Das Leiden der Kälber
Auch wenn es der Bundesrat nicht an die grosse Glocke hängt: Die Tiere leiden nach dem Abbrennen ihrer Hörner monatelang unter Schmerzen. Doch nicht nur deshalb ist ein Ja zur Hornkuh-Initiative angezeigt.
Von Dennis Bühler, 07.11.2018
Wie einfach wäre es, spöttisch zu fragen: Haben wir in der Schweiz wirklich keine wichtigeren Anliegen, als die finanzielle Förderung von Kuh- und Ziegenhörnern in die Verfassung zu schreiben?
Doch Spott wäre fehl am Platz. Eher sind Ärger und Empörung angebracht. Ärger über Parlament und Regierung: Sie tragen die Schuld daran, dass eine Hornkuh-Initiative nötig wurde. Und Empörung, weil die Behörden das Leid der Tiere verleugnen.
Neun von zehn Kühen fehlen die Hörner
Die Anzahl behornter Tiere sinkt in der Schweiz seit Jahrzehnten. Heute haben schätzungsweise bereits neun von zehn Kühen und rund ein Drittel der Ziegen keine Hörner. Die von Bergbauer Armin Capaul lancierte Hornkuh-Initiative, über die die Schweizer Stimmbevölkerung am 25. November abstimmt, will diesen Anteil erhöhen. «Woher nimmt sich der Mensch das Recht, derart stark in die Natur einzugreifen und die Tiere so zu verstümmeln?», fragt er.
Zwar fordert Capauls Initiative kein Enthornungsverbot, sie will die Halter behornter Kühe und Ziegen bloss finanziell unterstützen. (Ihm schweben jährlich 190 Franken pro Kuh und 38 Franken pro Ziege vor, die genaue Beitragshöhe müsste das Parlament festlegen.)
Im Kern geht es im Abstimmungskampf dennoch um die Frage, ob die Enthornung den Tieren starke Schmerzen bereitet. Und falls Ja: Wie lange die Kühe und Ziegen leiden müssen, nachdem ihre Hörner mit einem auf 600 Grad erhitzten Brennstab weggebrannt worden sind.
Die Schmerzen sind unvermeidlich
Claudia Spadavecchia forscht seit Jahren zu den Folgen der Enthornung von Nutztieren. Als italienische Staatsbürgerin ist sie selbst nicht stimmberechtigt. Doch als Professorin für Veterinäranästhesiologie und Schmerztherapie an der Vetsuisse-Fakultät der Universität Bern weiss sie besser Bescheid als jeder Landwirt.
Spadavecchias neueste Studie hätte das Potenzial, den Abstimmungskampf zu entscheiden – wenn ihre Ergebnisse öffentlich breit bekannt wären. Aber das sind sie nicht.
Vor drei Jahren führten Spadavecchia und ihr Team im Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung im freiburgischen Posieux einen Versuch mit 33 Kälbern durch. Ein Drittel der Tiere enthornten sie im Alter von einer, ein Drittel im Alter von vier Wochen; beim letzten Drittel – der Kontrollgruppe – täuschten sie die Enthornung bloss vor.
Danach testeten sie, wie empfindlich die Kälber auf Druck am Kopf rund um den weggebrannten Hornansatz reagierten. Es zeigte sich: «In den ersten 24 Stunden nach dem Wegbrennen der Hörner leiden praktisch alle untersuchten Kälber an Schmerzen», so Spadavecchia, «unabhängig davon, ob sie im Alter von einer oder vier Wochen enthornt werden.»
Verhindern können das Leid weder lokale Betäubungen noch Schmerzunterdrückungsmittel, die in der Schweiz – anders als etwa in Deutschland – seit Inkrafttreten des Tierschutzgesetzes im Jahr 2005 obligatorisch sind. Dieser Befund deckt sich mit früheren internationalen Studien.
Verzögerung mit Folgen
Brisanter ist der zweite Teil der Untersuchung. Über ihn berichtete bisher einzig die «Zentralschweiz am Sonntag». Aus gutem Grund: Spadavecchia äussert sich nicht dazu. Und auch beim Bund erwähnt man sie höchstens als Randnotiz (im Abstimmungsbüchlein etwa als kurzen Nachsatz zur Aussage, nach der Enthornung verheilten die betroffenen Stellen rasch).
