Wir sollten es besser wissen
Am 25. November entscheidet die Schweizer Stimmbevölkerung, ob Sozialversicherungen in die Privatsphäre ihrer Kunden eingreifen dürfen. Dabei ist vieles unklar. Welche Fragen sind zu den Sozialdetektiven noch offen?
Von Elia Blülle, 25.10.2018
Der Surrealist Salvador Dalí hat einmal gesagt, dass es wichtiger sei, Verwirrung zu stiften, als sie zu eliminieren. Umgekehrtes gilt für die Schweizer Demokratie. Hier zählen Klarheit und Fakten. Die Bürgerinnen und Bürger sollen mit bestem Wissen über Gesetze entscheiden können – ohne Verwirrung.
Doch liest man die neuste Revision des Sozialversicherungsrechts, könnte man meinen, Bundesrat und Parlament hätten das Gesetz nach surrealistischen Motiven verfasst. Der neue Observationsartikel stellt mehr infrage, als er beantwortet: Er ist schwammig und schlampig verfasst.
Wie schwierig es ist, die Vorlage zu verstehen, zeigt eine vor kurzem eingereichte Abstimmungsbeschwerde. Die Gegner der Vorlage protestierten, der Bundesrat habe das Gesetz im Abstimmungsbüchlein falsch ausgelegt.
Nun müssen die Richterinnen entscheiden, ob die bundesrätliche Interpretation stimmt und die Bevölkerung hinreichend informiert wurde. Heisst das Bundesgericht die Beschwerde gut, muss die Abstimmung verschoben werden. Die Hürden für einen solchen Entscheid sind aber sehr hoch; eine Aufschiebung ist unwahrscheinlich.
Das heisst, am 25. November stimmen die Schweizer Stimmbürger über ein Gesetz ab, das interpretiert werden muss – wie ein surrealistisches Gemälde. Damit Sie bei der Entscheidungsfindung nicht allein sind, beantwortet die Republik die wichtigsten Fragen.
Worum gehts?
Sozialversicherungen wollen künftig mutmassliche Betrügerinnen und Betrüger wieder observieren. Dafür brauchen sie eine neue gesetzliche Grundlage. Diese steht am 25. November zur Abstimmung.
Was ist eine Sozialversicherung?
Es gibt verschiedene Sozialversicherungen. Zwei davon kennt in der Schweiz jeder: die obligatorische Invalidenversicherung (IV) und die Altersvorsorge (AHV). Daneben bieten aber auch private Unternehmen Sozialversicherungen an. Darunter fallen zum Beispiel Unfall- und Krankenversicherungen. Gemeinsam unterstehen sie aber alle demselben Recht: dem Sozialversicherungsgesetz. Dieses wollen Bundesrat und Parlament nun so anpassen, dass Versicherungen mögliche Betrüger wieder überwachen dürfen.
Und was ist mit der Sozialhilfe?
Die ist keine Versicherung. Zwar beschäftigten die lokalen Sozialbehörden in den letzten Jahren immer wieder Detektive, um Betrügerinnen auszuspionieren, doch sind dafür die kantonalen und kommunalen Gesetze verantwortlich – und nicht das national geregelte Sozialversicherungsgesetz.
Wie viele Betrüger gibt es überhaupt?
Eine Studie des Schweizerischen Versicherungsverbands schätzt, dass rund 10 Prozent aller Schadenszahlungen auf missbräuchlichen Forderungen beruhen. Bei den Sozialversicherungen dürfte diese Zahl aber etwas tiefer liegen. Im Jahr 2016 überführte die Invalidenversicherung 650 Personen des Missbrauchs. Von 221’600 Rentnern haben 0,3 Prozent die Versicherung betrogen – die Dunkelziffer nicht berücksichtigt.
Wieso mussten 2016 die Observationen eingestellt werden?
Long story short: Ein Schweizer Anwalt klagte vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und gewann. Das Gericht stellte im Urteil von 2016 fest, dass es in der Schweiz keine rechtliche Grundlage für die verdeckte Überwachung von Versicherten gebe.
Wie reagierten die Versicherungen?
Ohne gesetzliche Grundlage keine Überwachungen: Die IV und die Suva mussten in Windeseile ihre Versicherungsdetektivinnen zurückpfeifen. Seither dürfen sie keine Observationen mehr anordnen.
Und dann?
Reagierte die Politik. Eine gesetzliche Grundlage musste her. Mit ungewöhnlicher Schnelligkeit peitschten der Bundesrat und die parlamentarischen Kommissionen die Gesetzesänderung voran. Manche sprachen in Bern vom «ersten eidgenössischen Turbogesetz». Im Frühling 2018 winkte die Bundesversammlung die Gesetzesvorlage ohne Bedenken und mit grosser Mehrheit durch.
