Vom Aufstieg des autoritären Staates

Verschwörungstheorien, korrumpierte Wirtschaft, Angriffe auf die Justiz: Polen ist Europas Warnung an die USA. Die Analyse einer amerikanisch-polnischen Doppelbürgerin.

Von Anne Applebaum (Text) und Bernhard Schmid (Übersetzung), 20.10.2018

Synthetische Stimme
0:00 / 73:15
Heldenverehrung: Lech Kaczyński, Bruder des amtierenden Jarosław, kam im April 2010 bei einem Flugzeugabsturz ums Leben. Rafal Milach/Keystone/Magnum Photo

Am 31. Dezember 1999 gaben wir eine Party. Ein Jahrtausend ging zu Ende, das neue stand vor der Tür. Die Leute wollten um jeden Preis feiern, und je exotischer die Lokalität, desto besser. Da lagen sie bei uns genau richtig, feierten wir doch in Chobielin, einem winzigen Nest im Nordwesten Polens, wo mein Mann und seine Eltern zehn Jahre zuvor ein altes Gutshaus gekauft hatten, eine Ruine damals noch, vom Schimmel befallen. Wir hatten das Haus wieder hergerichtet, im Schneckentempo, sodass es 1999 alles andere als fertig war, aber es hatte immerhin schon ein neues Dach. Ausserdem hatte es einen grossen, frisch getünchten und noch völlig unmöblierten Salon – geradezu ideal für ein Fest.

Die Gäste waren ein bunt zusammengewürfelter Haufen: befreundete Journalisten aus Berlin und London, eine Handvoll Diplomaten aus Warschau, zwei Freunde, die eigens aus New York eingeflogen waren; grösstenteils jedoch waren es Polen, Freunde von uns und Kollegen meines Mannes, der damals stellvertretender Aussenminister Polens war. Auch eine Handvoll junger – damals eher noch namenloser – polnischer Journalisten war mit von der Partie, dazu einige Staatsbeamte und ein, zwei Leute aus der Regierung.

Mehr oder weniger hätte man unsere Gäste wohl in die generelle Kategorie der polnischen Rechten einordnen können – antikommunistisch, konservativ. Zu diesem bestimmten Zeitpunkt jedoch hätten sich die meisten von ihnen aber auch als Liberale bezeichnen lassen – Marktliberale, klassische Liberale, Thatcheristen vielleicht. Aber selbst die wirtschaftspolitisch eher Flexibleren von ihnen glaubten definitiv an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sowie an die Nato-Mitgliedschaft Polens und seinen Weg in die Europäische Union; man sah sich anders gesagt bereits als integralen Bestandteil eines modernen Europa. Genau das verstanden die Polen in den 1990ern unter «rechts».

Die Party selbst war eher improvisiert; so etwas wie Catering gab es im ländlichen Polen vor der Jahrtausendwende nicht. Meine Schwiegermutter und ich machten zuberweise Rindereintopf und geröstete Randen. Auch Hotels gab es keine, also hatten wir die etwa hundertköpfige Schar unserer Gäste bei Bauern in der Gegend oder bei Freunden in der nahe gelegenen Stadt einquartiert. Ich hatte eine lange Liste, wer wohin gehörte, dennoch landeten einige auf dem Sofa unten im Souterrain. Die Musik – Mixtapes damals noch in der Ära vor Spotify – sorgte für die einzige ernsthafte kulturelle Kluft des Abends: Die Songs, die meine amerikanischen Freunde noch vom College her kannten, waren mitnichten die Songs, die den Polen vom Gymnasium her im Gedächtnis waren – es war also entsprechend schwierig, alle gleichzeitig zum Tanzen zu bekommen. Als ich zwischendurch mal nach oben ging, erfuhr ich, dass Boris Jelzin abgedankt hatte. Ich schrieb eine kurze Kolumne für eine britische Zeitung, dann ging ich wieder nach unten und genehmigte mir noch ein Glas Wein. So gegen drei Uhr morgens holte irgend so ein verrücktes Huhn aus schierem Überschwang eine mit Platzpatronen geladene kleine Pistole aus ihrer Handtasche und schoss damit in die Luft.

Nur um Ihnen einen Eindruck von der Stimmung zu geben. Und so ging das die ganze Nacht, die schliesslich am folgenden Nachmittag in einen Brunch überging. Es herrschte genau die Art von Optimismus, die mir aus der Zeit in Erinnerung ist. Wir hatten unser Haus wieder aufgebaut, unsere Freunde bauten das Land wieder auf. Ganz besonders deutlich erinnere ich mich an einen Spaziergang im Schnee – vielleicht am Tag vor der Party, vielleicht einen Tag danach –, jedenfalls waren wir ein zweisprachiges Grüppchen, alle redeten gleichzeitig, Englisch und Polnisch hallten vermischt durch den Birkenwald. In dem Augenblick, als Polen auf der Schwelle zum Westen stand, hatte man wirklich das Gefühl, wir spielten alle im selben Team. Wir waren uns einig, was die Demokratie anging, über den Weg in den Wohlstand, über die Richtung, die man einschlug.

Polens Polarisierung

Dieser Augenblick ist passé. Heute, fast zwei Jahrzehnte später, würde ich die Strassenseite wechseln, um einigen der Leute aus dem Weg zu gehen, die damals auf meiner Party waren. Und sie würden sich nicht nur weigern, mein Haus zu betreten, es wäre ihnen sogar peinlich, zugeben zu müssen, jemals bei mir gewesen zu sein. Überhaupt spricht die eine Hälfte der Leute, die auf meiner Party waren, heute nicht mehr mit der anderen. Die polnische ist heute eine der polarisiertesten Gesellschaften Europas, und wir sehen uns auf entgegengesetzten Seiten einer tiefen Kluft, die sich nicht nur durch die einstige polnische Rechte zieht, sondern auch durch die alte ungarische Rechte, die italienische Rechte und, mit einigen Unterschieden, auch durch die Rechte Grossbritanniens und der USA.

Einige meiner Silvestergäste standen, wie auch mein Gatte und ich, weiterhin zur proeuropäischen, rechtsstaatlichen, marktwirtschaftlich orientierten rechten Mitte; sie blieben in Parteien, die sich mehr oder weniger in einer Linie mit den europäischen Christdemokraten sehen, den liberalen Parteien Deutschlands und der Niederlande und den Republikanern von John McCain. Andere sehen sich heute eher als mitte-links. Wieder andere freilich landeten ganz woanders – bei einer nativistischen Partei mit Namen Recht und Gerechtigkeit (PiS), die sich mittlerweile drastisch wegbewegt hat von ihren Positionen aus der Zeit, in der sie zum ersten Mal – kurz – regierte, von 2005 bis 2007 und von 2005 bis 2010, als sie den Präsidenten stellte, was in Polen nicht ein und dasselbe ist.

1961 auf dem Filmset: Die Zwillingsbrüder Lech (l.) und Jarosław Kaczyński spielten die Hauptrollen in «Die zwei Monddiebe». Witold Rozmyslowicz/CAF/AFP

Seit damals hat sich die PiS einem neuen Paket von Ideen verschrieben: nicht nur fremdenfeindlich und dem restlichen Europa gegenüber zutiefst misstrauisch, sondern auch offen autoritär. Kaum hatte die Partei 2015 eine, wenn auch dünne, Mehrheit im Parlament erreicht, verstiess sie durch die Benennung neuer Richter ans Verfassungsgericht gegen ebendiese Verfassung. Später dann versuchte sie, nicht weniger verfassungswidrig, Polens Oberstes Gericht mit ihren Leuten zu besetzen. Sie übernahm das öffentlich-rechtliche Fernsehen Telewizja Polska (TVP), feuerte beliebte Moderatoren und begann – auf Kosten des Steuerzahlers – ungeniert mit der Ausstrahlung von mit leicht widerlegbaren Lügen gespickter Propaganda. International in Verruf geriet die Regierung durch die Verabschiedung eines Gesetzes, das die öffentliche Debatte um den Holocaust einzuschränken versucht. Obwohl das Gesetz schliesslich unter dem Druck der Amerikaner geändert wurde, erfreute es sich einer breiten Unterstützung an der ideologischen Basis der PiS: Journalisten, Schriftsteller und Denker, darunter auch einige meiner Partygäste, die der Ansicht sind, antipolnische Kräfte versuchten, Polen die Schuld an Auschwitz in die Schuhe zu schieben.

Funkstille unter Freunden

Diese Art von Ansichten macht es schwierig für mich und einige meiner Silvestergäste, überhaupt miteinander zu reden. So habe ich mich zum Beispiel seit einem hysterischen Anruf im April 2010, einige Tage nach dem Flugzeugabsturz des damaligen Präsidenten in der Nähe von Smolensk, nicht mehr mit einer Frau unterhalten, die einst eine meiner engsten Freundinnen gewesen war und die die Patin eines meiner Kinder ist. Nennen wir sie Marta. In den Jahren seither ist Marta Jarosław Kaczyński sehr nahe gekommen, dem Zwillingsbruder des bei dem Absturz umgekommenen Präsidenten und Vorsitzenden der PiS. Sie gibt regelmässig Lunches für ihn bei sich zu Hause und diskutiert mit ihm, wen er sich ins Kabinett holen sollte. Ich habe sie jüngst in Warschau zu besuchen versucht, aber sie wollte mich nicht sehen. «Worüber sollten wir uns unterhalten?», textete sie mir. Seither herrscht Funkstille zwischen uns.

Ein anderer meiner Gäste – die Frau, die mit der Pistole in die Luft geschossen hatte – trennte sich schliesslich von ihrem britischen Gatten. Sie scheint mittlerweile vollzeitlich als Troll im Internet tätig zu sein, wo sie geradezu fanatisch für die Verbreitung einer ganzen Reihe von Verschwörungstheorien sorgt, darunter so einige nachgerade vehement antisemitischen Inhalts. In ihren Tweets spricht sie von der Verantwortung der Juden für den Holocaust; einmal postete sie ein englisches Gemälde aus dem Mittelalter, das angeblich die Kreuzigung eines Jungen durch Juden zeigt; ihr Kommentar dazu: «Und da überrascht es sie, dass man sie auswies.» Sie redet den führenden Köpfen der amerikanischen Alt-Right nach dem Mund und bedient sich dabei deren Sprache.

