Warum Schaffhausen Zürich überflügelt
Kantonale Wirtschaftsdaten werden meist kaum beachtet. Zu Unrecht, denn sie sagen einiges aus: über lokale Entwicklungen und darüber, wie BIP-Messungen überhaupt funktionieren.
Von Simon Schmid, 29.10.2018
Die grossen Geschichten zum Zehnjahresfazit zu den weltweiten Folgen der Finanzkrise von 2008 wurden bereits geschrieben (auch bei der Republik). Die kleinen Abhandlungen darüber, was in den letzten zehn Jahren in Genf, Neuenburg oder Appenzell Innerrhoden passiert ist, dagegen nicht.
Das ist einerseits verständlich, da die passenden Daten dazu nur verspätet erscheinen: So hat das Bundesamt für Statistik erst am letzten Donnerstag seine Schätzungen zur Wirtschaftsleistung der verschiedenen Kantone für das Jahr 2016 publiziert – eineinhalb Jahre nach den Zahlen für die Gesamtschweiz.
Andererseits ist es bedauerlich, dass die Entwicklung auf der lokalen Ebene meist ausserhalb des Blickfelds der Medien bleibt. Denn die Veränderungen, die sich dort in der Zeit seit 2008 zugetragen haben, sind nicht minder spektakulär.
Zürich wuchs einwohnermässig – aber kaum wirtschaftlich
Die Unterschiede zwischen den Kantonen sind enorm. Deutlich wird dies, wenn man die 26 Kantone entlang zweier Achsen anordnet: dem Bevölkerungswachstum (vertikal) und dem Wirtschaftswachstum (horizontal). Was dann herauskommt, sieht man in der folgenden Grafik: eine Ansammlung von Punkten, über die ganze Fläche verteilt, mit einer Spannbreite, die vom Beinahestillstand bis zum Boom reicht.
So ist die Wirtschaft zum Beispiel in Genf im Zeitraum von acht Jahren nur um 3 Prozent gewachsen. Der Kanton Zug legte gleichzeitig um 27 Prozent zu.
Auch die Bevölkerung hat sich sehr unterschiedlich entwickelt. In Uri blieb sie praktisch unverändert: 2016 wohnten dort nur 3 Prozent mehr Menschen als 2008. Freiburg sah dagegen ein Bevölkerungsplus von 19 Prozent.
Woher rühren die Unterschiede? Ausschlaggebend für die jeweilige Entwicklung war, je nach Kanton, eine Mischung aus diversen Gründen.
Zürich und Genf sind einwohnermässig stark, aber wirtschaftlich nur schwach gewachsen. Die Ursache dafür liegt einerseits in der Attraktivität der grossen Städte und andererseits in der Krise der Finanzbranche. Sowohl in der Vermögensverwaltung als auch im Investmentbanking sind die Erträge der Banken in den letzten Jahren gesunken. So wuchs das BIP weniger stark als die Bevölkerung.
In der Waadt konnte die Wirtschaft dagegen mit dem hohen Bevölkerungswachstum Schritt halten. Das liegt an der Ansiedelungspolitik des Kantons, die auf niedrige Steuern und multinationale Unternehmen ausgerichtet ist. Zudem sind hier Sportorganisationen wie das Internationale Olympische Komitee und die Uefa beheimatet. Ihre Einnahmen haben das BIP über die letzten Jahre in die Höhe getrieben.
Auch der steuerattraktive Kanton Zug hat über die letzten Jahre stark vom Zuzug von Firmen und reichen Personen profitiert.
In Basel-Stadt wuchs die Bevölkerung etwas weniger stark, was am engen Siedlungsraum im Kanton liegen dürfte. Trotzdem legte die Wirtschaft stark zu, primär wegen der Pharmaindustrie. Wie sich die Wertschöpfung der grossen Pharmafirmen auf die Kantone verteilt, ist etwas unklar, da etwa Novartis auch Werke in anderen Kantonen betreibt – möglicherweise wird das Wachstum in Basel in den Zahlen sogar etwas unterschätzt.
Umgekehrt lief es im Aargau. Die Bevölkerung wuchs dort um 14 Prozent, die Wirtschaft aber nur um 8 Prozent. Ein Grund für diese Diskrepanz ist, dass der Aargau ein Pendlerkanton ist: Viele Leute wohnen dort, arbeiten aber in Zürich, Basel oder Bern. Daneben hat der Aargau aber auch wirtschaftlich einstecken müssen. Kleine Industriebetriebe litten unter dem starken Franken, und in der Region Baden-Brugg baute der Energiekonzern Alstom/GE zahlreiche Stellen ab.