Falls das Gesetz angenommen wird: Wen dürfen die Versicherungen nun überwachen?
Die Observation ist das letzte Mittel. Schöpft eine Versicherung Verdacht, muss sie zuerst alternative Abklärungen treffen. Führen alle diese Überprüfungen zu keinem Resultat, kann sie einen Privatdetektiv losschicken. Anordnen darf die Observation die Versicherung selbst. Sie benötigt dafür nur in Ausnahmefällen eine richterliche Genehmigung. Die Hürden für einen Eingriff in die Privatsphäre wären sehr tief.
Welche Mittel dürfen die Versicherungen einsetzen?
Foto- und Tonaufnahmen sind von öffentlichem Grund aus erlaubt. Zusätzlich erlaubt das Gesetz auch den Einsatz von GPS-Peilsendern. Halten es die Versicherungen für notwendig, können sie Verdächtigen ein Ortungsgerät ans Auto kleben – allerdings nur mit einer richterlichen Genehmigung. Der Einsatz von Peilsendern ist heikel, weil er den Detektivinnen eine Totalüberwachung rund um die Uhr ermöglicht – ohne dass die Spitzel selber anwesend sein müssen.
Was ist mit Drohnen?
Der Bundesrat sagt, der Luftraum sei nicht allgemein zugänglich und deshalb seien Drohnen nicht für die Observation zugelassen. Das stimmt sicher für den Luftraum über privatem Grund. Doch der Luftraum über öffentlichem Gelände ist öffentlich, soweit er auch sonst benutzt werden darf – etwa mit einem Flugdrachen. Was heisst nun allgemein zugänglich? Befindet sich eine Drohne, die drei Meter über dem Boden fliegt, an einem allgemein zugänglichen Ort oder nicht? Wir wissen es nicht. Fakt ist: Den Einsatz von Drohnen verbietet das Gesetz nicht eindeutig.
Dürfen die Detektive mutmassliche Betrügerinnen auch in deren eigenem Garten fotografieren?
Gemäss neuem Gesetz dürfen Sozialdetektive Personen überwachen, wenn man sie von einem «allgemein zugänglichen Ort» aus beobachten kann. Dazu zählen auch Balkons und Gärten.
Wie sieht es mit dem Schlafzimmer aus?
Von einer Strasse aus kann eine Detektivin die verdächtige Person gut durchs unverdeckte Fenster beobachten. Der Bundesrat schreibt im Abstimmungsbüchlein, das sei verboten. Das Bundesgericht habe das so in früheren Urteilen definiert. Diese Auslegung ist allerdings umstritten, denn das entsprechende Bundesgerichtsurteil wurde auf einer anderen, alten gesetzlichen Grundlage gefällt. Fakt ist: Der Gesetzestext schliesst die Überwachung durchs Schlafzimmerfenster nicht aus.
Was ist mit Nachtsichtgeräten, Infrarotkameras und Feldstechern?
In früheren Stellungnahmen schrieb der Bundesrat: Es ist verboten, technische Geräte einzusetzen, welche die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit erheblich verstärken. Für welche Instrumente dieses Kriterium zutrifft, ist in der Gesetzesvorlage aber nicht deklariert. In der Vergangenheit haben Sozialdetektive zum Beispiel Teleobjektive eingesetzt, mit denen man aus weiter Ferne detaillierte Fotos schiessen kann. Ist das nun ein Gerät, welches die menschliche Wahrnehmungsfähigkeit erheblich verstärkt oder nicht? Wir wissen es nicht.
Wer darf spionieren?
Wer nicht vorbestraft ist, eine Detektiv- oder Polizeischule besucht hat, über zwei Jahre Berufserfahrung verfügt und vom Bundesamt für Sozialversicherungen bewilligt wurde, darf für Versicherungen spionieren. Das ist vor allem deshalb problematisch, weil die Berufsbezeichnung nicht geschützt ist. Jeder kann Privatdetektiv werden. Entsprechende Ausbildungen folgen keinen einheitlichen Vorschriften, und viele gelten als unseriös.
Wieso kann nicht die Polizei die Überwachungen übernehmen?
Versicherungsbetrug ist strafbar. Deshalb könnte auch die Polizei bei einem gut begründeten Verdacht ermitteln. Der Bundesrat sagt aber, dass die Klärung von Versicherungsleistungen nicht die Aufgabe der Staatsgewalt sei, sondern der jeweiligen Unternehmen. Dieses Argument klammert aus, dass Überwachungen sowieso erst angeordnet werden dürfen, wenn es eindeutige Betrugshinweise gibt. Sobald eine Versicherung erwägt, Sozialdetektivinnen einzuschalten, müsste also der Verdacht so gewichtig sein, dass er auch der Polizei gemeldet werden könnte.
