Die Widersprüche im Fall Villiger

Der Zuger Justizdirektor Beat Villiger wollte die Strafuntersuchung gegen ihn neu aufrollen lassen. Neue Dokumente decken weitere Ungereimtheiten auf – und setzen Fragezeichen hinter die Arbeitsweise der Staatsanwaltschaft.

Von Carlos Hanimann und Michael Rüegg, 03.10.2018

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Wem gehörte vergangenes Jahr Beat Villigers Auto? Diese Frage treibt spätestens seit Montag die Innerschweiz um. Denn darum drehen sich die Vorwürfe, die die Luzerner Staatsanwaltschaft bis Anfang dieses Jahres untersuchte.

Zunächst hiess es, der Wagen gehöre dem Zuger Justizdirektor und dieser habe ihn an eine ihm bekannte Person ausgeliehen. Die fuhr damit gleich zweimal im Abstand mehrerer Monate in eine Polizeikontrolle – und das ohne Führerausweis. Ins Visier der Luzerner Staatsanwaltschaft geriet deshalb auch der Besitzer des Wagens: Beat Villiger. Weil er sein Auto einer Person ohne Führerschein überlassen hatte.

Doch nach der zweiten Polizeikontrolle tauchte wie aus dem Nichts ein Kaufvertrag auf: Das Auto, das all die Monate Beat Villiger gehört haben soll, sei eigentlich nicht seins. Es gehöre der Person, die ohne Führerschein damit gefahren ist.

Die Luzerner Polizisten runzelten über diese Entwicklung die Stirn. Der Staatsanwalt Michael Bucher hingegen erkannte eine innere Logik: Die Person habe den Wagen das zweite Mal ohne Villigers Erlaubnis entwendet. Mit dieser Erklärung gab er sich zufrieden, wie man einem Radiointerview entnehmen konnte.

Bloss: Warum hätte die Person überhaupt um Erlaubnis bitten sollen, wenn der Wagen doch ihr gehörte? Und wenn das Auto während dieser Zeit nicht CVP-Regierungsrat Villiger gehörte, weshalb war er Halter und fuhr nach eigenen Angaben auch damit herum?

Nachdem die Republik am Montag – unter Berücksichtigung einer super­provisorischen Verfügung – über den Fall Villiger berichtet hatte, meldete sich Beat Villiger zu Wort. Schriftlich, mit einem Communiqué.

Doch statt Klarheit zu schaffen, machte Villigers Stellungnahme die Sache noch diffuser. Der CVP-Regierungsrat Villiger, der sich am Wochenende für eine vierte Legislatur zur Wahl stellt, ging nur eingeschränkt auf die Vor­würfe in der Strafuntersuchung ein. Dafür erklärte er, er habe die super­provi­so­rische Verfügung gegen die Republik erwirkt, «damit nicht falsche Anschuldigungen gegen mich verbreitet werden».

Villiger schrieb, die Republik habe «eine zurückliegende, abgeschlossene Strafuntersuchung» publik gemacht. Damit erweckte er den Eindruck, die Angelegenheit sei längst Vergangenheit und nicht weiter von Belang.

Recherchen zeigen aber, dass der Fall für Villiger selbst noch vor wenigen Tagen alles andere als abgeschlossen war: Während der Zuger Justizdirektor den offiziellen Kontakt mit der Republik vor rund zehn Tagen abbrach und seine Medienanwältin mit rechtlichen Schritten drohen liess, war er im Hintergrund in eigener Sache aktiv.

Die Bitte, noch einmal hinzuschauen

Anfang vergangener Woche meldete sich Beat Villiger von sich aus bei der Luzerner Staatsanwaltschaft. Er wollte wissen, ob sie das Verfahren zwecks Überprüfung nicht neu aufrollen könnte. Die Staatsanwaltschaft Luzern bestätigt diesen Vorgang auf Anfrage.

