Wie sag ichs Tante und Onkel? Neun Tipps zur SVP-Initiative

Die direkte Demokratie ist gut. Durch ein klares Nein zur Selbstbestimmungsinitiative würde sie noch besser. Darum ist es der Mühe wert, noch ein paar Leute umzustimmen. Hier eine mögliche Anleitung dafür.

Von Urs Bruderer, 29.10.2018

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Der wichtigste Tipp ist: Ruhe bewahren. Keine schrillen Töne, keine Witze. Denn diesmal geht es um das Allerheiligste in der Schweizer Politik. Um die direkte Demokratie. Da lege man bitte schön den nötigen Ernst an den Tag.

Die SVP hat das begriffen.

Eine junge Frau im blassorangen Mantel. Keine Schminke, kein Schmuck, kein Lächeln. Sie ist ganz bei der Sache. Ich habe mir das gut überlegt, sagt ihr kluger Blick. «Ja» steht auf dem Schild, das sie vor sich hält. Und darunter: «Zur direkten Demokratie. Zur Selbstbestimmung.»

Sanft, sanfter, SVP

Nie hat die SVP so unaufgeregt geworben. Nicht einmal die SVP-Sonne durfte mit drauf – sie hätte aggressiv gewirkt und die sachliche Gelassenheit der Kampagne gestört. Nie zuvor zielte die Partei so gezielt an den Empörten und Enttäuschten vorbei – direkt in die Mitte der Gesellschaft.

Eine in ihrer Ruhe brillante Kampagne. Die SVP scheint wieder einmal einen wunden Punkt zu treffen. Soll ein abstraktes Regelwerk wie die Europäische Menschenrechtskonvention mehr zählen als der Wille des Schweizervolkes? Das scheint ebenso falsch wie die Tatsache, dass Initiativen erst angenommen, aber dann nicht umgesetzt werden. Die Schweiz ist stolz auf die direkte Demokratie – und pfeift darauf, so der Vorwurf der SVP. Ebenso klar scheint ihre Forderung: Die Verfassung soll über alles gehen, auch über Völkerrecht. Falls internationale Vereinbarungen dem widersprechen – dann müssen sie angepasst werden. Oder, falls dies nicht möglich ist: gekündigt.

Die SVP appelliert an einen doppelten Patriotismus: für die direkte Demokratie, für die Verfassung. Beides ist in der Schweiz unbestritten. Die Initiative könnte weit über die Wählerschaft der SVP hinaus gefallen.

Vielleicht zögern Sie selber noch. Vielleicht geraten Sie in den nächsten Tagen in Debatten mit Leuten, die zögern. Freunde, Kolleginnen, Onkel, Tanten. Was stimmen? Und was sagen?

In solchen Fällen helfen Ihnen vielleicht die weiteren Tipps.

Klar ist nur, dass alles unklar ist

Auf den ersten Blick hat die Initiative den Charme der Einfachheit – endlich klare Verhältnisse. Nur: Das ist leider nicht so. Der zweite Tipp lautet daher: Erwähnen Sie, dass die scheinbar so eindeutige Initiative einen Haufen ungeklärter Fragen aufwirft.

Denn ihr Resultat wäre die komplette Verwirrung. Bei ihrer Annahme wären etwa völkerrechtliche Verträge, über die das Volk abstimmte oder zu denen es eine Abstimmung hätte verlangen können, für die Gerichte weiterhin massgebend. Was zunächst logisch klingt: Wir sagen Ja zum Völkerrecht – aber nur, wenn das Volk es will. Die Idee hat nur einen Haken: Sie schafft Chaos.

Denn die Bestimmungen darüber, ob über einen internationalen Vertrag abgestimmt werden kann oder muss, haben sich immer mal wieder geändert. Ebenso gut hätte die SVP alle Verträge für unmassgeblich erklären können, deren Registriernummer durch drei teilbar ist.

  • Die «Regeln für die Überwachung und Behandlung von Ballastwasser und Sedimenten von Schiffen» zum Beispiel wären für die Gerichte weiterhin massgebend. Weil es über sie zu einem Referendum hätte kommen können.

  • Die Übereinkommen über Völkermord oder Folter hingegen wären es nicht mehr. Darüber konnte nicht abgestimmt werden, als die Schweiz sich ihnen anschloss.

