte Jahr suchte Agnes vergeblich nach einem Job. «Ongwen schickt dir sicher Geld», spotteten die Leute.
In ihrer kleinen Strohhütte hat Agnes auf dem Tisch ihren Lebensunterhalt ausgebreitet: Ketten aus bemaltem Papier, die sie für weniger als 50 Cent auf dem Markt verkauft. An der Wand hängt ein gerahmtes Foto ihrer drei Kinder, zwei Mädchen, ein Junge, er heisst Ongwen. Sie wünscht sich, dass ihr Mann eines Tages zu ihr zurückkommt. Sie hat ihn nicht mehr gesehen, seit sie im Busch bei einem Angriff getrennt wurden.
Agnes’ Ehe beginnt mit einer Vergewaltigung, irgendwann im Jahr 2003. Es ist gleich nach dem Abendessen mit Kony, als Ongwen sie holen lässt. Die 17-Jährige weiss, was das heisst. Sie schüttelt den Kopf, «Ich komme nicht mit», sagt sie zu dem Boten. Ongwen schickt einen anderen Mann, und danach noch einen und noch einen. Zuletzt kommt eine Gruppe Soldaten mit Stöcken. Agnes hat Angst. Ein Mann wie Ongwen schickt nicht mehrmals nach einer Frau. Aber als sie in seiner Hütte eintrifft, ist er nicht wütend, sondern freundlich. Er tröstet die weinende junge Frau. So ist das eben bei der LRA, erklärt er. Wenn ein Mädchen in die Familie eines Kommandanten aufgenommen wird, wird sie eines Tages seine Frau. «Sei ein gutes Mädchen», sagt er, «dann lasse ich dich irgendwann frei.»
Agnes befolgt die Regeln. So überlebt man in der LRA. Morgens bringt sie Ongwen Zahnpasta, Zahnbürste, Wasser für sein Bad, danach Tee. Gemeinsam bereiten die Frauen das Essen vor. Ongwen liebt Erbsen mit Sesampaste und Maniok. Abends lässt er oft nach Agnes schicken, diesmal ohne Soldatentrupp. Er schlägt sie nicht, sie sprechen über alte Zeiten.
Eine Geschichte aus seiner Kindheit erzählt Ongwen besonders gern: Als er sechs Jahre alt war, spielte er mit einem Mädchen in einer Bananenplantage und setzte sich angeblich in den Kopf, mit ihr zu schlafen. Die Mutter des Mädchens ertappte die nackten Kinder in flagranti und nannte ihn von da an jedes Mal ihren Schwiegersohn. Agnes kichert, wenn sie davon erzählt.
Irgendwann verliebt sie sich in Ongwen. Besonders, als sie seine Kinder auf die Welt bringt. Kony selbst sucht den Namen für die erste Tochter aus, und Ongwen ist bei jeder Geburt im Busch mit dabei. Andere Kommandanten lassen ihre Frauen danach oft frei. Ongwen nicht. Ein Zeichen, dass er sie liebt, findet Agnes. Ständig ist sie umgeben von bewaffneten Soldaten. Beschützt, sagt Agnes, nicht bewacht. Erst bei einem Angriff der Regierung im Sudan wird das Paar getrennt. Agnes wird zurück nach Uganda gebracht.
Schiefe Gerechtigkeit?
Agnes versteht nicht, warum ausgerechnet ihr Mann verfolgt wird. Was ist mit anderen hohen Tieren in der LRA, und was ist mit den Soldaten der Regierungstruppen? Auch sie haben in Norduganda Verbrechen begangen: vergewaltigt, getötet, sogar Kindersoldaten eingesetzt. Im Krieg gibt es immer zwei Seiten, und beide sind selten anständig. Ein Grundproblem der internationalen Justiz: Weil die Gerichte die Unterstützung der Akteure brauchen, die den Krieg gewonnen haben, verfolgen sie oft nur die schwächere Seite.