Ein erstes Mal habe Villiger die Luzerner Strafverfolger Anfang September angerufen, als er darüber informiert worden war, dass die Republik Einsicht in die Einstellungsverfügung verlangte. «Er wurde darauf hingewiesen, dass er sich bei Fragestellungen an seinen Anwalt halten solle», schreibt der Sprecher der Luzerner Staatsanwaltschaft, Simon Kopp, in einer Stellung­nahme. «Es ist richtig, dass Beat Villiger trotzdem mit diesen Fragen erneut die Staatsanwaltschaft telefonisch kontaktierte. Beat Villiger wurde beschie­den, dass das Verfahren abgeschlossen sei und die Staatsanwaltschaft zu diesen Fragen daher keine Stellung beziehe.» Für die Staatsanwaltschaft sei eine Wiederaufnahme des Verfahrens nie ein Thema gewesen.

Warum bemühte sich Villiger vor Kurzem noch darum, das Verfahren neu aufrollen zu lassen, wenn er bald darauf verlauten liess, es handle sich um eine «zurückliegende, abgeschlossene Strafuntersuchung»? Wie kommt es, dass ein Beschuldigter an einer Einstellungsverfügung im eigenen Fall zweifelt? Schliesslich sind damit alle strafrechtlichen Vorwürfe vom Tisch.

Auch das ist eine von vielen Besonderheiten in diesem Fall.

Als Beilagen zur superprovisorischen Verfügung hat die Republik zusätzliche Unterlagen aus den Akten zum Fall erhalten. Diese bringen neue Details und neue Widersprüche in den Methoden der Luzerner Strafverfolger ans Licht.

Mai, Juni, Mai, Juni

Die Recherchen waren fast abgeschlossen: Die Republik hatte Akten studiert, Experten befragt, die Staatsanwaltschaft Luzern konfrontiert und auch zwei Interviews mit Beat Villiger selber geführt. Doch eine Frage liess sich bis zum Schluss nicht eindeutig klären: Wann hatte Villiger den im November aufgetauchten Kaufvertrag für sein Auto aufgesetzt und unterzeichnet?

Die Frage ist zentral: Hat Villiger den Wagen tatsächlich am 15. Mai 2017 verkauft, wie er in seiner jüngsten Stellungnahme schreibt? Noch bevor er ins Visier der Justiz geriet? Oder wurde der Vertrag erst nachträglich erstellt?

Vergangenes Jahr hatten die Luzerner Strafverfolger gegen Beat Villiger ermittelt – und das Verfahren schliesslich rechtskräftig eingestellt. Für Beat Villiger gilt die Unschuldsvermutung. Zweimal war der CVP-Regierungsrat dabei erwischt worden, wie er seinen Wagen einer Person überlassen hatte, die keinen Führerschein besass. Erklärte er den ersten Vorfall Ende Juli 2017 noch mit Nachlässigkeit, sah er sich nach dem zweiten Vorfall Mitte Novem­ber mit einer unangenehmen Frage konfrontiert: Wie konnte es sein, dass Villiger denselben Fehler zweimal machte?

Es ist die eingangs erwähnte Rechtfertigung: Die andere Person habe den Wagen ohne Villigers Wissen behändigt und sei damit gefahren. Diese Aussage erachtete die Staatsanwaltschaft als derart glaubwürdig und zentral für ihre Ermittlungen, dass sie danach ihre Untersuchungen einstellte.

Doch: Die Aussage fördert einen offenen Widerspruch zutage. Warum sollte jemand den ehemaligen Besitzer um Erlaubnis bitten, das eigene Auto zu lenken?

Die Einvernahmen

Die Untersuchungsakten verstärken diesen Widerspruch. Sie lassen daran zweifeln, dass der Vertrag tatsächlich Mitte Mai abgeschlossen wurde. Und sie legen nahe, dass die Staatsanwaltschaft Luzern ihrer Arbeit nur ungenü­gend nachging. Aus vier Gründen:

Erstens: das lange Schweigen.

Beide Beschuldigten wurden nach der ersten Kontrolle zur Einvernahme geladen. Bis im November erwähnte niemand gegenüber Polizei oder Staatsanwaltschaft, dass ein Kaufvertrag existiere. Im Gegenteil: Beat Villiger bestand noch im Sommer darauf, dass es sein Auto sei.

