Vor Washingtons Toren stehen die Frauen

Am 6. November sind in den USA Zwischenwahlen. Etliche der Kandidatinnen für den Kongress und den Senat sind vor allem eines: das pure Gegenteil des Präsidenten. 2019 könnte ein Jahr der Revolution werden. Für die Frauen.

Von Michael Rüegg, 19.10.2018

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Eins – Alexandria stösst den König vom Thron

Die Bronx ist der eine der fünf Stadtteile, der Boroughs von New York, den meist nur kennt, wer hier wohnt. Die einzigen points of interest sind der Zoo und das Stadion der New York Yankees. Die Einkommen sind niedrig, die Mieten bis jetzt auch. Der südliche Teil des Boroughs galt stets als Hotspot für Gangs, Drogen und Gewaltverbrechen.

New York City. Jahrzehntelang das Ziel für Hunderttausende Immigranten. Von hier aus wurde dieses Land bevölkert. Eine Geld- und Entertainment-Maschine. Von hier aus senden heutzutage die Trump verherrlichenden Fox News. Hier sitzt die «New York Times», die seine Präsidentschaft Stück für Stück auseinandernimmt. New York – sowohl die amerikanischste als auch die unamerikanischste aller US-Städte.

Nicht zu bremsen: Alexandria Ocasio in ihrem Kampf gegen die Einwanderungsbehörde und für die Krankenversicherung. Jessica Rinaldi/The Boston Globe/Getty Images

Auf dem Weg in den Osten der Bronx taucht die U-Bahn aus dem Untergrund. Wann immer sie aus dem Dunkel ins Licht tritt, ist das ein Zeichen: dafür, dass man teure Pflaster verlassen hat. Überirdische Streckenführung ist weitaus günstiger. Die astronomisch teuren Penthouses liegen weit weg, verborgen im Dunst über Manhattan.

Auf den Strassen schlurfen Schwarze, Muslime, Latinas. Menschen, die Billigjobs oder gar keine haben. Hier in der östlichen Bronx liegt ein Teil des 14. Wahlbezirks des Staates New York. Und eine 29-Jährige mit puerto-ricanischen Wurzeln ist dabei, ihn zu erobern.

Die Speisekarte im «Lorraine’s» ist wie alles hier zweisprachig, Englisch und Spanisch. Und obwohl die Wirtin des Lokals mit lauter Stimme die wuselnde Menge darauf hinweist, dass man auch etwas bestellen könne, sind die Leute nicht deswegen hier. Sondern ihretwegen: Alexandria Ocasio-Cortez. Sie ist etwa halb so gross, wie sie auf den Plakaten wirkt. Eine zierliche Frau, die ihr politisches Handwerk bei Bernie Sanders gelernt hat – dem einstigen Linkskandidaten, Senator aus Vermont, der 2016 demokratischer Präsident werden wollte, aber in der Endrunde parteiintern Hillary Clinton unterlag.

Vor einem Jahr jobbte Alexandria Ocasio noch selber in einem Laden wie «Lorraine’s». Jetzt ist sie ein Politstar, steht auf einem Stuhl und richtet das Wort an ihre Anhängerinnen. Die sind von überall her angereist. Aus Manhattan und Brooklyn. Einer sagt, er sei aus London. Eine junge Frau ist soeben von Mexiko nach New York gezogen. Nur aus der Nachbarschaft selber scheinen nicht viele gekommen zu sein. Selbst die Journalistinnen sind von anderswo. Eine Dame stellt sich als Korrespondentin der Deutschen Welle vor.

Aber es ist die Nachbarschaft, die Ocasio im Auge hat. Die sie zusammen mit einem Heer an Helferinnen in violetten T-Shirts erreichen will. In die Mietskasernen gehen, die Menschen ermutigen, sich als Wähler zu registrieren. «Als wir an die Türen klopften», ruft Ocasio in den Saal, «hatten die Leute dahinter Angst, dass wir von der ICE sind.» ICE, das ist die bei vielen Städterinnen und Linken verhasste Einwanderungsbehörde, die Sans-Papiers jagt und ausschafft, als wären sie streunende Tiere. «Die ICE gehört abgeschafft!», ruft Alexandria Ocasio. Und die Menge tobt.

Weg mit der ICE. Und her mit Healthcare – einer Krankenversicherung für alle, wie in Europa. Das ist ein Anliegen, das alle Demokraten teilen. Dazu kommt der Ruf nach Gerechtigkeit, sauberer Energie, kostenlosen Unis – mit ihren populären Forderungen hat Ocasio den bisherigen demokratischen Kongressabgeordneten vom Thron gestossen. Den «König der Bronx» nannte man ihn.