Wie ich erfahren habe, sind beide Frauen ihren Kindern entfremdet, beide ihrer politischen Ansichten wegen. Auch das ist typisch für Polen: Die Demarkationslinie spaltet nicht nur Freundeskreise, sondern auch Familien. So hören etwa die Eltern einer unserer Nachbarinnen in Chobielin Radio Maryja, einen regierungsfreundlichen katholisch geprägten Sender, dessen Verschwörungstheorien sie – wie Mantras – ebenso nachbeten, wie sie seine Feindbilder übernehmen. «Ich habe meine Mutter verloren», sagte mir die Nachbarin. «Sie lebt in einer anderen Welt.»

Das Drama von Smolensk: Am 10. April 2010 stürzte nahe der russischen Stadt Smolensk eine Maschine mit polnischen Politikern ab – auch der damalige Präsident Lech Kaczyński kam ums Leben. Natalia Kolesnikova/AFP
Erste Ermittlungen ergaben, dass der Präsident die Piloten zu einem gefährlichen Manöver gedrängt hatte. Diese Erkenntnisse wurden später dementiert. Mikhail Metzel/AP PhotoRoR/Keystone

Die Analogie zu 1937

Um kein Hehl aus meinem persönlichen Interesse an beziehungsweise meiner Befangenheit in dieser Sache zu machen: Einige dieser Verschwörungstheorien richten sich gegen meine Person. Mein Mann war eineinhalb Jahre Verteidigungsminister in einer Koalitionsregierung unter der Führung der Partei für Recht und Gerechtigkeit während ihres ersten kurzen Vorgeschmacks auf die Macht. Später dann brach er mit der PiS und war sieben Jahre Aussenminister in einer anderen Koalitionsregierung, diesmal unter Führung der liberal-konservativen Bürgerplattform (PO); 2015 stand er nicht zur Verfügung. Als Journalistin und geborene Amerikanerin war ich als Gattin für die polnische Presse natürlich von Anfang an interessant. Als jedoch die PiS in dem Jahr gewann, sah ich mich auf den Titeln gleich zweier regierungsfreundlicher Magazine, «wSieci» und «Do Rzeczy» – bei beiden arbeiten ehemalige Freunde von uns, und beide präsentierten mich als verdeckte jüdische Koordinatorin der internationalen Auslandspresse und heimliche Dirigentin ihrer negativen Berichterstattung über das Land. Ähnliches war in den Abendnachrichten des TV-Senders Telewizja Polska zu hören.

Schliesslich hörte das dann wieder auf. Die negative Berichterstattung ist mittlerweile international viel zu verbreitet, um von einer einzelnen Person koordiniert zu werden, noch nicht mal von einer Jüdin. Aber selbstverständlich taucht das Thema von Zeit zu Zeit in den sozialen Medien auf.

In seinen weltbekannten Tagebüchern aus den Jahren 1935 bis 1944 zeichnete der rumänische Schriftsteller Mihail Sebastian einen noch weit extremeren Umschwung in seiner Heimat auf. Sebastian war – wie ich – Jude; wie in meinem Fall gehörten die meisten seiner Freunde der politischen Rechten an. In seinen Tagebüchern schildert er, wie sie sich, einer nach dem anderen, von der faschistischen Ideologie einwickeln liessen, angezogen wie die Motten vom offenen Feuer. Er berichtet von dem Selbstbewusstsein, ja, der Arroganz, die sie plötzlich an den Tag legten, als sie sich nicht mehr als Europäer – als Bewunderer Prousts, die nach Paris reisten –, sondern als Blut-und-Boden-Rumänen sahen. Als sie konspirativem Gedankengut verfielen oder beiläufige Grausamkeiten von sich zu geben begannen, hörte er aufmerksam zu. Menschen, die er seit Jahren gekannt hatte, beleidigten ihn plötzlich unverhohlen und taten dann, als sei nichts geschehen. «Ist denn eine Freundschaft mit Menschen möglich», überlegte er 1937, «die eine ganze Reihe mir fremder Ideen und Gefühle teilen, derart fremde Ideen, dass es schon betretenes Schweigen auslöst, wenn ich ins Zimmer komme?»

1937 ist lange her. Nichtsdestoweniger findet in unserer jetzigen Zeit, in dem Europa, in dem ich lebe, in Polen, einem Land, dessen Staatsbürgerschaft ich angenommen habe, ein analoger Umschwung statt. Und er vollzieht sich, ohne sich auf eine Wirtschaftskrise zu berufen, wie Europa sie in den 1930ern durchmachte. Polens Wirtschaft ist seit einem Vierteljahrhundert der beständigste Erfolg aller europäischen Volkswirtschaften beschieden; selbst nach dem globalen Finanzkollaps 2008 kam es hier nicht zur Rezession. Dazu kommt, dass von der Flüchtlingswelle, die über andere europäische Länder hinwegschwappte, hier überhaupt nichts zu spüren ist. Migrantenlager gibt es hier ebenso wenig wie islamistisch motivierten, ja Terrorismus überhaupt.

Wichtiger noch ist, dass die Menschen, die Nativisten, über die ich hier schreibe, auch wenn sie vielleicht nicht alle so erfolgreich sind, wie sie es gern wären (darüber gleich mehr), weder arm sind, noch zur Landbevölkerung gehören. Sie sind in keiner Weise Opfer des politischen Übergangs, und sie gehören auch keiner verarmten Unterschicht an. Ganz im Gegenteil, sie sind gebildet, sie sprechen Fremdsprachen und reisen ins Ausland – ganz wie Sebastians Freunde in den 1930er-Jahren.

Wie kam es zu diesem Gesinnungswandel? Hatten so manche unserer Freunde schon immer insgeheim einen Hang zum Autoritären gehegt? Oder haben die Menschen, mit denen wir da in den ersten Augenblicken des neuen Millenniums anstiessen, sich im Lauf der fast zwanzig Jahre irgendwie verändert? Meine Antwort darauf ist kompliziert, weil mir die Erklärung eher universeller Art zu sein scheint. Unter den richtigen Umständen kann wohl jede Gesellschaft der Demokratie den Rücken kehren. Ja, wenn sich aus der Geschichte lernen lässt, ist das früher oder später bei jeder Gesellschaft der Fall.

Erinnerungen an die Dreyfus-Affäre

Bevor ich fortfahre, hier eine Parenthese – nebst Mahnung: All das passiert nicht zum ersten Mal. Tief greifende politische Veränderungen – Ereignisse, die von einem Tag auf den anderen Familien und Freunde entzweien, die alle gesellschaftlichen Schichten betreffen und auf drastische Weise für neue Bündnisse sorgen – sind in Europa keine Alltagsereignisse, aber eben auch nicht ganz unbekannt. So hat man sich in jüngster Zeit viel zu wenig mit einer französischen Kontroverse vom Ende des 19. Jahrhunderts beschäftigt, die viele der Debatten des 20. Jahrhunderts vorweggenommen hat und eindeutig bis heute nachhallt.

Ausgelöst wurde die Dreyfus-Affäre 1894 durch die Entdeckung eines Verräters innerhalb des französischen Heeres: Irgendjemand hatte Informationen an die Deutschen weitergegeben, die Frankreich kaum ein Vierteljahrhundert zuvor besiegt und Elsass-Lothringen besetzt hatten. Frankreichs Nachrichtendienst nahm die Ermittlungen auf und behauptete schliesslich, den Schuldigen gefunden zu haben. Hauptmann Alfred Dreyfus war Elsässer, sprach mit deutschem Akzent und war Jude – womit er für viele kein richtiger Franzose war. Wie sich schliesslich herausstellte, war er auch unschuldig. Aber die Ermittler des französischen Militärs behalfen sich mit gefälschten Beweismitteln und Falschaussagen; Dreyfus kam vor ein Militärgericht, wurde schuldig gesprochen und zu Einzelhaft auf der Teufelsinsel vor der Küste von Französisch-Guayana verurteilt.

Die darauf folgende Kontroverse spaltete die französische Gesellschaft entlang mittlerweile sattsam bekannter Linien. Die, die auf Dreyfus’ Schuld beharrten, waren die Alt-Right – oder die Partei für Recht und Gerechtigkeit oder der Front National – ihrer Zeit. Sie machten sich für eine Verschwörungstheorie stark. Unterstützt wurden sie von den kreischenden Schlagzeilen der rechtslastigen französischen Regenbogenpresse, den Vorläufern, wenn man so will, der rechtsextremen Medientrolle von heute. Ihre Anführer logen um der Ehre des Militärs willen; ihre Anhänger klammerten sich an ihren Glauben an Dreyfus’ Schuld und an ihre absolute Loyalität zur Nation – selbst dann noch, als der Schwindel aufflog.

Dreyfus war kein Spion. Um das Unbeweisbare zu beweisen, mussten die Anti-Dreyfusarden Beweismittel, das Gesetz, ja sogar die Vernunft diskreditieren. Die Wissenschaft selbst war suspekt, schon weil sie modern und universell war, aber auch weil sie mit dem emotionsbesetzten Blut- und Bodenkult in Konflikt geriet. Jede wissenschaftliche Arbeit, so schrieb einer der Anti-Dreyfusarden, habe etwas «Bedenkliches» und «Situationsbedingtes».

Zweierlei Patrioten – bis heute

Die Dreyfusarden dagegen führten ins Feld, dass einige Prinzipien ja wohl über der Ehre der Nation stünden und es sehr wohl eine Rolle spiele, ob Dreyfus schuldig sei oder nicht. In erster Linie, so argumentierten sie, habe der französische Staat eine Verpflichtung, alle Bürger gleich zu behandeln, ungeachtet ihrer Religion. Auch sie waren Patrioten, sicher, aber von anderer Art. Sie sahen die Nation nicht als ethnischen Klan, sondern als Verkörperung eines Bündels von Idealen: Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Neutralität der Justiz. Es war dies eine eher geistige, abstraktere Vision und schwieriger zu fassen, aber nicht ohne Anziehungskraft, wenn auch eben anderer Art.

