Das Privileg des Herrn Furrer
Von Anna Miller, 09.10.2018
Ich stelle mich vor Herrn Furrer hin und sage Guten Morgen. Ich sage, ich möchte ein Heft kaufen, er sagt, das können Sie, sind Sie eine Heldin?
Nein, sage ich, oder ja, sind wir das nicht alle? Er verneint nicht. Ich sage, Herr Furrer, Sie machen das gut, ich bewundere Sie, Sie stehen jeden Tag hier, ein paar Stunden, egal, was das Wetter bringt, egal, was grade ist, Sie haben eine Arbeitsmoral, Sie haben Geduld, eine Lebensmoral, vielleicht eher.
Herr Furrer sagt, wissen Sie, ich stehe morgens gerne hier, das ist die beste Zeit, die Menschen haben dann ihren Chef noch nicht gesehen, das erleichtert die Dinge. Herr Furrer steht immer montags, dienstags, mittwochs da, Ausgang Rolltreppe Europaallee rechts, vor dem Platz, halb sieben bis halb zehn.
Und Sie, Herr Furrer, Sie? Er sei mal Fotograf gewesen, sagt Herr Furrer. Früher, das sei schon lange her. Und jetzt eben «Surprise»-Verkäufer, seit vier Jahren, routiniert, eine gute Stelle.
Herr Furrer steht ganz gerade, er hat blaue Augen, die sehr offen wirken, hell. Sie haben diesen weiten Ausdruck in sich, einen Ausdruck davon, dass sie sich nicht so rasch erschrecken lassen, von der Welt, dem Lärm des Morgens, von all den Pendlern, der tickenden Uhr. Herr Furrer schaut den Menschen nach, einem nach dem anderen.
Vielleicht ist es ein Glück für ihn, dass heute nochmals die Sonne scheint, obwohl, so wichtig ist das nicht, mit den Handy-Bildschirmen und den Kopfhörern. Aber die Leute haben grundsätzlich bessere Laune, wenn die Sonne scheint, sie sind dann weniger streng zu sich und manchmal auch netter zu anderen, dann kaufen sie Herrn Furrer eher ein Heft ab, und er kann dann drei Franken für sich behalten, immerhin drei Franken, obwohl, so viel kann man sich davon ja nicht mehr kaufen, an der Europaallee.
Wieso denn?, frage ich. Wieso hier, zwischen all diesen Anzugträgern, zwischen den Velo-Hipstern, zwischen den Festangestellten, die in ihre Büros rennen, den Kreativen, den Müttern, den Vätern, den Pensionierten an dieser Europaallee? Ich meine, natürlich, es ist schon klar, warum Leute Hefte verkaufen, sie werden wohl nicht die besten finanziellen Zustände kennen, grade, die Lebensgeschichte hat ihnen irgendwo eine Rechnung nicht ganz bezahlt.
Aber wieso scheinen Sie so glücklich dabei, Herr Furrer? Ihre Augen könnten weniger klar sein, weniger hell, weniger offen, in etwa so, wie die Augen der meisten, die ich grade in der S-Bahn sah, müde und matt.
Ich darf beobachten, sagt Herr Furrer dann. Ich beobachte, wie die Menschen rennen, ich beobachte, wie sich das Wetter ändert. Ich beobachte, wie sie sich alle bewegen, wo sie hinlaufen, ich beobachte die Küssenden und die, die streiten, ich beobachte, wie sie in ihre Smartphones tippen oder auf der Anzeigetafel die Zugverbindungen suchen. Wie sie älter werden, wie sie ihre Kleider wechseln. Ich höre ihnen zu, wenn sie von sich erzählen, ich stelle Fragen, und manchmal erzählen die Menschen von sich.
Ich habe Zeit für all diese Leute, die keine Zeit mehr haben, sich dieses Leben anzuschauen, das sich hier abspielt, während sie zur Arbeit hetzen. Und das, sagt Herr Furrer, das sei doch wirklich ein Privileg.