Zwei Kennzahlen – zwei Informationen. Aus dem BIP-Wachstum und dem Bevölkerungswachstum lässt sich, zur besseren Vergleichbarkeit, auch eine einzige Kennzahl erzeugen: das Wirtschaftswachstum pro Einwohner.
Kleinkantone liegen im Pro-Kopf-Wachstum vorne
Bevor wir darauf eingehen, zwei kleine Bemerkungen zur Vergleichbarkeit.
Bezüglich des Niveaus des BIP pro Einwohner: In Wirtschaftszentren wie Basel, Zürich oder Zug ist dieses typischerweise doppelt bis dreimal so hoch wie in den anderen Kantonen, wo es weniger Firmen gibt. Weist ein Kanton wie Appenzell Innerrhoden nun ein starkes Wachstum auf, so bedeutet dies noch nicht, dass dieser Kanton plötzlich extrem wirtschaftsstark ist. Sondern es bedeutet, dass dieser Kanton im unteren Mittelfeld etwas aufgeholt hat.
Bezüglich der Einwohnerzahl: Auch diese variiert zwischen den Kantonen ziemlich stark. Kleine Veränderungen in der Wirtschaftsstruktur – ausgelöst durch den Zuzug eines grösseren Unternehmens – können in einem kleinen Kanton die Wachstumsraten stark beeinflussen. Wegen dieses Effekts muss man die Zahlen kleiner Kantone wie Nidwalden mit Vorsicht geniessen, weil sie stärkeren Schwankungen ausgesetzt sind.
Um die Schwankungen zu glätten, haben wir die Zahlen in der unteren Grafik, wie bereits oben, von 2008 bis 2016 aufsummiert.
Abermals zeigen sich deutliche Unterschiede: So wuchs das BIP pro Kopf in den drei Spitzenkantonen Appenzell Innerrhoden, Schaffhausen und Zug in acht Jahren um insgesamt 14 bis 17 Prozent. In den drei letztrangierten Kantonen lag das BIP-Wachstum pro Kopf rund 20 Prozentpunkte tiefer – und zwar unter null: Genf, Aargau und Zürich verzeichnen Rückgänge von 3 bis 6 Prozent.
Den grössten Einfluss auf die Entwicklung des BIP pro Kopf hatte, wie erwähnt, die Branchenstruktur. Die Basler Pharmaindustrie hat ein extrem starkes Jahrzehnt hinter sich – die Zürcher Finanzindustrie ein extrem schwaches. Weiter spielte die Steuerpolitik eine Rolle. Firmen haben sich vermehrt dort angesiedelt, wo die Abgabenlast bereits vergleichsweise niedrig war oder von 2008 bis 2016 gesunken ist – etwa in Nidwalden.
Ein weiterer Faktor, der das Bild beeinflusst hat, ist die Migration – und zwar aus dem Ausland wie auch innerhalb der Schweiz. Sie hat zu einem ungleichen Bevölkerungszuwachs geführt. In die ländlichen Gebiete zogen eher wenige, in die Städte und ihre Vororte dafür umso mehr Menschen. Es ist wahrscheinlich, dass Kantone wie Zürich auch deshalb eine ungünstige Entwicklung des BIP pro Kopf aufweisen: weil die Zahl der Arbeitsplätze nicht mithalten konnte mit der Zahl der zugezogenen Menschen.
Schliesslich gibt es einen weiteren, in den Zahlen versteckten Aspekt, der sich auf die Wachstumsdaten auswirkt: das Preisniveau in einem Kanton.
Was hinter dem Schaffhauser Höhenflug steckt
Dazu ein wenig Theorie. In der Ökonomie unterscheidet man zwischen nominellen und realen Zahlen. So auch beim BIP-Wachstum.
Nominelles Wachstum bedeutet: Wenn die pro Kopf produzierten Güter und Dienstleistungen in einem Jahr 100’000 Franken wert waren und im Folgejahr 105’000 Franken, dann entspricht dies einem Wachstum von 5 Prozent. Man vergleicht einfach die Beträge, und das war's.