Wie auch immer, diese beiden Visionen spalteten die französische Nation mittendurch. Die Gemüter erhitzten sich. Ganz Paris stritt sich bei Tisch. Angehörige redeten nicht mehr miteinander, in einigen Fällen über mehrere Generationen hinweg. In Gestalt der unterschiedlichen Ideologien von Vichy und Résistance war die Kluft noch in der französischen Politik des 20. Jahrhunderts zu spüren. Sie besteht heute noch in Form des Ringens zwischen Marine Le Pens Spielart des Nationalismus – «Frankreich den Franzosen» – und Emmanuel Macrons breiterer Vision eines Frankreichs, das über Globalisierung und Integration für abstraktere Werte steht: Gerechtigkeit, Ehrlichkeit und die Neutralität der Justiz.

Für meine Betrachtungen ist die Dreyfus-Affäre besonders interessant, weil sie sich an einer einzigen cause célèbre entzündete. Ein Gerichtsverfahren – ein umstrittener Prozess – stürzte ein ganzes Land in eine zornige Debatte, sorgte für eine unauflösbare Spaltung zwischen Menschen, die bis dahin noch nicht einmal gewusst hatten, dass sie unterschiedlicher Meinung waren. Was da passiert war, zeigt jedoch, dass es bereits zuvor erhebliche Unterschiede in der Auffassung gegeben hatte, was unter «Frankreich» zu verstehen sei. Und diese offenbarten sich nun. Analog dazu mussten vor zwanzig Jahren ähnlich unterschiedliche Auffassungen von «Polen» nur darauf gewartet haben, durch Zufall, Umstände und persönlichen Ehrgeiz zum Ausbruch zu kommen.

Kaum an der Macht, griff die PiS in die Justiz ein. Die «Reformen» dauern bis heute an. Die Proteste dagegen auch. Jakub Wlodek/NurPhoto/Getty
Mit jedem Jahr wird der Mythos mächtiger: PiS-Anhänger gedenken sechs Jahre nach dem Flugzeugcrash von Smolensk der Opfer. Rafal Milach/Keystone/Magnum Photos

Lenins Erfindung

Was womöglich so überraschend nicht ist. Bei allen diesen Debatten, ob im Frankreich des Fin de Siècle oder im Polen kurz vor der Jahrtausendwende, steht im Kern eine Reihe wichtiger Fragen: Wer darf eine Nation definieren? Und dementsprechend: Wer darf sie regieren? Wir haben uns lange eingebildet, diese Fragen seien für immer geklärt – aber warum sollten sie?

Monarchie, Tyrannei, Oligarchie, Demokratie – Aristoteles hatte sie bereits gekannt, alle, vor 2000 Jahren. Der illiberale Einparteienstaat jedoch, wie man ihn heute überall auf der Welt findet – denken Sie an China, Venezuela oder Simbabwe – wurde in Russland entwickelt, von Lenin, in einem Prozess, der 1917 begann. Künftige Einführungen in die Politikwissenschaften werden sich an den Gründer der Sowjetunion mit Sicherheit nicht als gläubigen Marxisten erinnern, sondern als den Erfinder ebendieser politischen Organisationsform. Sie dient heute vielen aufstrebenden Autokraten rund um die Welt als Modell.

Im Gegensatz zum Marxismus handelt es sich bei Lenins Einparteienstaat jedoch nicht um eine Philosophie; er ist ein Mechanismus zur Erhaltung der Macht. Er funktioniert, weil er klar definiert, wer zur Elite gehören darf – zur politischen, zur kulturellen wie zur finanziellen. In vorrevolutionären Monarchien wie denen Frankreichs und Russlands war das Recht zu herrschen der Aristokratie vorbehalten, die sich durch strikte Codes hinsichtlich Abkunft und Etikette definierte.

Die moderne westliche Demokratie gewährt das Recht zu regieren, wenigstens der Theorie nach, durch verschiedene Spielarten des Wettbewerbs: Wahlkampf und Wahl, meritokratische Tests, die über den Zugang zu höherer Bildung, Staatsämtern und freien Märkten entscheiden. Altmodische gesellschaftliche Hierarchien gehören für gewöhnlich dazu, aber in modernen Staaten wie Grossbritannien, Amerika, Deutschland, Frankreich und bis vor kurzem auch in Polen gehen wir davon aus, dass Wettbewerb die gerechteste und effizienteste Art der Machtverteilung ist. Die bestgeführten Unternehmen sollten den grössten Umsatz machen; die ansprechendsten und kompetentesten Politiker sollten regieren. Der Wettbewerb zwischen ihnen sollte auf Augenhöhe stattfinden, um ein faires Resultat zu garantieren.

Korruptes System ohne Wettbewerb

Lenins Einparteienstaat war auf anderen Werten gegründet. Er stürzte zwar die alte aristokratische Ordnung, ersetzte sie aber nicht durch ein Wettbewerbsmodell. Der bolschewikische Einparteienstaat war nicht nur undemokratisch, er war so antidemokratisch, wie er gegen jeden Wettbewerb war. Weder Studienplätze noch Beamtenstellen oder Posten in Regierung und Industrie gingen an die Tüchtigsten oder Fähigsten; sie gingen an die Loyalsten. Die Leute kamen voran, weil sie in der Partei waren und willens, sich an die Regeln zu halten.

Diese Regeln mochten sich von Zeit zu Zeit ändern, waren in gewisser Weise aber auch wieder konsistent. So schlossen sie für gewöhnlich die ehemalige herrschende Elite und deren Sprösslinge aus; dasselbe galt für bestimmte suspekte Ethnien. Sie bevorzugten die Kinder der Arbeiterklasse. Vor allem aber bevorzugten sie Menschen, die lauthals ihren Glauben an das Credo kundtaten, die zu den Parteiversammlungen gingen, die an öffentlichen Zurschaustellungen von Begeisterung teilnahmen. Im Gegensatz zur gewöhnlichen Oligarchie bietet der Einparteienstaat Aufstiegsmöglichkeiten; wahre Gläubige kommen voran. Hannah Arendt schrieb bereits in den 1940er-Jahren, die «totalitäre Bewegung» müsse, «wenn sie erst einmal die Macht in der Hand hat, unerbittlich alle Talente und Begabungen, ohne Rücksicht auf etwaige Sympathien durch Scharlatane und Narren ersetzen. Ihre Dummheit und ihr Mangel an Einfällen», so fährt sie fort, seien «die beste Bürgschaft für die Sicherheit des Regimes».

Lenins Einparteiensystem reflektierte ausserdem seine Verachtung für die Idee des neutralen Staats, apolitischer Staatsdiener und objektiver Medien. Pressefreiheit, so schrieb er einmal, sei eine «Täuschung»; die Freiheit, sich versammeln zu können, verspottete er als «hohle Phrase». Was die parlamentarische Demokratie selbst anbelangte, so war sie für ihn nichts weiter als eine «Maschine zur Unterdrückung der Arbeiterklasse durch die Bourgeoisie». In der bolschewistischen Fantasie konnte die Presse frei und konnten öffentliche Einrichtungen fair sein, war sie erst einmal – über die Partei – von der Arbeiterklasse kontrolliert.

Dieser Hohn für die Wettbewerbseinrichtungen der «bourgeoisen Demokratie» und des Kapitalismus hat auch eine lange Geschichte in seiner Version von rechts. Hitlers Deutschland wird hier für gewöhnlich als Beispiel genannt. Aber es gibt noch viele andere mehr. So war etwa Südafrika unter der Apartheid de facto ein Einparteienstaat, der seine Presse und seine Justiz korrumpierte, um Schwarze vom politischen Leben auszuschliessen und die Interessen der Afrikaaner zu fördern, der weissen Nachkommen holländischer Siedler, denen kein Erfolg beschert war in der kapitalistischen Wirtschaft des britischen Empire.

Vetternwirtschaft ersetzt Meritokratie

In Europa sind derzeit zwei solche illiberalen Parteien an der Macht: die Partei für Recht und Gerechtigkeit in Polen und Viktor Orbáns Fidesz in Ungarn. Andere, etwa in Österreich und Italien, sind Teil regierender Koalitionen oder erfreuen sich landesweiter Unterstützung. Diese Parteien tolerieren die Existenz politischer Opponenten. Aber sie bedienen sich sämtlicher verfügbarer Möglichkeiten, legaler wie illegaler, um die Funktionsfähigkeit ihrer Opponenten zu obstruieren und die Bewegungsfreiheit der Konkurrenz einzuschränken, der politischen wie der wirtschaftlichen. Nur ungern sehen sie Investitionen aus dem Ausland und kritisieren Privatisierung, es sei denn, sie nützt ihren Anhängern. Sie unterminieren die Meritokratie. Wie Donald Trump mokieren sie sich über Vorstellungen von Neutralität und Professionalismus, sei es bei Journalisten, sei es bei Staatsdienern. Und sie versuchen Unternehmen daran zu hindern, Werbung bei «oppositionellen» – sprich ihrer Ansicht nach illegitimen – Medien zu platzieren.

Korruptionsvorwürfe können ihm nichts anhaben: Ungarischer Premierminister Viktor Orbán. Darko Vojinovic/AP Photo/Keystone

Es ist bezeichnend, dass eine der ersten offiziellen Handlungen der Partei für Recht und Gerechtigkeit Anfang 2017 in der Änderung des Beamtengesetzes bestand, was es ihr leichter machte, Profis vor die Tür zu setzen und unfähige Parteimitglieder einzustellen. Polens auswärtiger Dienst möchte die Anforderung für Diplomaten abschaffen, zweier Fremdsprachen mächtig zu sein, eine Hürde, die ihren bevorzugten Kandidaten zu hoch zu sein scheint. Die Regierung feuerte die Chefs polnischer Staatsbetriebe. Früher mussten Leute in diesen Rollen zumindest ein gewisses Mass an Erfahrung als Staatsdiener oder in der Wirtschaft aufweisen. Heute werden diese Stellen grösstenteils mit Mitgliedern der PiS oder deren Freunden oder Verwandten besetzt. Ein typisches Beispiel dafür ist Janina Goss, eine alte Freundin von Kaczyński, von der der ehemalige Premier sich einmal eine erhebliche Summe geborgt hatte, dem Vernehmen nach, um die ärztliche Behandlung seiner Mutter zu zahlen. Goss, die für ihr Leben gern einkocht und Marmeladen macht, sitzt heute in der Direktion der Polska Grupa Energetyczna, Polens grössten Energiekonzerns, auf dessen Lohnliste mehr als 40’000 Menschen stehen.