Seither ist diese Frau nicht zu bremsen.

Zwei – Pinkfarbene Hüte fluten die Strassen

Am 21. Januar 2017 sah man in Washingtons Prachtalleen ein Meer von pinkfarbenen Hüten mit Katzenohren. Tags davor war Donald Trump auf der Treppe vor dem Washingtoner Kapitol als 45. Präsident der Vereinigten Staaten vereidigt worden. Die Massen waren dem Ereignis jedoch ferngeblieben.

Nicht die Unterstützer des Präsidenten, sondern seine Gegnerinnen sorgten für einen Menschenauflauf. Als die Frauen auf die Strasse gingen, herrschte ein heilloses Gedränge auf den Plätzen und Strassen der Hauptstadt. Die Menschen versammelten sich zum Protest. Er wurde einer der grössten in der Geschichte des Landes. Women’s March, eine Demonstration der Frauen. Ihre Hüte – meist selbst gestrickte – wurden zum Symbol: Die Pussyhat-Bewegung war geboren.

Pussyhat ist ein Protest gegen Donald Trump und seinen Umgang mit Frauen. Im Wahlkampf waren Tonbänder aufgetaucht, in denen der spätere Präsident Frauen auf deren Geschlechtsteile reduziert als pussies bezeichnet hatte.

Der Hut ist die Erfindung der jungen Drehbuchautorin Krista Suh. Sie beabsichtigte, am Women’s March teilzunehmen. Und weil Washington D.C. im Januar kalt ist, brauchte die Kalifornierin eine passende Kopfbedeckung. Aus einer Laune heraus strickte sie eine pinkfarbene Mütze und fand: Wenn ich das kann, kann das jede. Daraus wurde ihr zufolge ein Symbol, mit dem Frauen die Deutungshoheit über das Wort pussy zurückerobern wollen.

Bald zwei Jahre sind nach Trumps Amtsübernahme vergangen. Und der Graben, der sich durchs Land zieht, ist keinen Millimeter kleiner als am Wahltag im November 2016. Hier die Trump-Supporter: Rechte, Evangelikale, Kriegsgurgeln, ultrakonservative Milliardäre. Dort die Trump-Hasserinnen: Gemässigte, Intellektuelle, Linke, Minderheiten – und vor allem: Frauen.

Ihre Hoffnung ruht auf dem 6. November, dem Tag der Midterm-Elections – der Halbzeit-Wahlen. Und ganz besonders ruht sie auf den Kandidatinnen, die praktisch aus dem Nichts aufgetaucht sind.

Drei – Dr. Klein erklärt die Frau

Als Ethel Klein in jungen Jahren in Cambridge bei Boston ein Haus kaufen wollte, erhielt sie von der Bank keine Hypothek zu den üblichen Konditionen. Sie musste viel mehr Cash auf den Tisch legen als ein Mann in ihrem Alter. Klein war damals, vor bald vierzig Jahren, Professorin an der Harvard University. Doch für die Bank war sie einfach nur eine Frau. Und Frauen bekamen nicht dasselbe wie Männer.

Als Politikwissenschaftlerin untersuchte Ethel Klein jahrelang die amerikanischen Frauen, ihren Stand in der Gesellschaft und ihr Verhältnis zur Politik. 1984 verfasste sie ihr erstes Buch, «Gender Politics». Das Unternehmen für Meinungsforschung, das sie danach gründete, hat sie längst verkauft. Heute bewohnt Ethel Klein eine stattliche Wohnung im West Village von Manhattan. Hier sitzt sie auf der Dachterrasse, barfuss und in Trainerhose. In einer Hand ein Glas Wein, in der anderen ein Schokokeks. Daneben sitzt ihr Mann, ein Wirtschaftsanwalt, der sich aus seiner Kanzlei zurückgezogen und eine neue Leidenschaft entdeckt hat: «Kostenlos arme Leute verteidigen».

«Die Frauenbewegung», sagt Klein, «war lange eine Bewegung der Themen Abtreibung, gleicher Lohn für gleiche Arbeit, häusliche Gewalt.» Feministische Politik folgte issues. Die Frauen zielten nicht auf Ämter ab. Als sich mehr und mehr Frauen doch zur Wahl aufstellen liessen, war den meisten kein Erfolg beschieden. Die männlichen Kongressabgeordneten blieben zwanzig oder mehr Jahre auf ihren Sitzen hocken. Dass Bisherige abgewählt werden, ist selten. Die Welle der neu in den Kongress ziehenden Frauen liess und lässt auf sich warten. Noch immer sind im Kongress vier von fünf Abgeordneten Männer.