Weil die Ergebnisse die bundesrätliche Nein-Parole untergraben würden? Weil sie das von Bundesrat Johann Schneider-Ammann seit Jahr und Tag wiederholte Mantra widerlegen würden, es gebe keinen wissenschaftlichen Beweis, dass die Enthornung den Tieren Leid zufüge und ihr Wohlergehen und ihre Gesundheit beeinträchtige?
Nein, heisst es beim Bund und bei der Universität Bern. Begründet wird das Schweigen vielmehr damit, dass dieser zweite Teil der Studie noch nicht in einer wissenschaftlichen Publikation veröffentlicht worden sei. Auch wenn die angesehene Fachzeitschrift «Physiology & Behavior» die Studie dem Vernehmen nach im Verlauf dieses Winters publizieren will: Um den Ausgang der Abstimmung über die Hornkuh-Initiative zu beeinflussen, kommt der schon vor Jahren erzielte Erkenntnisgewinn so zu spät.
Zur Verzögerung sei es nicht aus wissenschaftlichen Gründen gekommen, so Kenner der Materie, sondern aus finanziellen: Spadavecchia und ihr Team hätten die Anschubfinanzierung der privaten Stiftung Sur-la-Croix aufgebraucht und seien danach auf den erhobenen Daten hocken geblieben. Erst spät habe das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV) entschieden, sich doch finanziell zu beteiligen und die Auswertung der Daten zu ermöglichen.
Leiden die enthornten Kälber ein Leben lang?
Im noch unveröffentlichten Teil der Studie erbringen die italienische Wissenschafterin und ihre Forscherkollegen den Nachweis, dass Kälber viel länger als bisher angenommen unter der Enthornung leiden. 38 Prozent der enthornten Versuchstiere empfanden auch drei Monate nach dem Eingriff schon bei leichter Berührung Schmerz.
Offen ist weiterhin, ob die Schmerzen nach einigen Monaten zurückgehen oder ob sie ein Leben lang bleiben. Spadavecchias Studie kann die Frage nicht beantworten, da die Versuchskälber nach drei Monaten geschlachtet wurden. Doch es scheint wahrscheinlich, dass das Leid lange anhält. Darauf deuten Parallelen bei Untersuchungen am Menschen hin: Nach Operationen leiden zwischen 30 und 40 Prozent der Patienten jahrelang an chronischen Schmerzen. Die von Spadavecchia bei Kälbern erhobene Zahl von 38 Prozent passt da recht gut dazu. Eine Enthornung ist durchaus mit einer Operation vergleichbar. Denn anders als unsere Fingernägel sind Hörner durchblutet und von Nerven durchzogen.
Im August berichtete die «Zentralschweiz am Sonntag» über den zweiten Teil der Studie Spadavecchias. Weil die Zahl von 38 Prozent monatelang leidender Tiere nicht zu verifizieren war, nahm kein anderes Medium die Recherche auf. Die Wissenschafterin äussert sich nicht dazu, weil sie die Publikation ihrer Arbeit nicht gefährden will.
Doch Spadavecchia hat ihre Ergebnisse bereits öffentlich vorgestellt, und zwar im September 2017 am Europäischen Schmerzkongress in Kopenhagen – vor Hunderten von Ärztinnen und Professoren. Die Präsentation fand Eingang in die Kongressunterlagen als «Abstract number 376». Und es gibt auch schon Studien anderer Wissenschafterinnen, die auf die brisanten Forschungsergebnisse verweisen, so etwa ein im Juni publizierter Artikel der dänischen Forscher Mette S. Herskin und Bodil H. Nielsen (Fussnote 122).
Mit anderen Worten: Die Tatsache, dass nach dem Eingriff mehr als ein Drittel der Kälber monatelang Schmerzen leidet, ist längst nicht mehr geheim. Sie soll bloss unter dem Deckel gehalten werden.
Die Sache mit den Anbindeställen
Auf den ersten Teil der Studie angesprochen, sagte Bundesrat Johann Schneider-Ammann am vergangenen Freitag in der SRF-«Arena»: «Ich bin zwar kein Wissenschafter, doch ich weiss, dass man solche und andere Studien machen kann.» Nach der Rückfrage des Moderators, ob er der Uni Bern misstraue, ergänzte der zum Jahresende abtretende FDP-Magistrat, es gebe «sehr wohl die Wahrscheinlichkeit», dass es zu Spadavecchias Studie eine Gegenstudie geben werde.
Eine seltsam anmutende Aussage für einen Mann, der nicht nur Landwirtschafts-, sondern auch Bildungsminister ist. Der Bundesrat kontert die vorliegenden wissenschaftlichen Fakten mit anderen wissenschaftlichen Fakten, die es seines Erachtens eines Tages vielleicht einmal geben könnte.
