Wie Dummheit von Soldaten die Rechte der Verteidigung stärkt
Zwei schlafende Rekruten werden von Kameraden im Bett gefesselt und höchst unflätig behandelt. Der Vorfall führt zu einer endlosen Justizgeschichte – und hat im bisher letzten Akt plötzlich eine positive Auswirkung.
Von Brigitte Hürlimann, 17.10.2018
Ort: Militärkassationsgericht in Zürich
Zeit: 20. September 2018, 11 Uhr
Fall-Nr.: MKG.17.900027
Thema: Angriff, Freiheitsberaubung, Nötigung, Drohung, Nichtbefolgung von Dienstvorschriften, Missbrauch und Verschleuderung von Material, Wachtvergehen, Konsum von Betäubungsmitteln.
Die beiden Vorfälle haben landauf, landab für Aufregung gesorgt. Die Beschreibungen in den Medien waren drastisch, die Schlagzeilen schrill, die Leserkommentare strotzten vor Empörung. Vier Jahre ist es her, als in einer Rekrutenschule in Glarus eine Handvoll Soldaten auf die idiotische Jungmänneridee kam, zwei Kameraden zünftig zu erschrecken. Gedacht, geplant, getan. Im Juli 2014 überfielen die Rekruten innerhalb weniger Tage die zwei ahnungslos im Kasernenbett Schlafenden. Dem ersten Opfer stülpte das Überfallkommando einen Kopfkissenbezug über den Kopf, trug es in ein anderes Bett und fesselte den Mann mit Kabelbindern und Panzertape. Es setzte Schläge in den Bauch des wehrlos daliegenden Soldaten ab, die zu keinen Verletzungen führten, und ein besonders schamloser Kamerad setzte sich mit entblösstem Gemächt auf den Gefesselten. Überflüssig zu erwähnen, dass die groteske Aktion per Handy aufgenommen wurde.
Zwei Nächte später geschah in der gleichen Kaserne, aber in einem anderen Zug, nochmals das Gleiche. Dem zweiten Opfer zündeten die Soldaten mit Weisslicht ins Auge, er bekam später vom Arzt Augentropfen verschrieben. Auch dieser Rekrut war mit Kabelbindern und Klebeband gefesselt worden, es gelang ihm jedoch, sich zu befreien und einen der Angreifer zu packen. Beide Opfer fanden das Ganze gar nicht lustig, was mehr als selbstverständlich ist. Sie informierten die Vorgesetzten. Damit begann ein Verfahren, das bis heute nicht abgeschlossen ist, ganz im Gegenteil. Der jüngste Akt in dieser Affäre führt zurück auf Feld eins und dürfte die militärischen Strafverfahren künftig nachhaltig verändern: Es ist mit einem deutlichen Ausbau der Verteidigerrechte zu rechnen. Das bedeutet nichts anderes als Waffengleichheit und Fairness im Verfahren, was nicht zuletzt von der Europäischen Menschenrechtskonvention gefordert wird und was eigentlich alle wollen, sogar der Oberauditor der schweizerischen Militärjustiz, Brigadier Stefan Flachsmann. Doch der Reihe nach.
Der besagte jüngste Akt geschieht Ende September im Gebäude des Zürcher Obergerichts. Dort tagt in Fünferbesetzung die höchste Gerichtsinstanz der hiesigen Militärjustiz, das Militärkassationsgericht. Die uniformierten und zum Teil reich dekorierten Mannen beraten stundenlang hinter verschlossener Türe. Ein gutes Zeichen, mutmassen hoffnungsvoll die Verteidigerin und die zwei Verteidiger (alles Zivilisten), die draussen im Gang warten; ohne ihre Klienten, dafür mit Auditor Major Thomas Audétat, der in dieser Sache die Anklage vertritt. Mit einer Viertelstunde Verspätung werden die Wartenden in den Gerichtssaal eingelassen, man setzt sich, die Spannung steigt.