Der Fall Uganda wirft wie kein anderer unangenehme Fragen auf: Warum hat der IStGH nur LRA-Kommandanten angeklagt? Wie nah ist er eigentlich den Machthabern? Und ist das, was er da betreibt, eine Siegerjustiz?
Erst hiess es aus dem IStGH, die Verbrechen der LRA seien schwerer als die der Regierungssoldaten. Dann: Es gäbe nicht genug Beweise. Dabei kommen die Grausamkeiten der Regierungssoldaten sogar während des Prozesses gegen Ongwen zur Sprache. Ein Mann gibt zu Protokoll, dass er beim Angriff auf Pajule von der LRA entführt wurde. Nach seiner Flucht stellte er sich den Regierungssoldaten. Doch statt ihm zu helfen, folterten ihn diese drei Wochen lang in einem dunklen Raum, weil sie seine Geschichte nicht glauben wollten. Selbst dann nicht, als lokale Behörden sie bestätigten.
Verantworten werden sich die Soldaten des ugandischen Präsidenten Yoweri Museveni wahrscheinlich nie. Es ist ein wunder Punkt am IStGH. Für viele ist das Image des unabhängigen, gerechten Strafgerichtshofes am Bröckeln. Kritiker attackieren seine Glaubwürdigkeit und damit auch seine Daseinsberechtigung. Es ist mehr als zehn Jahre her, dass der damalige Chefankläger in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit Präsident Museveni ankündigte, in Uganda zu ermitteln. Aber die Mitarbeiter sind immer noch kurz angebunden, wenn man sie auf das PR-Desaster anspricht.
Fakt ist: Wie bei allen Ermittlungen ist der IStGH von anderen abhängig. Er hat keine eigene Polizei, kein eigenes Militär. Er ist abhängig davon, ins Land einreisen zu können, Ermittlungen durchzuführen, abhängig vom Schutz der örtlichen Polizei – angewiesen auf die Gunst der Regierung. In Uganda ist das Präsident Museveni, seit über dreissig Jahren an der Macht. Auch im Ongwen-Fall kooperierte der IStGH mit der Regierung: nahm Hilfe in Anspruch, um Beweise zu sammeln und Zeugen zu schützen. Mittlerweile ist die Beziehung zu Museveni deutlich abgekühlt. Aber das Gericht braucht immer noch das Wohlwollen der ugandischen Regierung.
Die Zeugin
Grace* aus Lukodi hat sich ein neues Leben aufgebaut. Vierzehn Jahre ist es her, dass die Rebellen ihre Tochter in die Flammen warfen, dass Ongwen ihr mit einem Bajonett in den Rücken stach und sie gleich an zwei Kommandanten übergab. Mittlerweile arbeitet sie in einem Coiffeursalon, hat geheiratet und zwei weitere Kinder. Als die Ermittler vom Internationalen Strafgerichtshof in ihrem Dorf nach Zeugen suchen – 2015 muss das gewesen sein –, sagt sie gegen Ongwen aus.
«Aber da», sagt Grace, «fingen die Probleme erst an.»
Seither wird sie drangsaliert. Einmal folgten ihr sechs fremde Männer auf der Strasse, hielten sie fest, schlugen ihr in den Rücken und riefen: «Du bist die, die ausgesagt hat, dass Ongwen ins Gefängnis soll!»
Eigentlich achtet der IStGH sehr genau auf den Schutz seiner Zeugen. Sie machen ihre Aussagen oft in nicht öffentlichen Sitzungen, bekommen Pseudonyme, Gesichter und Stimmen werden verzerrt. Doch vor Ort ist der Zeugenschutz schwierig. Der IStGH arbeitet mit lokalen Behörden zusammen – und kann sich nicht überall auf die verlassen. Etwa in Kenia und im Kongo, wo man gegen Regierungsmitglieder ermittelte. In Uganda ist die Sicherheitslage besser. Doch die Polizei ist schwach, gerade auf dem Land. Dort spricht es sich schnell herum, wenn jemand Kontakt zum IStGH aufnimmt.