Es ist nicht das einzige schiefe Argument des Bundesrats. Weil im Stall frei laufende Kühe mit Hörnern einander eher verletzen, so Johann Schneider-Ammann, könnten wieder mehr Tiere im Stall angebunden werden. «Aus Sicht des Tierwohls ist die Hornkuh-Initiative deshalb ein Eigengoal.»
Das klingt vernünftig. Ist aber Unsinn.
Sogar das BLV relativiert Schneider-Ammanns Äusserung. Fachpersonen seien sich einig, dass die Laufstallhaltung von horntragenden Tieren eine Herausforderung für den Tierhalter bedeute, heisst es. «Sie ist aber in der Praxis mit dem nötigen Mehraufwand umsetzbar und wird im Sinne einer tiergerechten Haltung empfohlen.»
Werden im Falle einer Annahme der Hornkuh-Initiative dennoch etliche Bauern auf Hornvieh umstellen und die Tiere anbinden? Hansuli Huber, der Geschäftsführer des Schweizer Tierschutzes, ist sich sicher: «Kein einziger Bauer wird seinen Laufstall wegen ein paar Hörnerfranken wieder zu einem tierfeindlichen Anbindestall umfunktionieren.» Und das nur schon, weil angebundene Tiere sich weniger effizient melken lassen: Statt dass die Kühe in den Melkstand spazieren, muss der Bauer mit dem Melkzeug von Kuh zu Kuh ziehen.
Hubers Organisation unterstützt die Initiative. Wird sie angenommen, wird der Schweizer Tierschutz gemeinsam mit den Initianten darauf pochen, dass Halter behornter Tiere nur dann finanzielle Beiträge erhalten, wenn sie sich an die sogenannten RAUS-Richtlinien halten. Auch Tiere, die im Anbindestall gehalten werden, müssen demnach im Sommer an mindestens 26 Tagen pro Monat auf die Weide gelassen werden und im Winter an mindestens 13 Tagen pro Monat an die frische Luft. Den Entscheid über die genaue Umsetzung der Initiative müssten National- und Ständerat treffen.
Überschätzte Verletzungsgefahr
Ein weiteres Argument, das der Bundesrat gegen die Initiative ins Feld führt, ist die Verletzungsgefahr. «Tiere mit Hörnern können sich gegenseitig verletzen», heisst es im Abstimmungsbüchlein.
Doch auch dieses Argument relativiert das zuständige Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen: «Behornte Kühe sind nicht generell aggressiver als Kühe ohne Hörner», teilt es auf Anfrage mit. Komme es zu Auseinandersetzungen, gingen diese in behornten Herden in aller Regel glimpflicher aus. «Behornte Tiere drohen und weichen einander möglichst aus. Unbehornte gehen viel häufiger in direkten Körperkontakt mit Kopfstössen, bevor das rangniedrigere Tier ausweicht.»
Und wie steht es um die Verletzungsgefahr für den Menschen, vor der die Landesregierung ebenfalls warnt? Ein Anruf bei der Beratungsstelle für Unfallverhütung in der Landwirtschaft zeigt, dass die dortigen Experten tatsächlich zur Enthornung raten, um die Verletzungsgefahr zu minimieren.
«Wer seine Tiere nicht enthornen will, kann den sicheren Umgang mit Hörnern aber auch erlernen», heisst es. Denn: «Zu Unfällen kommt es nur dann, wenn der Stall zu eng oder anderweitig ungenügend eingerichtet ist oder dem Menschen ein Fehler unterläuft.» Von einer Kuh oder Ziege, die einen Menschen vorsätzlich aufgespiesst hätte, habe man noch nie gehört.
Umverteilung statt zusätzlicher Kosten
Halten wir fest: Behornte Kühe und Ziegen können in den tierfreundlichen Laufställen gehalten werden. Allerdings sollte ein Bauer seinen Stall nicht bis auf den letzten Quadratmeter mit Tieren füllen, da sie sich sonst in die Quere kommen – behornte Tiere halten untereinander grösseren Abstand als unbehornte.
Aus diesem Grund ergibt der finanzielle Beitrag pro Kuh und Ziege Sinn: Er kompensiert den Ertragsverlust, den ein Landwirt erleidet, wenn er den Bestand seiner Herde um zehn oder zwanzig Prozent reduziert.