Sie können das nennen, wie Sie wollen: Vetternwirtschaft, Staatsübernahme. Aber denken Sie immer daran, dass sich dem durchaus auch etwas Positives abgewinnen lässt, steht es doch für das Ende der verhassten Vorstellungen von Meritokratie und Wettbewerb, Prinzipien, die per definitionem den weniger Erfolgreichen noch nie von Nutzen gewesen sind. Ein korruptes System ohne Wettbewerb hört sich schlimm an für jene, die lieber in einer von Talentierten regierten Gesellschaft leben. Aber falls Ihnen daran nicht unbedingt etwas liegt, was gibt es daran auszusetzen?

Wenn Sie – wie meine alten Freunde heute – glauben, dass Polen besser dran sein wird, wenn erst einmal Leute regieren, die sich das Regieren dadurch verdient haben, dass sie sich lautstark zu einer bestimmten Art von Patriotismus bekennen, dass sie dem Parteichef loyal oder dass sie, um es mit Kaczyńskis Worten zu sagen, die «besseren Polen» sind – dann werden Sie einen Einparteienstaat sogar für fairer halten als eine vom Wettbewerb bestimmte Demokratie. Warum sollte man mehreren Parteien erlauben, chancengleich miteinander zu konkurrieren, wenn moralisch gesehen nur einer von ihnen das Recht zur Regierungsbildung zusteht? Warum sollte man Unternehmen gestatten, auf einem freien Markt zu konkurrieren, wo doch nur die Riege parteitreuer Unternehmen ein Anrecht auf Wohlstand hat?

Der Neid der Zukurzgekommenen

Verstärkt werden solche Impulse, in Polen wie in Ungarn und anderen ehemals kommunistischen Ländern, durch ein weitverbreitetes Gefühl, die Wettbewerbsregeln seien nicht fair, weil schon die Reformen der 1990er-Jahre unfair gewesen seien. Insbesondere ermöglichten sie zu vielen ehemaligen Kommunisten, ihre politische in wirtschaftliche Macht umzumünzen.

Dieses Argument jedoch, das vor einem Vierteljahrhundert noch so stichhaltig schien, nimmt sich heute so fadenscheinig wie oberflächlich aus. Spätestens seit 2005 wird Polen ausschliesslich von Präsidenten und Premiers regiert, deren politische Biografie bei der antikommunistischen Solidarność-Bewegung begann. Und es gibt in Polen auch kein mächtiges ex-kommunistisches Kartell, jedenfalls nicht auf landesweiter Ebene, wo eine Menge Leute ohne besondere politische Beziehungen Geld verdient haben. Pikanterweise sitzt der prominenteste polnische Ex-Kommunist Stanisław Piotrowicz im Augenblick für Recht und Gerechtigkeit im Parlament, und es überrascht womöglich nicht weiter, dass er so gar kein Freund einer unabhängigen Judikative ist.

Nichtsdestoweniger hat die Unterstellung eines anhaltenden kommunistischen Einflusses für die politischen Intellektuellen vom rechten Flügel meiner Generation nichts von ihrem Appeal verloren. Einigen von ihnen scheint sie zur Erklärung ihres persönlichen Versagens herzuhalten – oder einfach ihres persönlichen Pechs. Nicht jeder, der in den 1970ern Dissident war, konnte nach dem Mauerfall Premierminister werden, Bestsellerautor, respektierter Intellektueller. Und bei vielen nährt das einen schwelenden Groll. Die tiefe Überzeugung, sich das Regieren verdient zu haben, ist ein starkes Motiv, zur Verwirklichung seiner Ambitionen die Elite anzugreifen, linientreue Richter zu ernennen und die Presse mundtot zu machen. Ressentiments, Neid, vor allem aber der Glaube an die Ungerechtigkeit des «Systems», das sind massgebliche Empfindungen bei den Intellektuellen der polnischen Rechten.

Das ungleiche Bruderpaar Kurski

Das heisst nicht, dass es dem illiberalen Staat an sich an Anziehungskraft mangeln würde. Aber er ist eben auch persönlich von Vorteil für einige seiner Befürworter – und das in einem Mass, dass man sich extrem schwertun würde, die persönliche von der politischen Motivation zu trennen. Genau das habe ich aus der Geschichte von Jacek Kurski gelernt, dem Direktor des polnischen staatlichen Fernsehens und Chefideologen des illiberalen polnischen Staats. Er begann am selben Ort und zur selben Zeit wie sein Bruder Jarosław, der die grösste und einflussreichste liberale Zeitung Polens herausgibt. Die beiden sind zwei Seiten ein und derselben Münze.

Zum Verständnis des Bruderpaars Jacek und Jarosław Kurski ist es wichtig, sich vor Augen zu halten, woher sie kommen: aus Danzig, der Hafenstadt an der Ostsee, in der die Kräne des Hafens wie Riesenstörche über den hanseatischen Strassenfassaden stehen. Die Kurskis erreichten dort Anfang der 1980er-Jahre ihre Volljährigkeit; Danzig war damals sowohl Zentrum antikommunistischer Aktivitäten als auch tiefste Provinz, ein Ort, in dem Langweile und Intrigen sich die Waage hielten.

Zu diesem speziellen Zeitpunkt an diesem speziellen Ort standen die Kurski-Brüder heraus. Vom späteren Senator Bogdan Borusewicz, einem der wichtigsten Gewerkschaftsaktivisten des polnischen Untergrunds jener Zeit, erfuhr ich, dass die Schule, auf die sie gingen, weithin als zrewoltowane – aufrührerisch – galt. Jarosław Kurski vertrat seinen Jahrgang im Schulparlament und gehörte einer Gruppe an, die konservative Geschichte und Literatur las. TV-Direktor Jacek, sein etwas jüngerer Bruder, interessierte sich weniger für den intellektuellen Kampf gegen den Kommunismus; er sah sich mehr als Radikaler und Aktivist. Im unmittelbaren Gefolge der Aufhebung des Kriegsrechts gingen beide Brüder auf Demonstrationen, skandierten Parolen, schwenkten Transparente. Beide wirkten erst bei der illegalen Schülerzeitung mit und dann bei «Solidarność», der ebenfalls illegalen Oppositionszeitung der gleichnamigen Gewerkschaft in Danzig.

Zwei gegensätzliche Brüder: Jarosław und Jacek Kurski 2005 in Warschau. Robert Laska/www.robertlaska.com

Jarosław Kurskis Lektion

Im Oktober 1989 trat Jarosław Kurski seine Stelle als Pressesprecher von Lech Wałęsa, dem Chef der Solidarność, an, der nach den Wahlen von Polens erster nichtkommunistischer Regierung verstimmt war, weil er sich ignoriert fühlte; im Chaos revolutionärer Wirtschaftsreformen und des rasanten politischen Wandels schien es keine Rolle für ihn zu geben. Ende 1990 dann gewann Wałęsa bei den Präsidentschaftswahlen, indem er den Teil der Bevölkerung mobilisierte, der Probleme mit den mit den scheidenden Kommunisten ausgehandelten Kompromissen hatte (mit der Entscheidung, zum Beispiel, die alte Garde weder einzusperren noch sonst wie zu bestrafen).

Jarosław Kurski zog aus der Erfahrung die Lektion, dass die Politik nicht seine Sache war, schon gar nicht wenn sie von Ressentiments bestimmt war: «Ich sah, worum es in der Politik in Wirklichkeit geht … abscheuliche Intrigen, die Suche nach schmutziger Wäsche, Hetzkampagnen.» Das galt auch für seine erste Begegnung mit Kaczyński, einem «Meister von alledem. In seinem politischen Denken gibt es keinen Zufall … Wenn etwas passierte, dann war es die Machenschaft eines Aussenstehenden. Verschwörung war sein Lieblingswort.» (Im Gegensatz zu Jarosław wollte Jacek Kurski nicht mit mir sprechen. Ein gemeinsamer Bekannter gab mir die Nummer seines privaten Mobiltelefons; ich schickte ihm eine SMS, rief ihn dann einige Male an und hinterliess eine Nachricht. Ich rief wieder an, und jemand lachte auf, als ich meinen Namen nannte, wiederholte ihn und sagte dann: «Ja, natürlich, selbstverständlich» – natürlich würde der Chef des polnischen Fernsehens mich zurückrufen. Was er aber nicht tat.)

Jarosław Kurski hörte schliesslich bei Wałęsa auf und ging zur «Gazeta Wyborcza», der Zeitung, die man 1989 um die Zeit der ersten teilweise freien Wahlen gegründet hatte. Im neuen Polen habe er etwas mitaufbauen können, eine freie Presse schaffen helfen, sage er mir, und das genügte ihm. Sein Bruder Jacek schlug die entgegengesetzte Richtung ein. «Du bist doch blöde», sagte dieser zu Jarosław, als er erfuhr, dass der bei Wałęsa aufgehört hatte. Obwohl er noch zur Schule ging, schwebte Jacek Kurski bereits eine politische Karriere vor; er schlug seinem Bruder sogar vor, dessen Posten zu übernehmen – es würde doch sowieso keiner merken.

Der «skrupellose» Bruder Jacek

Die Kaczyński-Brüder hatten Jacek – wie Jarosław es ausdrückte – schon immer genauso «fasziniert» wie Ränke, Intrigen, Verschwörungen. Obwohl er politisch rechts stand, interessierte ihn der polnische Konservatismus im Einzelnen nicht sonderlich, weder die Bücher noch die Debatten, die sein Bruder so fesselnd fand. Eine Freundin der beiden sagte mir, sie glaube nicht, dass Jacek Kurski so etwas wie eine politische Philosophie habe. «Ist er ein Konservativer? Ich glaube nicht, wenigstens nicht im strengen Sinne der Definition. Er ist jemand, der ganz oben sein möchte.» Und vom Ende der 1980er-Jahre an tat er alles, um dorthin zu kommen.

