Ein Realitätsschock

Ich machte mich bereit, mit meinem Gesprächspartner zu streiten. Dann staunte ich eine Stunde lang über ihn.

Von Urs Bruderer, 22.10.2018

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Ein kurzer Facebook-Check, und es war klar, was mich erwarten würde. Hans Peter Flückiger mag Organisationen, die im Namen der «christlich-abendländischen Kultur» gegen Homosexuelle, Minarette, die Abtreibung und den Sexualkundeunterricht wettern. Er ärgert sich über die Uno und die EU. Sein Herz schlägt für den FC Zürich, Militärflugzeuge und griechische Bergkräuter. Er mag Roger Köppel, die SVP und die Selbstbestimmungsinitiative.

Was tun? Über die Initiative reden, nehme ich mir vor. Mal schauen, wie schwer es ist, einen Anhänger der Volkspartei davon zu überzeugen, dass man den Willen des Volkes in die Schranken weisen muss, und zwar zum Wohle des Volkes.

Er sitzt an einem Tisch, eindeutig zu erkennen an der kleinen runden Lesebrille, die zwischen dem weissen Haar und dem kurzen weissen Bart knallrot leuchtet. Er trägt sie vorn auf der Nase und nimmt sie nie ab. Während des ganzen Gesprächs schaut er über die Brille hinweg in meine Augen.

Bis zur Pensionierung vor einem Jahr arbeitete er als Journalist für das «Bieler Tagblatt», angefangen hat er vor über vierzig Jahren beim «Bülacher Tagblatt», das damals Hans Ulrich Graf gehörte. Der war mal Nationalrat und Mitglied der fremdenfeindlichen Republikaner. Noch schlimmer, ein Rassist, denke ich.

«Es ist mühsam, wenn 25-jährige Männer aus Afrika behaupten, sie seien 17, um nicht ausgeschafft zu werden.» Hans Peter Flückiger erzählt von der Zeit, die er in einem Heim für Asylbewerber verbrachte. Er lernte sie alle kennen: die Schlitzohren, die Gefolterten, die Scheuen, die Aufschneider und die, die alles verloren haben. «Die Welt ist nicht schwarz-weiss», sagt Flückiger. Dann erzählt er mir die Stationen seines beruflichen Lebens, und ich staune.

Er macht das KV. Nach dem «Bülacher Tagblatt» zieht es ihn in die Ferne. Er heuert auf Frachtern an, die mit Geräten und Maschinen von Europa nach Guinea, Sierra Leone und Südafrika fahren und mit Kupfer und Holz zurück. Er schlendert über den sensationellen Strand von Lobito in Angola, ist unzufrieden und hat, wie er sagt, eine Einsicht: «Am Wetter kann es nicht liegen, am weissen Sand auch nicht. Also liegt es wohl am Flückiger, den du nie los wirst, egal, wie weit weg du gehst.»

Er kehrt zurück in die Schweiz und arbeitet in der Verwaltung eines Heimes für alkoholkranke Männer. Aus dem Heim wird eine Station im Strafvollzug. Häftlinge verbringen zwischen der Zeit im Gefängnis und der endgültigen Entlassung eine Weile bei Flückiger.

Aber eigentlich sollten wir ja über die Schweiz und unsere politischen Ansichten diskutieren. Flückiger sagt, dass er die SVP wie einen Hofnarren schätze. Ich finde, dreissig Prozent Hofnarren seien ein bisschen viel, und frage, wer denn der König sein soll an diesem Hof. «Ist doch gut, dass es diese Wadenbeisser gibt», sagt Flückiger. Er sieht die Partei als Gegenkraft zur «herrschenden ökosozialen Expertokratie».

Sollen wir uns jetzt über die Gefahren der Technokratisierung der Politik unterhalten? «Wir beide werden die Probleme der Welt heute nicht lösen», sagt Flückiger und erzählt von seiner Zeit bei Pfarrer Ernst Sieber, der ab 1989 die Süchtigen und HIV-Kranken der offenen Drogenszene am Zürcher Letten betreute. In einer besetzten Garage, bis er vom Besitzer die ganze Liegenschaft zur Verfügung gestellt bekam. «‹Gott will offenbar, dass ich das tue, da brauche ich keine Bewilligung von der Stadt mehr›, so war der Ernst», sagt Hans Peter Flückiger. Doch was Pfarrer Sieber faktisch schuf, war ein Spital. Und in der Schweiz kann auch ein Diener Gottes kein Spital betreiben ohne Bewilligung. Flückiger kümmerte sich für Sieber ums Administrative und darum, einen Haufen basisdemokratisch gesinnter Mitarbeitender zu einem gut funktionierenden Team zu formen.

Ich ging zu einem Ideologen, und ich traf einen Mann mit einem reichen Leben. Dass Hans Peter Flückiger zur SVP neigt, muss ich zur Kenntnis nehmen. Aber auch, dass seine Lebenserfahrung ihn viel biegsamer gemacht hat als ein Flugblatt dieser Partei. Und dass er wenig Interesse zeigt, deren Positionen zu verteidigen.

Meine Stunde mit Hans Peter Flückiger war ein Realitätsschock, eine Lektion darin, wie verzerrt wir einander auf Twitter oder Facebook wahrnehmen und wie viel verborgen bleibt hinter dem ständigen Imperativ, etwas zu mögen, zu kommentieren oder zu blockieren.

Als er mit Sträflingen gearbeitet habe, habe er deren Akten gelesen, erzählt Flückiger. «Was schickt man uns da für ein Monster?», habe er manchmal gedacht. Dann kamen Menschen mit einem Schicksal, und Hans Peter Flückiger fragte sich: «Ist es nicht einfach Zufall, dass ich auf dieser Seite des Tisches sitze und der Sträfling auf der anderen?»

Unsere sozialen Profile sind so aussagekräftig wie Gerichtsakten.

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