Dann kam Occupy. Vor sieben Jahren bevölkerten Aktivisten von Occupy Wall Street die öffentlichen Plätze. Sie protestierten, indem sie campierten. «Aber Occupy», sagt Klein, «hat keine Institutionen geschaffen. Occupy versickerte irgendwann auf den Wiesen, auf denen die Zelte standen.»

Das betrifft vor allem die Frauen. Sie haben erkannt, dass nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft ein Männerverein ist. «Das ist nicht ihre Wirtschaft. Das ist die Wirtschaft der anderen», fasst Klein zusammen. Jetzt stehen Frauen in den Startlöchern, um die Männer von ihren Sesseln zu verjagen.

«In diesem Rennen», sagt Ethel Klein, «geht es nicht so sehr um Rasse oder um Klasse. Es geht ums Alter.» Die Generation der Millennials, der Zwanzig-, Dreissigjährigen, ist sie überzeugt, habe endlich verstanden, den Idealismus in die Realität zu verpflanzen. «Ich habe Hoffnung für diese neue Bewegung», sagt sie. «The energy is grass roots» – die Energie dafür kommt von unten, aus dem Engagement der Leute.

Vier – Nackte Zahlen

435 Sitze hat das Repräsentantenhaus, die Volkskammer des amerikanischen Parlaments. Die Republikanische Partei verfügt derzeit über deren 236, die Demokraten halten 193, 6 Sitze sind vakant. Eine Amtszeit dauert 2 Jahre, sprich: Alle Abgeordneten werden am 6. November neu bestellt. Der US-Senat, die Ständekammer, umfasst 100 Köpfe, zwei pro Gliedstaat. Dort zählen die Republikaner 51 Senatsmitglieder, die Demokraten 47. 2 sind unabhängig, werden aber der Opposition zugerechnet. Am 6. November werden nur deren 34 Sitze neu bestimmt. Ausserdem wählen 36 Staaten und 3 Territorien ihre Gouverneure.

Die Demokraten hoffen, zumindest im Repräsentantenhaus die republikanische Vorherrschaft zu brechen, möglicherweise auch im Senat. Und: Das Demokratische Nationalkomitee hofft auf den Erfolg möglichst vieler Kandidatinnen bei den jeweiligen Gouverneurswahlen.

Der amerikanische Bundesstaat ist in 435 Wahlbezirke unterteilt, deren geografische Grösse variiert, die jedoch typischerweise gleich viele Menschen zählen, rund 700’000.

Die Idee: Jeder Wahlkreis bestimmt im Majorzverfahren den zu ihm passenden Kandidaten. Ein aufgeschlossener, urbaner Wahlkreis hebt eine progressive Demokratin auf den Schild. Ein konservativer, ländlicher wählt einen Republikaner.

Dies zumindest ist die Theorie. In Wirklichkeit haben einige der Gliedstaaten ein regelrechtes politgeografisches Massaker veranstaltet. Indem sie Gerrymandering angewendet haben, eine seit zweihundert Jahren verpönte, aber trotzdem angewandte Praxis. Deren Ziel ist, die Wahlkreisgrenzen so zu ziehen, dass am Ende die eigene Partei viel mehr Kandidaten nach Washington entsendet als die Konkurrenz. Vor allem in republikanisch dominierten Staaten wurde auf diese Weise manipuliert, was das Zeug hält: So wählt die aufgeschlossene Bevölkerung des liberalen Austin in Texas nicht ihren eigenen Repräsentanten. Stattdessen wurde die Stadt wie ein Steak zerschnitten und den vier umliegenden, ländlich geprägten Bezirken zum Frass vorgeworfen.

Doch es tut sich etwas: In Pennsylvania holten die Republikaner vor zwei Jahren zwölf Sitze, die Demokraten bloss sechs. Aufgrund einer Klage musste der Staat die parteiischen Grenzen der Wahlbezirke aufgeben und neutrale ziehen. Bei den kommenden Wahlen dürften allein hier die Demokraten einige Sitze hinzugewinnen, möglicherweise sogar die Mehrheit im Staat.

Fünf – Eine Partei innerhalb der Partei

Ihren Sitz im Repräsentantenhaus hat Alexandria Ocasio auf sicher. Es lohnt sich für die Republikaner nicht, im 14. New Yorker Wahlkreis einen Gegenkandidaten aufzustellen. Sie könnte einfach ihre Füsse hochlegen und auf ihren Badge für den Zutritt ins Kapitol warten. Als jüngste congresswoman der Geschichte.