Reales Wachstum bedeutet, dass man die Inflation mit einbezieht. Steigen die Preise zum Beispiel von einem Jahr zum nächsten um 2 Prozent, so verändert sich auch der reale Wert der Güter und Dienstleistungen, die in diesem Jahr hergestellt wurden. In Preisen des Vorjahres ausgedrückt, sind sie nun nicht mehr 105’000 Franken wert, sondern nur noch knapp 103’000. Das reale Wachstum beträgt nicht 5 Prozent, sondern nur 3 Prozent.
Dieser Unterschied ist wichtig. Denn das nominelle Wachstum weicht in gewissen Kantonen stark vom realen Wachstum ab. Etwa in Schaffhausen.
Nominell wuchs das dortige BIP pro Kopf zwischen 2008 und 2016 bloss um 5,1 Prozent. Real betrachtet fiel das Wachstum allerdings viel höher aus: Die dortige Wirtschaftsleistung wuchs nämlich um 14,7 Prozent, wenn man die Veränderung der Preise berücksichtigt, die die Schaffhauser Firmen für ihre Erzeugnisse erhielten. Sie sind im fraglichen Zeitraum nicht gestiegen, sondern stark gesunken.
Die Betriebe in Schaffhausen waren in den letzten Jahren stark vom Frankenschock betroffen: Um im Geschäft zu bleiben, mussten sie ihre Preise an die Konkurrenz im umliegenden Euroraum anpassen. Zudem mussten die Betriebe produktiver werden, also mit mehr oder weniger gleich viel Personal mehr Produkte herstellen.
Das Resultat dieser beiden Vorgänge (also der Preissenkungen und der Mengenausweitungen) waren sehr hohe reale Wachstumszahlen. Diese Zahlen bedeuten nicht, dass die Schaffhauser Betriebe über die letzten Jahre hinweg wahnsinnig reich geworden sind – im Gegenteil, ihre Margen waren wegen der Preissenkungen vermutlich eher klein, das nominelle Wachstum war niedrig. Ihren Ausstoss an Produkten haben sie nichtsdestotrotz erhöht.
Preisveränderungen haben auch in anderen Kantonen das Wachstum des BIP pro Kopf beeinflusst. In welche Richtung, zeigt die folgende Grafik.
Auf der horizontalen Achse ist dabei das nominelle Wachstum abgebildet: Je weiter rechts ein Kanton darauf figuriert, desto höher ist das nominelle Pro-Kopf-Wachstum. Die vertikale Achse zeigt die Auswirkungen sinkender Produzentenpreise: Je weiter oben ein Kanton steht, desto mehr spielt der «Schaffhauser Effekt» dort eine Rolle.
Die kantonalen BIP-Daten stammen vom Bundesamt für Statistik (BFS). Sie sind als Excel-Files erhältlich. Punktuell ergänzt wurden sie mit Bevölkerungsdaten, die ebenfalls vom BFS stammen und hier sowie hier generiert werden können.
Ähnlich wie in Schaffhausen ist ein Teil des realen BIP-Wachstums also auch in Basel-Stadt, in Zug sowie in Neuenburg und in Jura auf sinkende Preise für die dort hergestellten Produkte und Dienstleistungen zurückzuführen. Nominell wuchs die Wirtschaft in diesen Kantonen also weniger stark als real. Im Fall der beiden Jurakantone und von Basel dürfte dies auf die Grenznähe und die Eurokonkurrenz zurückzuführen sein; bei Zug ist die Sache etwas unklar.
Umgekehrt verhält es sich etwa in Graubünden. Dort fiel das nominelle Pro-Kopf-Wachstum von 2008 bis 2016 höher aus als das reale Wachstum. Was ein Zeichen dafür ist, dass die dortigen Firmen, beispielsweise aus der Baubranche, dank der geschützten geografischen Lage über eine grössere Preissetzungsmacht verfügten als die Unternehmen in anderen Kantonen.
Die unterschiedlichen Wachstumszahlen sind ein Ausschnitt davon, wie sich die Wirtschaft in den Schweizer Kantonen entwickelt hat. Sie zeigen – bei allen Unschärfen –, wo sich seit der Finanzkrise Firmen angesiedelt haben, wo sie dynamisch unterwegs waren und wo sie mit ihren Aktivitäten viel Geld verdienten. Daraus allzu viele Schlüsse für die Zukunft zu ziehen, wäre aber gefährlich. Gut möglich, dass die Wachstumsrangliste der Kantone in zehn Jahren genau umgekehrt aussieht – und Städte wie Genf oder Zürich dann wieder durchstarten.
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