Dabei gehören die Verbote von Folter und Völkermord zum zwingenden Völkerrecht. Und die Verfassung stünde darum laut Initiative weiterhin nicht über ihnen. Nur für die Gerichte wären die Übereinkommen nicht mehr massgebend.

Mit einfachen Eingriffen bringt die Initiative das System durcheinander. Als würde man in einem Uhrwerk eine Feder und ein Rad verändern.

Noch grösser wird das Chaos in Bezug auf die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK). Denn als die Schweiz der Konvention vor 44 Jahren beitrat, war dazu keine Volksabstimmung möglich. Die Gerichte müssten sie laut der Initiative also nicht mehr beachten. Über spätere, wichtige Zusatzprotokolle zur EMRK hätte es aber zu einer Abstimmung kommen können.

Bleibt die EMRK also doch massgebend? Oder nur ihre Zusätze? Klar ist nur, dass alles unklar ist.

Widersprüchliche Widersprüche

Mit dem dritten Tipp gehen Sie in die Offensive: Bezeichnen Sie die Initiative als Pfusch. Zur Illustration können Sie auf die Passage verweisen, dass völkerrechtliche Verpflichtungen neu ausgehandelt oder gekündigt werden sollen, wenn sie im Widerspruch mit der Verfassung stehen.

Hier liegt der Teufel in folgendem Detail: Wann liegt ein solcher Widerspruch vor?

Die SVP drückt sich hier. Das zeigt sich an ihren Bemerkungen zur EMRK.

Die EMRK sei zu kündigen, schrieb die SVP in einem Argumentarium, das bis vor kurzem auf ihrer Website aufgeschaltet war, «falls es zu wiederholten und grundlegenden Konflikten mit der Verfassung» kommt. Die Hürde für die Kündigung wäre demnach hoch (wiederholte, grundlegende Konflikte).

Nur: Im selben Argumentarium steht auch, wegen der Ausschaffungsinitiative müsse «ein Vorbehalt gegenüber der EMRK angebracht oder, wenn dies nicht möglich ist, die EMRK gekündigt werden». Also reicht doch ein einzelner Artikel in der Verfassung für eine allfällige Kündigung – eine extrem tiefe Hürde.

Inzwischen hat die SVP dieses Argumentarium vom Netz gelöscht (Sie finden es hier) und durch ein neues ersetzt. Zu «kleineren Widersprüchen» könne es schon kommen, steht neuerdings da, aber das sei kein Problem. Kündigen müsse man einen Vertrag nur, wenn ein Widerspruch «praktische Auswirkungen» habe. Und die Menschenrechtskonvention? Deren Kündigung «ist nicht das Ziel der Initiative», deren Inhalte seien «unbestritten».

Wirklich? Was gilt genau? An dieser Frage beissen sich Juristinnen alle Zähne aus. Schon wegen der wechselnden Formulierungen der SVP: Was will sie genau? Diese Frage ist wichtig, weil für die juristische Interpretation einer Initiative auch die Aussagen der Initianten berücksichtigt werden.

Und die Antwort ist leider eindeutig. Vor fünf Jahren, als die SVP die Initiative entwickelte, sagte der damalige Parteipräsident Toni Brunner: «Wir prüfen eine Volksinitiative zur Kündigung der EMRK.» Und anderthalb Jahre später verlangte SVP-Bundesrat Ueli Maurer in einer Regierungssitzung die Kündigung der Menschenrechtskonvention.

Nun ist es Zeit für den Frontalangriff. Tipp Nummer vier: Nennen Sie die Initiative eine Mogelpackung. Die SVP behauptet, sie setze sich für die Volksrechte ein. Dabei ist ihr Ziel ein anderes: eine Attacke auf die Menschenrechte.

«Die da oben» werden gestärkt

Zugegeben: Was nach einer Annahme der Initiative geschehen würde, lässt sich wegen der vielen Schwammigkeiten unmöglich präzis vorhersagen. Doch allein die Möglichkeit, dass die Schweiz gezwungen wird, die EMRK zu verlassen, genügt, um die Initiative abzulehnen. Denn die EMRK ist weit mehr als nur ein Fetzen Papier. Sie ist eine Versicherung gegen Willkür. Denn ohne EMRK verlöre die Schweizer Bevölkerung die Möglichkeit, sich gegen den Machtmissbrauch von Regierung und Parlament zu wehren. Ausgerechnet die SVP liefert die Bürgerinnen denen da oben in Bern aus.