Nur: Wo sollen die 15 bis 30 Millionen Franken herkommen, die künftig für Hornkühe und Hornziegen ausgegeben werden? Die gute Nachricht: Die Befürworter haben nie zusätzliches Geld für die Landwirtschaft gefordert. Stattdessen wollen sie den Hörnerbeitrag über eine Umverteilung von Direktzahlungen finanzieren. Ins Spiel gebracht haben sie etwa die Senkung der sogenannten Landschaftsqualitätsbeiträge. Gegenwärtig werden mit jährlich 142 Millionen Franken beispielsweise Mauern aus Trockensteinen, der Bau von Holzbrunnen oder die Aufschichtung von Heuballen gefördert.
Falls die Initiative angenommen wird, entscheidet das Parlament, wo das Geld für die Halter behornter Tiere abgezwackt wird. Klar ist: Im Landwirtschaftsbudget, das 3,6 Milliarden Franken pro Jahr umfasst, sollte Geld leicht zu finden sein.
Gehört das in die Bundesverfassung?
Und damit zum einzigen Grund, der für die Ablehnung der Hornkuh-Initiative spricht: Hörnerbeiträge gehören eigentlich nicht in die Verfassung. Solche Fragen sollten eine Ebene tiefer geregelt werden – als Gesetz. Und dafür hat Armin Capaul jahrelang gekämpft. Doch er fand in Bundesbern kein Gehör.
Am 6. Dezember 2010 schreibt Capaul gemeinsam mit einem befreundeten Bergbauern einen Brief ans Bundesamt für Landwirtschaft. Ihre Bitte: In der Agrarpolitik 2014–2017 sei pro behornter Kuh ein Unterstützungsbeitrag von einem Franken pro Tag vorzusehen. Am 21. April 2011 reichen sie die Forderung nach, Halter von behornten Ziegen täglich 20 Rappen auszuzahlen. Die Berner Verwaltung geht nicht darauf ein.
Am 26. Januar 2012 wendet sich Capaul mit einem offenen Brief direkt an Landwirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann. Später schreibt er sämtliche Parlamentsmitglieder an. Ohne Erfolg. Anträge eines Grünen-Nationalrats und eines SP-Ständerats, die Capauls Anliegen ins neue Landwirtschaftsgesetz aufnehmen wollen, bleiben chancenlos.
Am 6. Dezember 2013 trägt Hornkuh Sybille 18’147 Unterschriften der von Capaul lancierten Hörnerfranken-Petition vors Bundeshaus, begleitet wird sie von den Ziegen Caroline, Gitza und Lisa. Bundesrat Schneider-Ammann rät Capaul, er könne ja eine Volksinitiative lancieren, falls ihm die Sache wirklich ernst sei. Womit er kaum rechnet: Capaul tut es.
Nun bestellen seine Frau und einer seiner Söhne den 17-Hektaren-Betrieb in Perrefitte im Berner Jura, kümmern sich um die acht Kühe und zwei Rinder, die beiden Esel und den Stier. Und um all die Ziegen, Schafe, Hunde und Katzen. Derweil sammelt Armin Unterschriften. Anderthalb Jahre lang fährt er von Viehschau zu Landwirtschaftsmesse, hält Vorträge und tritt bei «Aeschbacher» auf. 55’000 Franken investiert das Ehepaar Capaul in die Unterschriftensammlung, einen Grossteil ihres Ersparten.
Überraschungscoup ist realistisch
Zäh, wie Armin Capaul ist, hat er quasi im Alleingang Erfolg. Am 12. April 2016 bestätigt die Bundeskanzlei, dass die Initiative mit 119’626 gültigen Unterschriften formell zustande gekommen ist.
Falls die Initiative angenommen wird, wäre es das Verdienst eines Mannes, dass in der Schweiz mehr Nutztiere Horn tragen und weniger leiden. Und Parlament und Regierung wären verantwortlich dafür, dass Tierhörner die Verfassung schmücken: Mit ihrem sturen Festhalten an der bisherigen tierquälerischen Praxis zwangen sie Capaul auf diesen Weg. Umfragen zeigen, dass der Coup gelingen könnte: So wollten Ende Oktober gemäss einer Tamedia-Befragung 51 Prozent der Stimmberechtigten ein Ja und 42 Prozent ein Nein in die Urne legen.
Er hoffe auf die Senioren und die Frauen, sagt Armin Capaul, da sich diese Bevölkerungssegmente stärker als andere von ihrem Herzen leiten liessen. Zuversichtlich, wie der 66-Jährige ist, rechnet er mit gesamthaft 80 Prozent Zustimmung.