Um alles zu erzählen, was Jacek Kurski dazu unternahm, würde ein Magazinartikel nicht ausreichen. Belassen wir es dabei, dass er sich schliesslich gegen Wałęsa wandte, vielleicht weil der ihm den Posten nicht gab, den er seiner Ansicht nach verdient hatte. Er heiratete, liess sich scheiden; mehrmals verklagte er die Zeitung seines Bruders, und die Zeitung verklagte ihn. Er wirkte an einem leidenschaftlichen Buch mit und drehte einen Verschwörungsfilm über die geheimen Kräfte, die gegen die polnische Rechte Front machte. Zu verschiedenen Zeiten war er Mitglied diverser Parteien und Faktionen – die einen eher unwesentliche Randgruppen, die anderen eher im Zentrum. 2009 wurde er Mitglied des Europaparlaments, entwickelte sich zum Spezialisten für schwarze PR – verdeckte Negativkampagnen. Wie allseits bekannt, half er die Präsidentschaftskampagne Donald Tusks torpedieren (der schliesslich Premier wurde). Teils verbreitete er dazu das Gerücht, Tusks Grossvater sei seinerzeit freiwillig zur Wehrmacht gegangen. Zu diesem Eingriff befragt, sagte Jacek Kurski Berichten zufolge, dass das natürlich nicht stimmte, aber «ciemny lud to kupi» – was frei übersetzt so viel bedeutet wie «die dummen Bauern kaufen das schon». Senator Bogdan Borusewicz bezeichnet Jacek Kurski als «skrupellos».

Die Anerkennung des Volkes, die ihm seiner Ansicht nach als jugendlichem Aktivisten der Solidarność zustand, blieb Jacek Kurski versagt. Was selbstverständlich eine schwere Enttäuschung war. Jarosław Kurski sagt von seinem Bruder: «Sein ganzes Leben denkt er schon, man schulde ihm eine grosse Karriere … dass er Premierminister wird, dass er dazu bestimmt ist, Grosses zu leisten. Aber er ist vom Schicksal zum Scheitern verurteilt, immer und immer wieder … Für ihn ist das eine grosse Ungerechtigkeit.» Und natürlich ist Jarosław Kurski erfolgreich, ein Mitglied des Establishments.

Plötzlich Fernsehchef, plötzlich freie Bahn

2015 holte Kaczyński Jacek Kurski aus der relativen Obskurität des politischen Rands und machte ihn zum Direktor des öffentlich-rechtlichen Fernsehens. Seit Antritt seines Postens bei Telewizja Polska hat der jüngere Kurski den Sender bis zur Unkenntlichkeit umgekrempelt, indem er seine bekanntesten Journalisten vor die Tür setzte und seine Politik radikal neu ausrichtete. Obwohl der Sender vom Steuerzahler finanziert wird, geben sich die Nachrichten noch nicht einmal den Anschein von Objektivität oder Neutralität. Erst diesen April, zum Beispiel, brachte der Sender einen Werbespot für sich selbst. Dieser zeigte einen Clip aus einer Pressekonferenz; der Chef der Oppositionspartei Grzegorz Schetyna sieht sich gefragt, was seine Partei in den acht Jahren Koalitionsregierung von 2007 bis 2015 geleistet habe. Schetyna überlegt, zieht die Stirn kraus; das Video geht in Zeitlupe über und bricht dann ab. Es hinterlässt den Eindruck, er habe nichts zu sagen.

In Wirklichkeit redete Schetyna mehrere Minuten lang und zählte eine Reihe von Leistungen auf: von massiven Strassenbauprojekten über Investitionen in die Landwirtschaft bis hin zu Fortschritten in der Aussenpolitik. Man hielt den manipulierten Clip jedoch für so gelungen, dass Telewizja Polskas Twitter-Feed ihn gleich mehrere Tage lang ganz oben behielt. Unter der Ägide der PiS produziert das öffentlich-rechtliche Fernsehen nicht nur Regimepropaganda, es feiert sich auch noch selbst dafür. Es verdreht und verzerrt Informationen nicht nur, es kostet diese Täuschung obendrein auch noch aus.

Nachdem man Jacek den gebührenden Respekt so viele Jahre lang vorenthalten hatte, rächt er sich jetzt. Er ist genau dort, wo er seiner Ansicht nach hingehört: im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Er ist der Radikale, der im übertragenen Sinne Molotow-Cocktails in die Menge wirft. Der illiberale Einparteienstaat kommt ihm gerade recht. Und wo der Kommunismus als realer Feind nicht mehr wirklich infrage kommt, muss man sich eben neue Feinde suchen.

Gestern die grossen Lügen, heute alternative Realität

Von Orwell bis Koestler waren die europäischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts besessen von dem Gedanken der «grossen Lüge»: die mächtigen ideologischen Konstrukte des Kommunismus und des Faschismus, die Plakate, welche Treue gegenüber der Partei oder dem Führer verlangten, die in Formation marschierenden Braunhemden und Schwarzhemden, die Fackelzüge, die Anti-Terror-Polizei. Alles grosse Lügen, die so absurd wie unmenschlich waren, alle bedurften sie anhaltender Gewalt, um sie durchzusetzen und die Gewalt als Drohung zu institutionalisieren. Sie bedurften der Umerziehung, der totalen Kontrolle der Kultur, der Politisierung von Journalismus, Sport, Literatur und Kunst.

Im Gegensatz dazu verlangen die polarisierenden politischen Bewegungen des 21. Jahrhunderts ihren Anhängern weit weniger ab. Da sie keinen Glauben an eine ausgewachsene Ideologie fordern, erfordern sie auch keine Gewalt, keinen Polizeiterror mehr. Sie zwingen die Menschen nicht mehr dazu, Schwarz für Weiss zu halten, Krieg für Frieden, oder zu glauben, die staatliche Landwirtschaft hätte ihr Plansoll zu 1000 Prozent erfüllt. Die meisten von ihnen bedienen sich noch nicht einmal einer Propaganda, die der Alltagsrealität widerspricht. Und dennoch verlassen sie sich alle, wenn schon nicht auf die grosse Lüge, so doch auf etwas, was man, wie der Historiker Timothy Snyder mir gegenüber mal meinte, als mittelgrosse Lüge oder als Bündel mittelgrosser Lügen bezeichnen sollte. Man könnte auch sagen, sie fordern ihre Anhänger dazu auf, sich, wenn schon nicht ständig, so doch immer wieder, auf eine alternative Realität einzulassen. Manchmal hat sich diese alternative Realität organisch entwickelt; meist freilich ist sie mithilfe moderner Marketingtechniken, Zielgruppensegmentierung und Social-Media-Kampagnen sorgsam formuliert.

Amerikaner wissen natürlich, wie eine Lüge zur Polarisierung beitragen und Öl ins Feuer der Fremdenfeindlichkeit giessen kann: Donald Trump hat auf dem Rücken der «Birther»-Bewegung Einzug in die amerikanische Politik gehalten: der falschen Prämisse, Barack Obama sei kein gebürtiger Amerikaner – eine Verschwörungstheorie, deren Durchschlagskraft man damals erheblich unterschätzte und die den Weg für weitere Lügen ebnete, von «mexikanischen Vergewaltigern» bis zu «Pizzagate». In Polen jedoch, wie auch in Ungarn, haben wir heute Beispiele dafür, was passiert, wenn eine mittelgrosse Lüge – eine Verschwörungstheorie – erst von einer politischen Partei als zentraler Punkt ihres Wahlkampfs und dann von einer herrschenden Partei propagiert wird, der die geballte Kraft eines modernen, zentralisierten Staatsapparats zur Verfügung steht.

Smolensk 2010 – Das polnische 9/11

In Ungarn ist diese Lüge alles andere als originell: Sie besteht in dem – mit der russischen Regierung und der amerikanischen Alt-Right geteilten – Glauben an die übermenschlichen Kräfte des jüdischen Milliardärs George Soros, der angeblich die Nation durch die bewusste Einfuhr von Migranten zu Fall zu bringen versucht, und das obwohl es in Ungarn diese Migranten nicht gibt.

In Polen ist die Lüge wenigstens originell: Sie besteht in der Theorie einer Verschwörung von Smolensk – dem Glauben, mit anderen Worten, eine böse Kabale habe im April 2010 die Präsidentenmaschine zum Absturz gebracht. Diese Geschichte hat in Polen besondere Durchschlagkraft, weil der Absturz für einige schaurige historische Echos sorgte. Lech Kaczyński, der Präsident, der dabei ums Leben kam, war auf dem Weg zu einer Feier zum Gedenken an das Massaker von Katyn, wo Stalin 1940 über 21’000 Polen – einen Gutteil der Elite des Landes – hatte ermorden lassen. Beim Crash 2010 waren Dutzende hochrangiger Militärs und Politiker an Bord, viele von ihnen Freunde von mir. Mein Mann meint, er habe, einschliesslich der Flugbegleiter, jeden an Bord gekannt.

Ehrung für die fast hundert hohen Politiker und Militärangehörigen, die beim Crash von Smolensk ums Leben kamen. Robert Stolarik/Polaris/laif
Trauernde warten auf die Särge von Lech Kaczyński und seiner Frau Maria. Béla Szandelszky/AP Photo/Keystone

Auf den Absturz hin schwappte eine ungeheure Welle von Emotionen durchs Land. Sie glich in ihrer Hysterie dem Wahnsinn, der nach 9/11 die Vereinigten Staaten ergriff. Die Moderatoren im Fernsehen trugen schwarze Krawatten; Freunde, die in unserer Warschauer Wohnung zusammenkamen, meinten, es hätte sich da Geschichte wiederholt in diesem feuchten, finsteren russischen Wald. Zuerst hatte es ganz den Anschein, als würde die Tragödie das Land einen. Immerhin waren Politiker aller grösseren Parteien in der Maschine gewesen; in vielen Städten fanden gross angelegte Beerdigungsfeierlichkeiten statt. Sogar Wladimir Putin, damals Premierminister, schien bewegt. Er reiste noch am Abend des Absturzes nach Smolensk, um sich mit Tusk zu treffen, damals ebenfalls Premier. Tags darauf strahlte einer von Russlands meistgesehenen Fernsehsendern Andrzej Wajdas «Das Massaker von Katyn» aus, einen emotionsgeladenen und ausgesprochen antisowjetischen Film. Nie hatte man im russischen Fernsehen landesweit dergleichen gesehen.

«Ihr macht das schon!»

Aber der Absturz brachte die Menschen mitnichten zusammen; er nicht und schon gar nicht die Untersuchung seiner Ursachen.