Damit zum fünften Tipp: Erklären Sie, dass die Initiative die Bürgerinnen und Bürger der Willkür der Mächtigen ausliefert.

Wie das? Schon heute kann das Parlament menschenrechtswidrige Gesetze beschliessen – und niemand in der Schweiz kann es zurückpfeifen. Die Menschenrechte stehen zwar in der Verfassung – was die SVP bei jeder Gelegenheit betont. Nur hilft das im Fall eines Falles so viel wie eine geschlossene Apotheke.

Denn wenn das Parlament seine Macht missbraucht, sind die in der Verfassung verankerten Menschenrechte toter Buchstabe. Weil für das Bundesgericht nur die Gesetze massgebend sind und nicht die Verfassung. Das heisst, es darf seine Urteile nicht nach der Verfassung fällen, sondern es muss sich an die in Bern beschlossenen Gesetze halten.

Juristen sprechen deshalb von einer fehlenden Verfassungsgerichtsbarkeit. Als das System im 19. Jahrhundert geschaffen wurde, stand dahinter ein bewusster Verzicht. Man wollte politische Urteile verhindern. Damals misstraute man Richtern mehr als Politikern.

Die Lücke im Schutz vor Willkür wurde erst hundert Jahre später geschlossen: mit dem Beitritt zur EMRK. Seither können sich Schweizerinnen wehren, wenn ein Gesetz ihre Menschenrechte verletzt. Und das ist nicht nur Theorie. Dank der EMRK hat der Schweizer Rechtsstaat wichtige Fortschritte gemacht: Das Strafverfahren wurde gerechter, Unschuldige können nicht mehr zur Übernahme von Prozesskosten verdonnert werden, Geschiedene müssen nicht mehr drei Jahre warten, bevor sie wieder heiraten.

Nur die EMRK kann Parlament und Regierung stoppen, wenn sie – aus Absicht oder Pfusch – fundamentale Menschenrechte verletzen.

Das Konzept Schurkenstaat Schweiz

Der Wegfall des Schutzes der Bürgerinnen vor Machtmissbrauch ist nicht einfach ein Kollateralschaden dieser Initiative. Er ist eines ihrer zentralen Ziele. Denn die SVP versucht bereits seit längerem, die Schweiz gezielt zu Menschenrechtsverletzungen zu zwingen.

Das bevorzugte Mittel dazu sind Volksinitiativen – meist mit populären Themen und schwammigen Formulierungen. Etwa die Ausschaffungs- und die Durchsetzungsinitiative, das Minarettverbot oder die Initiative zur lebenslangen Verwahrung pädophiler Straftäter. All diese Initiativen verletzen oder ritzen Menschenrechte: das Recht auf ein Gerichtsverfahren, das den Einzelfall beurteilt; das Recht auf Religionsfreiheit; das Recht auf eine gelegentliche Überprüfung, ob eine Verwahrung noch nötig ist.

Die Folge einer solchen Initiative ist bis jetzt immer die gleiche: Sie kann nur halb umgesetzt werden. Und die SVP beklagt dies dann endlos. In Wahrheit wirkt die EMRK wie eine Lawinenverbauung: Die Schweizer Verfassung ist zwar wegen einiger angenommener Initiativen menschenrechtswidrig. Doch das schlägt nicht auf die Gesetze durch. Und nur diese zählen in der Schweiz tatsächlich.

Diese Lawinenverbauung will die SVP jetzt erledigen. Sie will nicht nur, dass das Volk in einer Initiative – aus welchen Gründen auch immer – sich dafür aussprechen darf, die Menschenrechte zu verletzen. (Das darf es heute schon.) Sie will auch, dass die Politik diesen Wunsch eins zu eins erfüllen muss.

Nachdem Sie sich zuerst nachdenklich gezeigt und auf Ungereimtheiten hingewiesen haben und dann auf die Gefahren, sollten Sie jetzt zum entscheidenden Schlag ausholen. Tipp Nummer sechs: Mit dieser Initiative verwandelt die SVP die Schweiz in einen Schurkenstaat.

Eigentlich verrät schon ein kurzer Blick auf die Mitglieder der EMRK alles: Nicht dabei sind nur die Diktatur in Weissrussland und der Vatikan, der aus Prinzip das Recht Gottes über das der Menschen stellt. Sonst sind alle in Europa an Bord, sogar Russland und die Türkei. Und einzig Griechenland kündigte die Konvention einmal vorübergehend – während einer blutigen Militärdiktatur.