Doch Ocasio kämpft wie eine Löwin. Denn seit sie ihre Kandidatur für die Vorwahlen bekannt gegeben hat, ist sie die informelle Anführerin einer Partei innerhalb ihrer Partei geworden. Ihre Position als Sprachrohr der Demokratischen Sozialisten nutzte sie, um Vorwahlen im ganzen Land zu beeinflussen. Sie macht nicht für sich Wahlkampf, sondern für ihre Sache – und ihre Verbündeten.

In den vergangenen Monaten reiste Alexandria Ocasio mit ihrer Kampagne durchs Land, unterstützte Kandidatinnen landauf, landab. Trat in Kalifornien und im Mittleren Westen auf: «Dieselben Leute, die damals Trump applaudiert hatten, haben uns zugejubelt!», ruft sie von ihrem Stuhl herab. Hat der enttäuschte Mittlere Westen womöglich von Trump auf Ocasio gewechselt?

In Boston unterstützte Ocasio die schwarze Stadträtin Ayanna Pressley, die sich überraschend gegen den weissen Bisherigen durchsetzte. In Detroit gewann die Muslimin Rashida Tlaib die Nomination, Tochter einer Familie aus Palästina. In Minnesota holte Ilhan Omar die nötigen Stimmen – die als Teenager aus Somalia in die USA kam. Beide werden als erste muslimische Frauen in den Kongress einziehen.

Noch nie waren Frauen im US-Wahlkampf derart präsent: Lauren Underwood ... Teresa Crawford/AP Photo/Keystone
... Rashida Tlaib ... Anthony Lanzilote/NYT/Redux/Laif
... Ilhan Omar ... Mark Vancleave/Star Tribune via AP/Keystone
... Jahana Hayes. Jim Shannon/Republican-American via AP/Keystone

In Connecticut kämpfte sich Jahana Hayes durch und gewann den Platz auf dem Einerticket. Die ehemalige landesweite «Lehrerin des Jahres» war als Kind zeitweise obdachlos. Und in Chicago geschah, was bisher unüblich war: Mit Lauren Underwood holte eine schwarze Frau in einem durch und durch weissen Wahlbezirk die Nomination.

Noch nie haben bei amerikanischen Wahlen so viele Frauen kandidiert. Noch nie konnten so viele Angehörige von Minderheiten mit einem Sitz im Repräsentantenhaus rechnen. Und noch nie waren so viele davon underdogs, aus unterprivilegierten Familien, die sich hochgekämpft und Etablierte oder Sesselkleber ausgebootet haben.

Ayanna Pressley hat sich in Boston gegen einen weissen Konkurrenten durchgesetzt. Mary Schwalm/AP Photo/Keystone

Latinas, Schwarze, Musliminnen – wird am 3. Januar zur Mittagszeit das neue Repräsentantenhaus vereinigt, wird es nicht nur weiblicher sein, sondern auch vielfältiger. Es wird noch immer ein Männerhaus sein. Aber es wird die amerikanische Bevölkerung besser repräsentieren, als es je zuvor ein Parlament getan hat.

Sechs – Die Diktatur der Mehrheit

Das Amt des US-Präsidenten verleiht seinem Inhaber eine grosse Machtfülle. Und solange beide Parlamentskammern in der Hand der regierenden Partei sind, fehlt weitgehend ein demokratisches Korrektiv. Die vergangenen zwei Jahre haben dies den Trump-Gegnern schmerzlich vor Augen geführt. In Fragen wie dem Einreisestopp für Muslime waren Bürgerrechtsgruppen permanent gezwungen, auf die Justiz auszuweichen.

Besonders die sogenannte Hastert-Regel macht es der Opposition praktisch unmöglich, politischen Einfluss zu nehmen. Benannt ist sie nach Dennis Hastert, der von 1997 bis 2007 Sprecher des Repräsentantenhauses war. Es handelt sich dabei nicht etwa um ein Gesetz, sondern lediglich um eine politische Doktrin, an der die Republikaner Gefallen gefunden haben.

Dabei trägt die Regel ausgerechnet den Namen eines verurteilten Kriminellen. Hastert kassierte vor drei Jahren 15 Monate Gefängnis. Er hatte mit heimlichen Geldzahlungen gegen Bankengesetze verstossen. Empfänger der Überweisungen in Millionenhöhe war ein mittlerweile erwachsener Mann, den Hastert einst während seiner Zeit als Ringer-Coach sexuell missbraucht hatte.