Wie erfolgreich sind die Überwachungen?
Die IV behauptet, sie habe durch die verdeckte Observation im Jahr 2016 hochgerechnet rund 60 Millionen Franken eingespart. In 270 Fällen hat sie Detektive beauftragt; 180-mal bestätigten diese einen Missbrauch. Das heisst umgekehrt: Jede dritte Person wurde überwacht, ohne dass sich der Verdacht erhärtete.
60 Millionen Franken sind viel Geld. Ein gutes Argument. Wie muss man diese Zahl verstehen?
Sie ist mit Vorsicht zu geniessen. Im Jahr 2016 hat die IV durch Observationen 4 Millionen Franken gespart – bei Kosten von 1,3 Millionen. Diese Einsparung hat die Versicherung bis zum Rentenalter hochgerechnet und ist so auf die 60 Millionen gekommen. Problematisch daran ist, dass besonders junge Betrüger stark ins Gewicht fallen. Fliegt eine Betrügerin im Alter von 30 Jahren auf, rechnet die IV, dass sie ungerechtfertigte Rentenzahlungen über 35 Jahre hinweg verhindert hat. Dabei berücksichtigt sie nicht, dass es unwahrscheinlich ist, dass eine Person einen Betrug über eine so lange Zeit aufrechterhält. Zudem führen medizinische Fortschritte und Gesetzesrevisionen dazu, dass Rentenansprüche ständig neu überprüft werden.
Erfüllt die Schweiz die Erwartungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, wenn sie das Gesetz annimmt?
Das kann man im Voraus nicht sagen. Es wird allerdings nicht lange dauern, bis solche Fälle in Strassburg verhandelt werden. Betrachtet man die vergangene Rechtsprechung zu vergleichbaren Fällen, wäre es gut möglich, dass der Gerichtshof eine erneute Korrektur fordert – und die ganze Debatte damit wieder von neuem aufrollt.
Die entscheidende Frage: Verstösst der neue Observationsartikel gegen das Grundrecht auf Privatsphäre?
Privatsphäre ist ein Menschenrecht. Sie darf nur dann eingeschränkt werden, wenn dafür eine gesetzliche Grundlage vorhanden ist, die Grundrechte von Dritten auf dem Spiel stehen oder ein übergeordnetes öffentliches Interesse besteht. Willkürliche Überwachungen sind verboten; die Verhältnismässigkeit muss gewahrt werden.
Der neue Gesetzesartikel ist vor allem deshalb problematisch, weil er sehr vage formuliert ist. Der Bundesrat behauptet zwar, dass die Aufnahmen von privaten Räumlichkeiten vor Gericht nicht verwertet würden, doch der Gesetzestext schliesst das nicht aus.
Das Parlament hat bewusst darauf verzichtet, diesen und weitere unklare Punkte zu klären. So hätte es zum Beispiel festlegen können, dass nur Gärten und Balkons von einem allgemein zugänglichen Ort aus observiert werden dürfen. Oder dass Drohnen und Nachtsichtgeräte verboten sind.
Weil der Bundesrat und das Parlament das nicht getan haben, kann im Moment nur spekuliert werden, wie die Richter in künftigen Fällen entscheiden und wie sich die Versicherungen verhalten werden. Die Regeln sind so weit gefasst, dass nicht klar ist, was gilt und was nicht.
Sicher ist: Das vorgeschlagene Gesetz ermächtigt im Wortlaut Versicherungen zu erheblichen Eingriffen in die Privatsphäre ihrer Kundinnen und Kunden, ohne dass Gerichte darüber befinden. Das ist mit dem Grundrecht auf Privatsphäre nicht zu vereinbaren.
Worum gehts also wirklich?
Das Parlament und der Bundesrat haben schlecht gearbeitet. Sie tangieren mit ihrer Vorlage das Grundrecht auf Privatsphäre. Ob die Stimmbevölkerung das durchgehen lässt, entscheidet sie am 25. November.
Debatte: Wie weit soll der Kampf gegen Versicherungsbetrug gehen dürfen?
Bereits im Frühling, als im Parlament die gesetzliche Grundlage zur vorliegenden Abstimmung verabschiedet wurde, haben Sie mit uns diskutiert.
Jetzt steht das Gesetz. Am 25. November stimmt das Schweizer Stimmvolk darüber ab. Wir rollen deshalb die Debatte neu auf, diskutieren Sie heute mit Autor Elia Blülle.