Noch am selben Tag waren Teams polnischer Experten am Absturzort. Sie taten ihr Bestes, die Leichen zu identifizieren, von denen viele fast völlig verbrannt waren. Sie untersuchten das Wrack. Nachdem die Blackbox gefunden war, machte man sich an die Transkription der Stimmaufzeichnungen der Cockpitgespräche. Die Wahrheit, die sich da abzuzeichnen begann, war alles andere als beruhigend für Recht und Gerechtigkeit oder deren Chef, den Zwillingsbruder des umgekommenen Präsidenten.

Die Maschine war mit Verspätung gestartet, und der Präsident dürfte es eilig gehabt haben, schliesslich sollte die Reise der Auftakt seiner Kampagne zur Wiederwahl sein. In Smolensk jedoch herrschte dichter Nebel, und die Stadt hat nicht wirklich einen Flugplatz, sondern lediglich eine Start- und Landebahn mitten im Wald. Die Piloten dachten an eine Ausweichlandung, was jedoch eine mehrstündige Autofahrt bedeutet hätte. Nach einer kurzen telefonischen Rücksprache des Präsidenten mit seinem Bruder hatten seine Berater die Piloten offenbar zur Landung gedrängt. Ausserdem waren einige von ihnen, entgegen der Vorschriften, während des Flugs im Cockpit aus und ein spaziert. Ebenfalls wider die Vorschriften war, dass der Chef der Luftwaffe sich zu den Piloten gesetzt hatte. «Zmieścisz się śmiało» – «Ihr macht das schon, traut euch nur», sagte Lech Kaczyński. Sekunden später kollidierte die Maschine mit den Wipfeln einiger Birken, geriet in Schräglage und schlug im Wald auf.

Die Geburt einer mächtigen Verschwörungstheorie

Anfangs scheint Jarosław Kaczyński selbst an den Unfall geglaubt zu haben. «Ist alles eure Schuld und die Schuld der Gazetten», sagte er meinem Gatten, der damals Aussenminister war, als der ihn über den Absturz informierte. Womit er sagen wollte, so etwas sei allein die Schuld der Regierung, die sich aus Angst vor der populistischen Presse keine neuen Flugzeuge zu kaufen traute. Entsprechend waren die ersten Ermittlungsergebnisse ganz und gar nicht nach seinem Geschmack: Mit der Maschine war alles in Ordnung.

Durchaus möglich, dass Jarosław Kaczyński, wie so viele andere auch, die mittels Verschwörungstheorien Sinn in sinnlose Tragödien zu bringen versuchen, einfach nicht akzeptieren konnte, dass sein geliebter Bruder so einfach ums Leben gekommen war; womöglich hatte er auch Probleme mit dem heiklen Fakt, dass Lech und sein Team die Piloten zur Landung genötigt hatten und dass das letztlich die Ursache des Unglücks gewesen war. Vielleicht hatte er aber auch – wie Donald Trump – verstanden, dass eine Verschwörungstheorie ihm zur Macht verhelfen könnte.

Ähnlich wie Trump die «Birther»-Theorie und das Märchen von der Bedrohung durch kriminelle Migranten zur Motivation seiner Anhänger einsetzte, benutzte Jarosław Kaczyński die Tragödie von Smolensk zur Mobilisierung der seinen, die sich von ihm einreden liessen, dass der Regierung so wenig zu trauen sei wie den Medien. Hin und wieder liess er auch durchblicken, die Russen hätten die Maschine zum Absturz gebracht. Dann wieder gab er die Schuld am Tod seines Bruders der ehemaligen Regierungspartei, die mittlerweile die grösste Oppositionspartei war: «Ihr habt ihn vernichtet», tobte er einmal im Parlament, «ihr habt ihn ermordet, ihr seid der letzte Dreck!»

Hat seinen Bruder zum Märtyrer stilisiert: Jarosław Kaczyński. JP Black/LightRocket/Getty Images

Das Hirngespinst wird Polit-Programm

Natürlich sind seine Anschuldigungen nicht zu beweisen. Womöglich um sich etwas von den Lügen, die erzählt werden mussten, zu distanzieren, übertrug er die Verbreitung der Verschwörungstheorie einem seiner ältesten – und merkwürdigsten – Weggefährten. Antoni Macierewicz gehört zu Kaczyńskis Generation und ist ein alter Antikommunist, wenn auch einer mit merkwürdigen Freunden und noch merkwürdigeren Angewohnheiten. Sein seltsam starrer Blick und seine Obsessionen – nach eigener Aussage hält er «Die Protokolle der Weisen von Zion» für ein glaubwürdiges Dokument – veranlassten selbst die PiS 2015 zu dem Wahlversprechen, Macierewicz auf keinen Fall zum Verteidigungsminister zu machen.

Aber kaum hatte die Partei gewonnen, brach Jarosław Kaczyński sein Versprechen und ernannte Macierewicz denn doch. Und der machte sich auf der Stelle an die Institutionalisierung der Smolensk-Lüge. Er ernannte eine neue, mit allerhand schrägen Vögeln besetzte Ermittlungskommission, darunter einem Ethnomusikologen, einem pensionierter Piloten, einem Psychologen, einem russischen Volkswirtschaftler und andere, die völlig unbeleckt von der Materie waren. Der erste offizielle Bericht verschwand von der Website der zuständigen Behörde. Die Polizei tauchte bei den Sachverständigen auf, die im Verlauf der ursprünglichen Ermittlungen ausgesagt hatten, verhörte sie, konfiszierte ihre Computer. Als Macierewicz zum Besuch seiner amerikanischen Kollegen im Pentagon nach Washington reiste, erkundigte er sich als Erster, ob der amerikanische Nachrichtendienst geheime Informationen über Smolensk habe. Wie ich erfuhr, löste seine Frage dort einige Sorge um den Geisteszustand des Verteidigungsministers aus.

Als einige Wochen nach der Wahl europäische Behörden und Menschenrechtsgruppen auf das Treiben der polnischen Regierung zu reagieren begannen, konzentrierten sie sich auf die Unterminierung der Justiz und der Medien. Die Institutionalisierung der Verschwörungstheorie um Smolensk, die sich offen gesagt für Aussenstehende auch viel zu verrückt ausnimmt, liess man ausser Acht. Was nichts daran ändert, dass die Entscheidung, ein Hirngespinst zum Kern der offiziellen Politik zu machen, hinter den darauf folgenden autoritären Aktionen stand.

Die Macht der Glaubensfrage

Auch wenn die Macierewicz-Kommission nie eine glaubwürdige alternative Erklärung für den Absturz hervorgebracht hat, die Smolensk-Lüge legte das moralische Fundament für weitere Lügen. Wer eine derart an den Haaren herbeigezogene Theorie akzeptieren konnte, und das ohne den geringsten Beweis, der konnte alles akzeptieren – so etwa auch den Bruch des Versprechens, Macierewicz keinen Posten in der Regierung zu geben. Zu schweigen davon, dass Macierewicz – obwohl Recht und Gerechtigkeit sich als «patriotische» und antirussische Partei geriert – reihenweise hochrangige Militärs schasste, Waffenkontrakte aufkündigte, Leute mit merkwürdigen russischen Kontakten beförderte und mitten in der Nacht eine Nato-Einrichtung in Warschau stürmen liess. Ausserdem lieferte die Lüge dem Fussvolk des rechten Flügels die ideologische Basis dafür, andere Verstösse zu tolerieren. Welche Fehler auch immer die Partei machte, welche Gesetze auch immer sie brach, wenigstens käme endlich die Wahrheit über Smolensk an den Tag.

Urheber der Smolensk-Verschwörungstheorie: Der damalige polnische Verteidigungsminister Antoni Macierewicz (Bild von 2017). Alik Keplicz/AP Photo/Keystone

Die Verschwörungstheorie um den Absturz von Smolensk diente, wie die Migrationstheorie der Ungarn, auch noch einem anderen Zweck: Sie bot einer jüngeren Generation ohne Erinnerung an die kommunistische Vergangenheit und einer Gesellschaft mit gerade mal einem Restbestand ehemaliger Kommunisten in der Politik einen neuen Grund, den aus den Kämpfen der 90er-Jahre hervorgegangenen Politikern, Geschäftsleuten und Intellektuellen zu misstrauen, die jetzt das Land regierten. Wichtiger noch bot sie eine Möglichkeit zur Definition einer neuen und besseren Elite. Was brauchte es Wettbewerb, Examen oder vor Leistungen strotzende Lebensläufe? Jeder, der seinen Glauben an die Smolensk-Lüge kundtut, ist per definitionem ein wahrer Patriot – warum sollte so einer nicht auch für einen Posten in der Regierung taugen?

Der emotionale Appeal einer Verschwörungstheorie liegt in ihrer Einfachheit. Sie liefert eine plausible Erklärung für komplexe Phänomene wie für zufällige Unglücksfälle und bietet dem Gläubigen die Befriedigung eines speziellen, privilegierten Zugangs zur Wahrheit. Nur ist es, um es noch einmal zu sagen, gar nicht so einfach, den Appeal einer Verschwörungstheorie von ihren Folgen für die Karrieren derer zu trennen, die sie verbreiten. Den Hütern des Einparteienstaats, denen, die die offiziellen Verschwörungstheorien wiederholen und für ihre Verbreitung sorgen, bringt die Akzeptanz dieser simplen Erklärungen noch etwas anderes ein, nämlich Macht.

Der Blick nach Ungarn

Mária Schmidt war zwar nicht auf meiner Silvesterparty, aber ich kenne sie schon geraume Zeit. Sie lud mich 2002 zur Eröffnung des Terror Háza – des Haus des Schreckens – in Budapest ein, und ich war seither mit ihr in lockerer Verbindung geblieben. Das Museum, dessen Direktorin sie ist, kümmert sich um die Geschichte des Totalitarismus in Ungarn und war bei seiner Eröffnung eines der innovativsten neuen Museen in der östlichen Hälfte Europas.