Gerichtspräsident Paul Tschümperlin, Oberst im Generalstab und im bürgerlichen Leben Generalsekretär am schweizerischen Bundesgericht, verkündet vier Urteile. Schon nach den ersten Worten entspannen sich die Gesichter auf der Verteidigerbank. Der Gang vor das Kassationsgericht hat sich gelohnt. Alle vier Beschwerden werden gutgeheissen, die vorinstanzlichen Urteile aufgehoben, die Sache wird zurück an die Vorinstanz spediert, die Kosten gehen zulasten der Eidgenossenschaft. Tschümperlin sagt es in seiner kurzen, mündlichen Urteilsbegründung deutsch und deutlich. Der Anspruch auf das rechtliche Gehör wurde verletzt; die Vorinstanz, das Militärappellationsgericht, hat sich nicht hinreichend mit den Argumenten der Verteidigung auseinandergesetzt – und, vor allem: Es liegt ein klarer Fall von notwendiger Verteidigung vor. Sprich: ein «verwickelter Fall», wie es im militärrechtlichen Jargon so hübsch und altmödig heisst.
Die Soldaten hätten von Beginn der Untersuchung an eine Verteidigerin, einen Verteidiger benötigt, nicht erst zum Zeitpunkt der Anklageerhebung. Dann nämlich ist die Arbeit des Untersuchungsrichters abgeschlossen. Er hat seine Einvernahmen gemacht, Zeugen befragt, die weiteren Beweise erhoben und das Dossier dem Auditor übergeben. Bei all diesen Schritten waren die verdächtigten Soldaten auf sich allein gestellt und sahen sich der geballten Macht der Militärjustiz gegenüber, was den Grundsätzen eines fairen Verfahrens widerspricht – und damit einem menschenrechtlichen Gebot.
Der Schaffhauser Rechtsanwalt Christoph Storrer gehört zu den Verteidigern, die für die Urteilseröffnung ans Zürcher Obergericht gereist sind. Er habe von Anfang an eingebracht, die Verteidigung sei viel zu spät einberufen worden, sagt er, und er sei froh, dass nun die oberste Gerichtsinstanz korrigierend und klärend eingegriffen habe: Mit einer Wirkung über den Einzelfall hinaus. Dieses Ergebnis war alles andere als klar; Storrer stufte seine Chancen als fifty-fifty ein. Nicht jeder der verurteilten Soldaten hatte den Schnauf und den Schneid, die Angelegenheit durch drei Gerichtsinstanzen zu boxen. Der erste Prozess fand im November 2016 in Schwyz statt und dauerte fünf Tage lang. Im Militärstrafprozess gilt das Unmittelbarkeitsprinzip, sämtliche Beweise werden vor Gericht nochmals erhoben, die Zeugen, Auskunftspersonen und Experten ein weiteres Mal ausführlich befragt. Sieben Soldaten mussten sich wegen der nächtlichen Überfallaktionen verantworten, und sie wurden alle zu bedingten Geldstrafen und Bussen verurteilt; einzelne allerdings nur in Nebenpunkten, wegen Zufallsfunden: etwa wegen pornografischer Bilder und anderen Mists, den man beim Durchforsten der beschlagnahmten Handys gefunden hatte.
Vier Soldaten zogen ihren Fall bis vor das Militärkassationsgericht. Für sie geht die Sache nun weiter oder, besser gesagt, sie beginnt nochmals von vorne. Rechtsanwalt Christoph Storrer, der früher selbst Präsident an einem Militärgericht war und in dieser Sache erstmals als Verteidiger in einem Militärstrafverfahren auftritt, rechnet damit, dass sämtliche Beweise nochmals erhoben werden müssen, weil die vorliegenden Beweismittel unverwertbar sind und aus den Akten entfernt, ja sogar vernichtet werden sollten. Man hätte die Geschichte von Anfang an gescheiter disziplinarisch geahndet, findet Storrer, anstatt die Militärjustiz zu bemühen.