Die Volkslüge

Der Plan der SVP ist also klar: Ärger machen. Ohne störende Menschenrechte könnte die SVP per Initiative jedwede populäre Provokation nicht nur in der Verfassung, sondern auch im Gesetz verankern. Mit unkalkulierbaren Folgen für die Betroffenen. Und das gesamte Land.

Ist das nicht übertrieben? Verdächtigt man die SVP zu Unrecht? Schliesslich geht es bei ihrer Initiative um den Erhalt einer Schweizer Eigenart, der direkten Demokratie. Und diese scheint ja tatsächlich in Gefahr, wenn ein internationaler Vertrag wie etwa die EMRK und der dazugehörige Gerichtshof in Strassburg den Willen des Volkes aushebeln können.

Das ist der Moment, wo Sie kühlen Kopf bewahren müssen. Denn hier folgt der Punkt, wo Sie am meisten Mut in der Debatte haben müssen: bei der Frage, ob die SVP die direkte Demokratie, die sie zu schützen vorgibt, nicht in Wahrheit schwächt. Denn Ihr Argument ist, Tipp Nummer sieben: Die SVP schenkt dem Volk zu viel Vertrauen.

Zu behaupten, dass das Volk mehr Vertrauen verdient habe als die Richter in Strassburg oder Lausanne, ist populär. Aber leider auch Populismus. Den Bundesrichtern muss man nicht blind vertrauen. Denn sie werden gewählt und können theoretisch abgewählt werden. Richter können auch nicht tun und lassen, was sie wollen. Sie sind an Rechtstexte gebunden.

Auf das Volk trifft all das nicht zu. Es ist kein Club der Gerechten. Und muss es auch nicht sein. Es kennt Leidenschaften, Stimmungen – und hat auch bei Ja-oder-nein-Fragen keine Chance auf Differenzierung. Und unfehlbar ist es nicht. Wie überall schlummern auch im Volk gefährliche Kräfte. Völker können in Faschismus oder Kommunismus abgleiten. Sie können den Frauen oder sonst wem das Wahlrecht verweigern, unbeliebte Gruppen benachteiligen oder sich bei einer Initiative für den Fünfer und das Weggli entscheiden. Ohne den Preis zu berechnen. Etwa, wenn man mit der Masseneinwanderungsinitiative die Zahl der Ausländer beschränken will – und sich dann wundert, dass man damit nun die bilateralen Verträge mit der EU kündigen müsste.

Es ist eine schöne Lüge, aber eben trotzdem eine, zu behaupten, das Volk sei in jedem Fall weiser als die Richter, die politische Klasse oder die Fachleute.

Gläubige und Zyniker

Wahr ist aber, dass in einer gut konstruierten Demokratie das Volk die wichtige Aufgabe übernimmt, die Macht zu brechen, zu kontrollieren und anzuweisen. Die direkte Demokratie der Schweiz ist ein brauchbares System. Weil das Volk mit Initiativen den Mächtigen zwar Aufträge erteilen kann. Weil es aber Regierung und Parlament überlassen bleibt, diese Aufträge dann umzusetzen. Notfalls auch mal nur halb

Ein klares Nein zur Selbstbestimmungsinitiative hätte für die direkte Demokratie die Wirkung einer Entschlackungskur. Das Spiel mit menschenrechtswidrigen Initiativen würde deswegen zwar nicht aufhören. Aber es wäre immerhin ein Zeichen dafür, dass diese Sorte Propaganda von einer Mehrheit durchschaut wurde. Und dass eine Mehrheit denkt. Also Tipp Nummer acht: In der Schweiz hat das Volk zwar viel Macht, aber zum Glück nicht die totale.

Leserin, Onkel, Tante, Nachbar, Kollegin – Entschuldigung. Das war eine lange, ernste Debatte. Zum Schluss sollten Sie sich nun doch ein wenig Erholung gönnen. Tipp Nummer neun: Fragen Sie sich mal, wer in der SVP zu den Heuchlern gehört, die nur so tun, als ob sie an ein in jedem Fall perfekt urteilendes Volk glaubten. Und wer zu den wirklich Gläubigen gehört.