Das Terror Háza wurde jedoch auch vom ersten Tag an scharf kritisiert. So einige Besucher stiessen sich am ersten Ausstellungsraum, in dem an der einen Wand auf einer Reihe von Bildschirmen Nazipropaganda gesendet wurde, während an der Wand gegenüber auf einer Reihe von Bildschirmen kommunistische Propaganda lief. 2002 war es noch immer schockierend, dass man die beiden Regime miteinander vergleichen sollte; vielleicht versteht man das heute nicht mehr. Andere hatten den Eindruck, das Museum beschäftige sich nicht genügend mit den Verbrechen des Faschismus, aber die Kommunisten waren nun mal in Ungarn länger an der Macht als die Faschisten, weshalb es auch mehr zu zeigen gibt. Mir persönlich gefiel, dass das Museum zeigte, wie sich der Mann auf der Strasse mit beiden Regimen arrangierte, weil das meiner Ansicht nach den Ungarn dabei helfen konnte, Verantwortung für die eigene Politik zu übernehmen, anstatt in die nationalistische Falle zu tappen, für alle Probleme Aussenstehende verantwortlich zu machen.

Und dennoch ist Ungarn in ebendiese nationalistische Falle getappt. Die verspätete Abrechnung des Landes mit seiner kommunistischen Vergangenheit – in Form von Museen, Gedenkfeiern und der Nennung von Tätern – half keineswegs dabei, wie ich gedacht hatte, den Respekt für die Herrschaft des Rechts, für den Pluralismus zu festigen, für eine Einschränkung der Macht des Staats. Eher im Gegenteil: Sechzehn Jahre nach der Eröffnung des Museums denkt Ungarns herrschende Partei nicht daran, sich irgendwelche Beschränkungen aufzuerlegen.

Die Fidesz ist noch viel weiter gegangen als die polnische Recht und Gerechtigkeit sowohl bei der Politisierung der öffentlich-rechtlichen als auch bei der Demontage der privaten Medien – Letzteres durch Drohungen und Abdrehen des Werbehahns. Sie hat eine neue unternehmerische Elite geschaffen, die Orbán treu ergeben ist. Ein ungarischer Geschäftsmann, der hier nur ungern genannt werden möchte, hat mir gesagt, dass kurz nach Orbáns Machtübernahme Kumpane von Linientreuen von ihm verlangt hätten, ihnen sein Unternehmen für weit unter Preis zu verkaufen; als er sich weigerte, arrangierte man «Steuerprüfungen» und andere Schikanen; eine Einschüchterungskampagne führte dazu, dass er Bodyguards einstellen musste. Schliesslich verkaufte er seinen ungarischen Besitz und ging ins Ausland.

Der Hass-Blog der Museumsdirektorin

Wie der polnische bedient sich auch der ungarische Staat der mittelgrossen Lüge. Er pumpt Propaganda unters Volk, laut der nichtexistierende muslimische Migranten für Ungarns Probleme verantwortlich seien, die Europäische Union und, wie bereits gesagt, George Soros. Mária Schmidt – Historikerin, Wissenschaftlerin und Museumskuratorin – ist eine der wesentlichen Urheberinnen dieser Lüge. Regelmässig veröffentlicht sie auf ihrem Blog lange, zornige Posts, in denen sie gegen Soros vom Leder zieht, gegen Budapests mit Mitteln des Milliardärs ins Leben gerufene Mitteleuropäische Universität und gegen «linke Intellektuelle», worunter sie vor allem liberale Demokraten von Mitte-Links bis Mitte-Rechts zu verstehen scheint.

Márias Lebensgeschichte ist voller Ironien und Paradoxa. Schmidt ist wesentliche Nutzniesserin von Ungarns angeblich aus dem Ruder gelaufenem Übergang; ihr verstorbener Gatte hat auf dem postkommunistischen Immobilienmarkt ein Vermögen gemacht, dank dem sie in einem spektakulären Haus in den Budaer Hügeln lebt. Obwohl sie eine PR-Kampagne gegen Soros’ Mitteleuropäische Universität führt, hat ihr Sohn dort studiert. Und obwohl sie sehr wohl weiss, was in den 1940er-Jahren in ihrem Land passiert ist, folgte sie buchstabentreu dem Regelbuch der KP, als sie 2016 das respektierte ungarische Magazin «Figyelő», aufkaufte: Sie warf die unabhängigen Reporter hinaus und ersetzte sie durch verlässliche regierungstreue Autoren.

«Figyelő» ist nach wie vor in «Privatbesitz»; es ist jedoch unschwer zu sehen, wer das wöchentlich erscheinende Magazin trägt. Eine Ausgabe ritt eine scharfe Attacke gegen ungarische NGOs – das Cover verglich sie mit der Terrororganisation Islamischer Staat; die Regierung hatte in der Ausgabe ein Dutzend Seiten Werbung geschaltet: für die Nationalbank, das Schatzamt, die staatliche Anti-Soros-Kampagne. Es handelt sich hier um eine moderne Ausprägung der regierungsnahen Presse des Einparteienstaats – mitsamt dem höhnisch-zynischen Ton, der einst kommunistische Publikationen kennzeichnete.

Ein unmögliches Gespräch

Nachdem sie mich «arrogant und ahnungslos» genannt hatte, erklärte sich Schmidt zu einem Gespräch mit mir bereit – unter der Voraussetzung, dass ich mir ihre Einwände gegen einen Artikel anhörte, den ich gerade für die «Washington Post» geschrieben hatte. Mit dieser Einladung flog ich nach Budapest. Wie zu erwarten, erwies sich das erhoffte interessante Gespräch als unmöglich. Schmidt spricht ausgezeichnet Englisch, bestand aber auf einem Dolmetscher. Sie hatte einen ganz offensichtlich herzlich verängstigten jungen Mann aufgetrieben, der, den Transkripten nach zu urteilen, ganze Brocken ihrer Aussagen unter den Tisch fallen liess. Und obwohl wir uns fast seit zwanzig Jahren kannten, stellte sie ein Tonbandgerät zwischen uns, woraus ich den Schluss zog: Sie traute mir nicht über den Weg.

Dann wiederholte sie haarklein die Argumente, die bereits auf ihrem Blog zu lesen waren. Als ihren grossen Beweis dafür, dass George Soros die amerikanischen Demokraten «gehören», zitierte sie eine Episode von «Saturday Night Live». Als Beweis dafür, dass die USA eine «knallharte ideologisch motivierte Kolonialmacht» seien, zitierte sie eine Rede Barack Obamas, in der er das Vorhaben einer ungarischen Stiftung anspricht, eine Statue zu Ehren von Bálint Hóman zu errichten – dem Mann, der in den 1930er- und 40er-Jahren für Ungarns antisemitische Gesetzgebung mitverantwortlich war. Sie bestand auf ihrer Behauptung, die Einwanderung stelle eine schreckliche Bedrohung für Ungarn dar, und reagierte irritiert, als ich sie mehrere Male fragte, wo denn all diese Einwanderer seien. «Die sind in Deutschland», fauchte sie schliesslich und behauptete, die Deutschen würden Ungarn letztlich zwingen, «diese Leute wieder zurückzunehmen.»

Schmidt ist die Verkörperung dessen, was der bulgarische Schriftsteller Ivan Krastev kürzlich als das Verlangen vieler Ost- und Mitteleuropäer bezeichnete, «die koloniale Abhängigkeit abzuschütteln, die das Projekt der Verwestlichung an sich impliziert»; das Verlangen, die Demütigung zu vergessen, lediglich Nachahmer, Mitläufer des Westens anstatt Gründer zu sein. Schmidt sagte mir, die westlichen Medien, mich vermutlich mit inbegriffen, «sprechen von oben auf die unten herab wie seinerzeit bei den Kolonien». Das Gerede im Westen von einem ungarischen Antisemitismus, von Korruption und Autoritarismus sei nichts anderes als «Kolonialismus». Aber so engagiert sie sich für die Einzigartigkeit Ungarns und die «ungarische Art» starkmacht, ein Gutteil ihrer Ideologie ist in Bausch und Bogen von «Breitbart News» abonniert – bis hin zur Karikatur amerikanischer Universitäten und den spöttischen Witzen über «transsexuelle Toiletten». Sie hat sogar Steve Bannon und Milo Yiannopoulos nach Budapest eingeladen.

Die Lügen leisten gute Dienste

Als ich ihr so zuhörte, kam ich zu der Überzeugung, dass es den einen Augenblick, in dem Schmidts Ansichten sich «geändert» hätten, nie gegeben hat. Sie hat der freiheitlichen Demokratie nie den Rücken gekehrt, weil sie nie daran geglaubt hat – oder jedenfalls hat sie sie nie für wichtig gehalten. Für sie ist das Gegenmittel gegen den Kommunismus nicht Demokratie, sondern eine Vision von nationaler Souveränität, die an die der Anti-Dreyfusarden gemahnt. Und wenn nationale Souveränität die Form eines Staates annimmt, dessen Elite sich nicht nach ihrem Talent definiert, sondern nach ihrem «Patriotismus», sprich, der Bereitschaft, sich Orbán unterzuordnen, dann nimmt sie das eben in Kauf.

Antisemitische Hetzkampagne gegen George Soros in Budapest: Der Philanthrop und Investor ist der Regierung Orbán ein Dorn im Auge. Pablo Gorondi/AP Photo/Keystone

Ihr Zynismus ist nicht zu überbieten: Soros Unterstützung syrischer Flüchtlinge kann unmöglich etwas mit Philanthropie zu tun haben; dahinter kann einzig das tiefe Sehnen nach der Zerstörung Ungarns stehen. Auch Angela Merkels Flüchtlingspolitik kann unmöglich humanitäre Gründe haben. «Ich halte das schlicht für Blödsinn», meinte Schmidt. «Ich würde sagen, Merkel will damit nur beweisen, dass die Deutschen diesmal die Guten sind. Und damit sie alle anderen über Humanismus und Moral belehren können. Für die Deutschen spielt es doch keine Rolle, worüber sie den Rest der Welt schulmeistern; sie müssen einfach jemanden schulmeistern.»

Es ist offensichtlich, dass die mittelgrosse Lüge nicht nur Donald Trump, sondern auch Orbán beste Dienste leistet, und sei es auch nur weil sie die Aufmerksamkeit der Welt weg von dem, was er macht, auf seine Rhetorik lenkt. Schmidt und ich verbrachten den grössten Teil der zwei Stunden unserer unangenehmen Unterhaltung damit, über völlig unsinnige Fragen zu streiten: Gehören Amerikas Demokraten George Soros? Sind nichtexistente Migranten, die noch nicht einmal in Ungarn leben wollen, eine Bedrohung für die Nation? Den Einfluss Russlands auf Ungarn, der mittlerweile enorm ist, sprachen wir erst gar nicht an. Ebenso wenig sprachen wir über die Korruption oder die zahllosen (von der «Financial Times» und anderen dokumentierten) Fälle, in denen Orbáns Freunde von europäischen Subventionen und legislativen Taschenspielertricks profitiert haben. (Hat eine herrschende Partei erst einmal die Gerichte politisiert und die Medien mundtot gemacht, tut sie sich leichter mit dem Stehlen.)