Das ist jedoch nicht geschehen, im Gegenteil. Akribisch wurde jahrelang untersucht, zahlreiche Zeugen einvernommen, ein technisches Gutachten erstellt. Einer der Soldaten, der als Zeuge vor Gericht aufgeboten wurde, gab sich am erstinstanzlichen Strafprozess überraschenderweise als jener Täter zu erkennen, der mit entblösstem Gemächt auf einem der Gefesselten posiert hatte. Er wurde dann nicht mehr als Zeuge, sondern bloss als Auskunftsperson befragt – aber ein Strafverfahren gegen ihn wurde bis heute nicht eröffnet.
Die anderen sieben Soldaten hingegen sahen sich mit massiven Vorwürfen konfrontiert. Auditor Thomas Audétat forderte unter anderem Schuldsprüche wegen Angriffs, Freiheitsberaubung, Nötigung, Drohung, Nichtbefolgung von Dienstvorschriften, Missbrauchs und Verschleuderung von Material (wegen der Kabelbinder, Materialwert pro Stück ein paar Rappen). Christoph Storrers Klient wird neben alldem auch noch vorgeworfen, er habe – horribile dictu – auf der Wacht einmal Bier getrunken und ein anderes Mal einen Joint geraucht. Diese Wachtvergehen, die nichts mit den nächtlichen Überfällen auf die schlafenden Kameraden zu tun haben, gerieten nur deshalb ins Visier des Untersuchungsrichters, weil sich auf den Handys der beschuldigten Rekruten entsprechende Aufnahmen fanden. Doch der zahlreichen Vorwürfe und der grossen Aufregung zum Trotz kam niemand auf die Idee, dass den jungen Männern zwingend eine Verteidigung hätte organisiert werden müssen.
Eine notwendige Verteidigung gleich zu Beginn der Untersuchung ist in Artikel 109 Absatz 2 der Militärstrafprozessordnung geregelt. Voraussetzung sind schwere Anschuldigungen oder eben ein «verwickelter» Fall. Beides, sagt Rechtsanwalt Storrer, liege hier in eindeutiger, «ja in geradezu exemplarischer Weise» vor. Es gehe um mehrere Delikte, schwere Vorwürfe, um mehrere Beteiligte und unklare Vorgänge. Die Abklärung des Sachverhalts, so Storrer, habe mehrere Jahre gedauert und die Gerichte seien sich alles andere als einig darin, wie die Vorfälle juristisch einzustufen seien: «Und da wollen uns zwei Gerichtsinstanzen weismachen, es liege kein schwerer, verwickelter Fall vor?» Der Verteidiger kann in seinem Argumentarium sogar Oberauditor Stefan Flachsmann zitieren, den höchsten Chef der schweizerischen Militärjustiz. Der Brigadier und frühere Strafverteidiger, der seit 1999 an der Universität Zürich Vorlesungen zum Militärstrafrecht hält, setzt sich für die Verstärkung der Verteidigerrechte im Militärstrafprozessrecht ein. Storrer befindet sich mit seinen Anträgen sozusagen in bester Gesellschaft.
Sein Klient hat im Übrigen schon früh damit begonnen, die Aussagen zu verweigern, was sein gutes Recht ist und ihm nicht zum Nachteil gereichen darf. Der Soldat fordert einen Freispruch. Wie die Geschichte für ihn enden wird, bleibt vorerst ungewiss. Sicher ist bloss: Die Überfälle auf die beiden schlafenden Kameraden waren ein kompletter Blödsinn. Eine Disziplinarstrafe haben die Übeltäter auf jeden Fall verdient, ob sie nun aktiv Beteiligte oder feixende Gaffer waren. Die beiden Opfer haben unnötig gelitten und einen Schrecken erlebt – doch auch die sieben beschuldigten Soldaten werden den Vorfall wohl ein Leben lang nicht vergessen. Christoph Storrers Klient beispielsweise hat durch die militärische Strafuntersuchung seine Arbeitsstelle verloren – weil die Geschichte noch vor dem ersten Prozesstermin in die Medien gelangte: mit den erwähnten, wenig schmeichelhaften Schlagzeilen. «So viel zur Unschuldsvermutung», sagt Rechtsanwalt Storrer.
Illustration: Friederike Hantel