Identität gegen Individuum
Technische Aspekte der Selbstbestimmungsinitiative und des Referendums gegen Versicherungsdetektive werden eifrig debattiert. Aber was steht politisch hinter den Abstimmungen?
Von Daniel Binswanger, 03.11.2018
Vordergründig ist es eine Zufälligkeit des Abstimmungskalenders, dass über beide Vorlagen am selben Sonntag entschieden wird. Aber es gibt eine grundsätzliche Verbindung zwischen der Selbstbestimmungsinitiative und dem Referendum gegen Sozialdetektive. Beide Vorlagen berühren fundamentale Fragen des rechtsstaatlichen Schutzes der Bürger. Die Selbstbestimmungsinitiative betrifft den Grundrechtsschutz, der den Menschen unter Schweizer Jurisdiktion gewährt wird. Das Referendum über das Gesetz zur Überwachung von Sozialversicherten tangiert den Persönlichkeitsschutz, der gelten soll in unserem Land, besonders das Recht auf Privatsphäre.
Sowohl das Sozialdetektivgesetz als auch die Selbstbestimmungsinitiative (SBI) kann man unterschiedlich beurteilen, aber eines wird man bestimmt nicht behaupten: dass sie den individuellen juristischen Schutz des Bürgers verbessern. Die Selbstbestimmungsinitiative ist eine sehr bedeutende, weitreichende Vorlage mit potenziell dramatischen Konsequenzen. Das Überwachungsgesetz wird in seinen konkreten Folgen relativ überschaubar bleiben. Doch in beiden Fällen werden Fragen verhandelt, die im Prinzip recht ähnlich sind.
Warum nimmt man eine Schwächung rechtsstaatlicher Garantien überhaupt in Kauf? Weshalb schreiben Teile der bürgerlichen Parteien – die den rechtsstaatlichen Schutz des freien Individuums doch zum historischen Kernbestand ihrer Werte zählen sollten – diesen Garantien plötzlich keine hohe Priorität mehr zu? Was ist hier die politische Logik?
Es geht im Grunde um Identitätspolitik. Im Fall der Selbstbestimmungsinitiative ist das evident. Sie schwächt den Grundrechtsschutz – sei es nun in der Form der Kündigung oder der Nichtanwendung der EMRK und anderer völkerrechtlicher Verträge. Im Gegenzug will sie aber die Legitimität des geltenden Rechtes stärken, weil die Verfassungsbestimmungen, die durch einen Volksentscheid beschlossen wurden, immer den Vorrang vor völkerrechtlichen Verträgen haben sollen. Für die Stärkung der Direktdemokratie nimmt man die Schwächung des Grundrechtsschutzes in Kauf.
Das jedenfalls ist die implizite Argumentationslogik der Befürworter. Ob eine Vorlage mit so unabwägbaren Folgen wie die SBI tatsächlich eine Stärkung der direkten Demokratie mit sich bringen würde, ist noch einmal eine andere Debatte. Die Grundansage jedoch ist klar: Wir schwächen die Möglichkeiten des Bürgers, in Lausanne oder Strassburg Schutz vor Machtmissbräuchen des Schweizer Staates zu suchen. Aber wir stärken die demokratische Gemeinschaft. Es handelt sich um klassische Identitätspolitik im Namen der Demokratie: Unsere nationalen Mehrheitsentscheide sind heilig. Meine individuellen Rechte sind es nicht.
Einer ähnlichen Logik folgt das Gesetz zu den Sozialdetektiven. Warum gesteht man privaten Akteuren die Wahrnehmung polizeilicher Aufgaben zu? Warum legt man die Aufklärung von Betrugsfällen nicht in die Hände der Justiz? Und warum gibt man diesen privaten Akteuren die Möglichkeit, ohne richterlichen Beschluss relativ weitgehende Observierungsmassnahmen einzuleiten? Weil man der Betrugsbekämpfung höhere Priorität einräumt als der strikten Wahrung des staatlichen Gewaltmonopols und der Persönlichkeitsrechte. Betrugsbekämpfung soll das Vertrauen der Bürger stärken, dass sie als Beitragszahler von den Sozialversicherungen nicht über den Tisch gezogen werden. Die Gemeinschaft der Rechtschaffenen muss geschützt werden vor Schmarotzern. Und dieses Bedürfnis ist so gross, dass der Schutz der Privatsphäre relativiert werden muss. Die Mehrheit von uns anständigen Schweizern soll mit allen Mitteln verteidigt werden – also müssen meine individuellen Persönlichkeitsrechte zurücktreten.
Wir haben es am nächsten Abstimmungssonntag letztlich mit den Antagonismen zu tun, die mittlerweile alle politischen Auseinandersetzungen beherrschen: das Mehrheitsprinzip gegen die Rechtsstaatlichkeit, eine letztlich kollektivistische Identitätspolitik gegen den individuellen Grundrechtsschutz. Die Identität gegen das Individuum.
Die Wiederkehr dieses Typus von Identitätspolitik – der Appell an in ihrer Identität vermeintlich bedrohte Mehrheiten – ist die prägende politische Gegebenheit unserer Epoche. Francis Fukuyama, der 1989 das «Ende der Geschichte» und den definitiven Sieg des demokratischen, liberalen Rechtsstaates ausrief, hat eben einen neuen, sehr lesenswerten Versuch der Zeitdiagnostik unternommen. Nun trägt er den Titel: «Identity: The Demand for Dignity and the Politics of Resentment» (Identität: das Verlangen nach Würde und die Politik des Ressentiments).
Der liberale Rechtsstaat ist in der Defensive, und ebenso sind es die Werte des liberalen Individualismus, weil immer verunsichertere Mehrheiten einen immer verzweifelteren Kampf um Anerkennung austragen. Die amerikanischen Midterms werden uns nächste Woche auf dramatische und schicksalhafte Weise vor Augen führen, wie diese Auseinandersetzung sich weiterentwickelt. Aber es sollte uns bewusst sein: Auch in der Schweiz bestimmen exakt dieselben Kräfte die politischen Konfliktlinien.
Illustration: Alex Solman
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