Seither hat Grace Angst. Sie sagt, die Polizei nimmt sie nicht ernst. Die Beamten seien genervt davon, dass sie schon mehrere Anzeigen erstattet hat. Und auch der IStGH wolle sie nicht schützen. Die Mitarbeiter hätten versprochen, ihr die Miete zu zahlen, damit sie sich eine Wohnung in Kampala leisten kann, wo sie keiner kennt. Doch daraus sei nie etwas geworden. Inzwischen ist sie schon viermal umgezogen, meidet öffentliche Veranstaltungen, sieht sich auf der Strasse nach Angreifern um.
«Vielleicht wird es besser, wenn Ongwen verurteilt wird», sagt Grace. «Vielleicht auch nicht.» Nach einem Hinweis der Republik hat sich der IStGH mit ihr in Verbindung gesetzt. Das Gericht will sich zu ihrem Fall nicht äussern.
Was bleibt
Einmal im Jahr fliegt Jimmy Otim nach Den Haag. In seinen wild bedruckten Shirts besucht er Teammeetings, scherzt mit Kollegen. In den Pausen telefoniert er mit seiner Frau in Uganda, die vor kurzem ihr drittes Kind zur Welt gebracht hat. Traumata und Depressionen? Keine da, sagt Otim, nie gewesen. Seine Vergangenheit, seine Taten, die Toten hat er in seinem Hinterkopf begraben.
Zur selben Zeit sitzt Ongwen im Gerichtssaal III. Es ist nicht leicht für ihn, so weit weg von der Heimat, sagt sein Anwalt. Eine Zeit lang sei er depressiv gewesen. Am 5. Dezember 2016, nur einen Tag vor Beginn, wollte die Verteidigung den Prozess deswegen sogar verschieben. Einmal habe Ongwen einen Hungerstreik begonnen. Später soll er gedroht haben, sich umzubringen.
Mittlerweile geht es Ongwen besser. Seit inzwischen über drei Jahren sitzt er ein im Detention Center in Den Haag. Mit dem Auto sind es vier Minuten bis zum Strafgerichtshof. Seine Zelle ist einfach, aber ordentlich: ein Bett, Bücherregale, Waschbecken, Toilette. Es gibt eine Bücherei, einen Fernsehraum, ein Fitnesscenter. In seiner Freizeit spielt er Fussball und Klavier. Gut drei Stunden pro Monat darf jeder Häftling nach aussen telefonieren.
Ongwen versucht das nachzuholen, was er im Leben verpasst hat. Er hat mittlerweile Englisch gelernt, kann mit Computern umgehen. Er betet täglich, hat zwei Rosenkränze. Als ihn der Erzbischof von Gulu besucht, bittet er ihn, ihn zu segnen. Er schreibt an einer Autobiografie. «Würden Sie das an seiner Stelle nicht auch tun?», fragt sein Anwalt. Wie ein Verleger, der auf einen jungen Schriftsteller stolz ist. Wenn der Prozess vorbei ist, will Ongwen zu seiner Familie zurückgehen und mit ihr gemeinsam sein Land bestellen.
Falls er zurückkehren darf. Viele Prozessbeobachter sind sich sicher: Ongwen wird verurteilt werden. Dass er als Kind von den Rebellen entführt wurde, dürfte in der Frage nach Schuld oder Unschuld juristisch keine Rolle spielen. Höchstens falle die Strafe dadurch milder aus.
Jimmy Otim weiss noch nicht, was er nach dem Prozess machen wird. Nach so vielen Jahren Arbeit hat er erst einmal genug vom IStGH.
Und von Ongwen? So viele Tage hat er den Prozess beobachtet, hat sich mit Ongwens Leben und seinen Verbrechen beschäftigt, seine Verteidiger und seine Opfer kennengelernt. Was würde er Ongwen sagen, wenn er ihn treffen würde?
Jimmy Otim überlegt nur kurz. «Du hast Glück. Du bist am Leben.»
* Name geändert