Die Hastert-Regel besagt: Ein republikanischer Vorsitzender bringt ein Gesetz nur dann zur Abstimmung, wenn eine Mehrheit in der eigenen Partei dafür ist. Finden also die (oppositionellen) Demokraten einen Weg, genügend (moderate) Republikaner für eine eigene Vorlage zu gewinnen, scheitern sie daran, dass der Speaker die Abstimmung wegen des voraussichtlichen Ja verweigert. Die letzten zwei Amtsjahre von Barack Obama waren stark vom Einfluss dieser Hastert-Regel geprägt. Präsident und Parlament blockierten sich gegenseitig – ein rien ne va plus.

Solange die Republikaner in der Mehrheit sind, werden sie die Hastert-Regel beibehalten und die Demokraten zu Statisten des Politbetriebs degradieren. Einzige Chance: Die Demokraten erobern die Mehrheit zurück. Polit-Beobachter trauen der Partei zu, das Repräsentantenhaus zu erobern. Aber gelingt es ihnen auch im Senat?

Acht – Wer wählt, bestimmt – aber wer wählt?

In der amerikanischen Politik zählen noch mehr als anderswo nicht nur Argumente, Ideen und Taten. Es geht auch nicht nur darum, wie man die richtigen Wählerinnen mobilisiert. Sondern darum, wie man die falschen Leute vom Wählen abhalten kann.

Walter Maddox, pensionierter Tierarzt, zog vor einigen Jahren aus New York City zurück in seine alte Heimat Birmingham, Alabama. In den tiefen Süden des Landes, wo an jeder Ecke eine Kirche steht, die Leute Eistee mit einem halben Pfund Zucker trinken und an den Fast-Food-Lokalen Sticker daran erinnern, dass Waffen im Restaurant verboten sind.

In den Sechzigern, zur Zeit der Rassenunruhen, sass Maddox, damals ein schwarzer Jugendlicher, hier regelmässig im Gefängnis. «Ich war manchmal öfter im Knast als in der Schule», erzählt er. Nun schaut er in seiner Eigentumswohnung Gerichts-Shows, in denen dumme Menschen noch dümmere Menschen verklagen, und trinkt dazu mexikanisches Bier.

Als Walter Maddox für die demokratischen Vorwahlen das Wahllokal gegenüber seinem Wohnhaus aufsuchte, erlebte er eine Überraschung: Das sei nicht sein Wahlbüro, sagte ihm der Verantwortliche. «Aber auf diesem Zettel, den ihr mir geschickt habt, steht diese Adresse», wehrte sich Maddox. «Das hat inzwischen geändert», sagte der Mann. Nun musste Maddox mit dem Auto einige Meilen fahren – vorbei an nicht nur einem, sondern gleich zwei näher gelegenen Wahllokalen.

Will heissen: Den Bewohnern von Birminghams Ortsteil Home Wood wird das Wählen gezielt erschwert. Warum? Weil Maddox’ Nachbarschaft mehrheitlich dem eher liberalen oberen Mittelstand angehört. Die wählen nicht richtig.

Schon immer wusste man im Süden, wie man die Leute vom Wählen abhält. Noch heute existieren zahlreiche Mittel dazu. Wer etwa im Gefängnis sitzt oder einmal für ein Verbrechen verurteilt worden ist, hat sein Wahlrecht verwirkt. Und im Gefängnis sitzen derzeit über zwei Millionen aller Amerikanerinnen und Amerikaner. Sechzig Prozent davon sind Schwarze und Latinos.

«Wir müssen diese Masseneinkerkerung stoppen», fordert Alexandria Ocasio an ihrer Ralley im «Lorraine’s» in New York. Sie benennt das Problem der hohen Zahlen von weggesperrten Minderheitsangehörigen als letztes Vermächtnis der Sklaverei – eine der Fesseln, die das amerikanische Volk in den Augen der demokratischen Sozialistin abstreifen muss.

Dafür kämpft Alexandria Ocasio. Und damit holt sie sich den Applaus ihrer nach Wandel lechzenden Millennials. Anfang Oktober kam der Ritterschlag. Ex-Präsident Barack Obama veröffentlichte eine Liste jener Kandidaten, die er persönlich unterstützt. «Ich fühle mich geehrt», schrieb Alexandria Ocasio, deren Name drauf steht. Dann ging sie wieder mobilisieren.

Je nach Sicht auf die Dinge werden am kommenden 6. November neben Ocasio viele Frauen, vor allem Minderheitenvertreterinnen, in den Kongress gewählt. Oder wenige. Viele sind es im historischen Vergleich. Und wenige, weil die weissen Männer noch immer alles und alle dominieren werden.