Der gute Draht zum Premier

Ebenso wenig erfuhr ich letztlich über Schmidt selbst. Anderen Budapestern zufolge motiviert sie letztlich nur ihr Verlangen nach Reichtum und Macht. Die Abgeordnete Zsuzsanna Szelényi, früher Mitglied von Orbáns Partei Fidesz, heute als Unabhängige im Parlament, war nur eine von mehreren, die mir sagten, dass man heute «in Ungarn unmöglich reich» sein könne «ohne den einen oder anderen Draht zum Premier». Schmidt sei nur dank Orbán Direktorin des Museums und einiger anderer historischer Institute, was ihr eine einzigartige Möglichkeit an die Hand gibt, Einfluss auf die Erinnerung der Ungarn an ihre Geschichte zu nehmen. Und sie geniesse das. Vielleicht glaubt sie wirklich, dass Ungarn sich einer schrecklichen existenziellen Bedrohung in der Gestalt von George Soros und irgendwelchen unsichtbaren Syrern ausgesetzt sieht. Oder sie sieht ihre eigene Seite nicht weniger zynisch als ihre Gegner, und das Ganze ist für sie nur ein aufwendiges Spiel.

Was nach meinem Interview passierte, mag als Hinweis darauf dienen: Ohne meine Genehmigung präsentierte Schmidt auf ihrem Blog ein ausgiebig redigiertes Transkript des Gesprächs – etwas verwirrend – als ihr Interview mit mir. Das Transkript erschien ausserdem auf der offiziellen Website der ungarischen Regierung auf Englisch. (Stellen Sie sich vor, das Weisse Haus veröffentlicht das Transkript eines Gesprächs zwischen, sagen wir mal, dem Chef der Smithsonian Institution und einem ausländischen Trump-Kritiker, vielleicht verstehen Sie dann, wie merkwürdig das ist.) Aber selbstverständlich hatte sie das Interview nicht mir zuliebe geführt; es war eine Vorstellung, eine Performance, die den Ungarn Schmidts Loyalität gegenüber dem Regime unter Beweis stellen sollte und dass sie willens war, dafür einzutreten. Woran überhaupt kein Zweifel besteht.

Der Grieche lacht nur

Es ist noch gar nicht so lange her, da schilderte ich eines schönen Abends in einem Fischrestaurant an einem weniger schönen Platz in Athen besagte Silvesterparty einem griechischen Politikwissenschaftler. Er lachte mich leise aus – oder besser, er lachte zusammen mit mir darüber, er wollte nicht unhöflich sein. Aber was ich da als Polarisierung bezeichnete, war für ihn nichts Neues. «Dieser Augenblick Liberalität nach 1989, das war die Ausnahme», klärte mich Stathis Kalyvas auf. Polarisierung sei normal. Wichtiger noch, so würde ich dem hinzufügen: Auch die Skepsis gegenüber der freiheitlichen Demokratie ist normal. Und der Appeal des Autoritarismus ist ewig.

Kalyvas ist, unter anderem, Autor einiger bekannter Bücher über Bürgerkriege, auch über den griechischen der 1940er-Jahre, einen der vielen Augenblicke in der Geschichte Europas, in denen radikal entgegengesetzte Gruppen zu den Waffen griffen und einander umzubringen begannen. Aber Krieg und Frieden zwischen der griechischen Bürgerschaft sind von jeher relativ. So hatten zur Zeit unseres Gesprächs einige griechische Intellektuelle gerade einen zentristischen Augenblick. «Liberal» war plötzlich fashionable, wie mir eine ganze Reihe von Athenern sagte, und sie meinten damit weder kommunistisch noch autoritär, weder am linken Flügel wie die Syriza, die Regierungspartei, noch am rechten wie ihr nationalistischer Koalitionspartner, die Unabhängigen Griechen. Hippe junge Leute bezeichneten sich als «neoliberal» und bedienten sich damit eines Begriffs, der noch einige Jahre zuvor als Fluch gegolten hätte.

Eine Mahnung an Amerika

Aber selbst die optimistischsten Zentristen waren keineswegs überzeugt, dass dieser Wandel von Dauer sein würde. «Wir haben die Linkspopulisten überlebt», sagten mir mehrere Leute düster, «und jetzt wappnen wir uns gegen die Populisten von rechts.» Schon lange tobt ein böser Streit um Name und Status von Mazedonien, der ehemals jugoslawischen Republik an Griechenlands Nordgrenze; kurz nach meiner Abreise wies die griechische Regierung einige russische Diplomaten aus – sie hatten im Norden eine antimazedonische Hysterie zu schüren versucht. Was immer eine Nation an Gleichgewicht erreicht, es gibt stets jemanden, zu Hause oder im Ausland, der einen Grund hat, es zu stören.

Was uns eine Mahnung sein sollte. Wir Amerikaner mit unserer wirkungsvollen Gründungsgeschichte, unserer ungewöhnlichen Verehrung für unsere Verfassung, unserer relativen geografischen Abgeschiedenheit und zwei Jahrhunderten wirtschaftlichen Erfolgs sind seit langem schon überzeugt, dass eine freiheitliche Demokratie, ist sie erst einmal erreicht, nicht mehr zu ändern ist. Die amerikanische Geschichte präsentiert sich als eine des Fortschritts, in der es unablässig vorwärts- und aufwärtsgeht, mit einem Bürgerkrieg als kurzem Schluckauf, einem Hindernis, das man überwunden hat. Die griechische Geschichte hat nichts Lineares; sie scheint sich eher im Kreis zu drehen. Mal hat man eine freiheitliche Demokratie, dann eine Oligarchie, dann wieder eine freiheitliche Demokratie. Dann kommen die Ausländer, dann ein kommunistischer Putschversuch und schliesslich die Militärdiktatur. Und so geht das nun seit der athenischen Republik.

Auch in anderen Teilen Europas hat man das Gefühl, die Geschichte drehe sich im Kreis. Die Kluft, die Polen zerrissen hat, ähnelt auffallend der, die Frankreich im Gefolge der Dreyfus-Affäre gespalten hat. Die Sprache der radikalen europäischen Rechten – der Ruf nach einer «Revolution» gegen «Eliten», der Traum von der «reinigenden» Gewalt und einem apokalyptischen Aufeinanderprall der Kulturen –, sie ähnelt auf frappierende Weise der der radikalen europäischen Linken. Unzufriedene, verdrossene Intellektuelle, Leute, die das Gefühl haben, die Regeln seien nicht fair und dass die falschen Leute am Drücker seien, das ist nicht allein ein europäisches Phänomen. Einige Monate nach der Machtübernahme von Recht und Gerechtigkeit kam der venezolanische Schriftsteller Moisés Naím zu Besuch nach Warschau. Er bat mich um eine Beschreibung der neuen polnischen Führung. Wie die denn so seien, menschlich, meinte er. Zornig, sagte ich ihm, rachsüchtig, voller Groll. «Die hören sich genauso an wie die Chavistas», meinte er.

Personenkult: Anhänger von Jarosław Kaczyński an einer Wahlkampagne im Juni 2010. Kacper Pempel/Reuters

Die Grenzen der Meritokratie

In Wahrheit ist der Streit darüber, wer herrschen darf, nie vorbei, schon gar nicht in einer Epoche, die die Aristokratie verworfen hat und nicht länger glaubt, dass Führerschaft mit der Geburt auf einen übergeht oder dass Gott hinter der herrschenden Klasse steht. Einige von uns in Europa und Nordamerika haben sich in der Idee eingelebt, unterschiedliche Formen von demokratischem und wirtschaftlichem Wettbewerb seien die fairste Alternative zu vererbter oder ordinierter Macht.

Aber es hätte uns nicht weiter zu überraschen brauchen – es hätte mich nicht weiter zu überraschen brauchen –, als man die Prinzipien von Meritokratie und Wettbewerb infrage gestellt sah. Demokratie und freie Märkte können eben doch zu unbefriedigenden Ergebnissen führen, vor allem wenn sie schlecht reguliert werden oder keiner den Regulierern traut oder Leute von verschiedenen Startlöchern aus in den Wettbewerb gehen. Früher oder später, das war immer klar, würden die Verlierer des Wettbewerbs den Wert des Wettbewerbs selbst infrage stellen.

Vor allem aber beantworten die Prinzipien des Wettbewerbs, selbst wenn sie Talent und sozialen Aufstieg fördern, nicht notwendigerweise tiefere Fragen um nationale Identität – noch befriedigen sie das menschliche Verlangen, einer moralischen Gemeinschaft anzugehören. Der autoritäre, ja selbst der semiautoritäre, der illiberale Einparteienstaat bietet dieses Versprechen: dass die Nation von den Besten regiert wird, denen, die das verdient haben, den Parteimitgliedern, den Gläubigen der mittelgrossen Lüge. Mag sein, dass die Demokratie gebeugt, die Geschäftswelt korrumpiert oder die Justiz zerschlagen werden muss, um diesen Staat zu erreichen. Aber wenn Sie glauben, dass Sie einer von denen sind, die das verdient haben, dann werden Sie das auch tun.

Dieser Artikel «A Warning From Europe: The Worst Is Yet to Come» wurde im Oktober 2018 im Magazin «The Atlantic» publiziert. Er ist Teil einer Serie rund um die Frage: Liegt die Demokratie in den letzten Zügen? Ab dem 21. Oktober finden in Polen Kommunalwahlen statt.

Zur Autorin

Anne Applebaum ist mehrfach ausgezeichnete amerikanische Journalistin und Historikerin. Sie ist mit dem einstigen polnischen Aussenminister Radosław Sikorski verheiratet und lebt seit 2006 in Polen.

Hinweis: In einer früheren Fassung schrieben wir, Anne Applebaum habe polnisch-jüdische Wurzeln. Richtig ist: Sie ist jüdische Amerikanerin und besitzt zudem auch die polnische Staatsangehörigkeit. Wir haben dies korrigiert.