Staatsanwalt: Gemäss polizeilichen Ermittlungen sind Sie der Fahrzeughalter des [Wagens]. Trifft das zu?

Beat Villiger: Ja.

Staatsanwalt: Von wem wird der Personenwagen (…) üblicherweise benutzt?

Villiger: Von mir.

Auszug aus dem Protokoll der Einvernahme von Beat Villiger vom 25.09.2017.

Zweitens: Aussage gegen Aussage.

Nachdem die Person mit Villigers Wagen im November zum zweiten Mal kontrolliert worden war, präsentierte sie der Polizei den Kaufvertrag. Gemäss Untersuchungsakten sagte sie, der Vertrag sei erst nach dem ersten Vorfall im Sommer erstellt worden. Also nicht am 15. Mai, wie es im Vertrag – und in Villigers Communiqué – heisst.

Staatsanwalt: Die Person teilte am 21.11.2017 der Luzerner Polizei mit, dass sie im Besitz eines Kaufvertrags für den Personenwagen (…) sei; dieser Vertrag sei nach dem Vorfall vom 29.07.2017 erstellt worden [Vorhalt Vertrag]. Der Vertrag datiert aber vom 15.05.2017. Wann wurde dieser Vertrag nun effektiv ausgestellt?

Beat Villiger: Es gibt nur einen Vertrag. Wir waren uns zuerst über Preis und Übergabe nicht ganz einig. Der Vertrag wurde sicher vor dem ersten Vorfall abgeschlossen, das auf jeden Fall. Ich weiss es nicht mehr. Aber das, was die Polizei schrieb, (…), so etwas würde ich nie tun.

Auszug aus dem Protokoll der Einvernahme von Beat Villiger vom 22.01.2018.

Drittens: die Nachlässigkeit der Ermittler.

Staatsanwalt Michael Bucher müssen die Widersprüche in den Aussagen aufgefallen sein. Jedenfalls fragte er Villiger mehrmals, wann der Vertrag unterzeichnet wurde. Villiger sagte: «Ich müsste schauen, wann ich den Vertrag zum ersten Mal gemailt habe.» Und: «Ich werde das abklären.» Die Staatsanwaltschaft beliess es bei diesem Versprechen. Sie tätigte keine weiteren Untersuchungshandlungen und verlangte keine Belege für die Aussagen. Einen Monat nach der Einvernahme erliess sie die Einstellungs­verfügung.

Viertens: das Versehen.

Rund eine Stunde dauerte die Einvernahme von Beat Villiger am 22. Januar 2018. Als Villiger das Protokoll zur Durchsicht ausgehändigt wurde, entschied er sich, eine Ergänzung zu machen. Er sagte: «Das Datum des Vertrags kann nicht stimmen.» Und weiter: «Ich frage mich, ob das auf dem Vertrag nicht ‹15. Juni› heissen müsste.»

Staatsanwalt: Aber die Schrift ist Ihre auf dem Vertrag, der Vertrag wurde nicht abgeändert?

Beat Villiger: Das ist meine Schrift, ich war bei [der Person]. Wir haben den Vertrag noch abgeändert. Ich weiss, dass ich den Kilometerstand nicht genau hatte. Ob das Datum stimmt, kann ich nicht sagen, es war aber sicher vor den Sommerferien. Der Vertrag ist korrekt, da wurde nichts manipuliert oder abgeändert.

Auszug aus dem Protokoll der Einvernahme von Beat Villiger vom 22.01.2018.

Am Montag krebste Beat Villiger hinter seine früheren Aussagen zurück. In seiner Stellungnahme liess er verlauten, der Verkauf des Wagens sei «im Vertrag vom 15. Mai 2017 schriftlich festgehalten».

Was stimmt?

Gegenüber der Republik erwähnte Beat Villiger in einem Gespräch noch eine dritte Variante: Der Vertrag stamme eigentlich vom 4. Juni.

Die Republik hätte von der Luzerner Staatsanwaltschaft gerne gewusst, von welchem Vertragsdatum sie eigentlich ausgehe. Und wem in diesem Zeit­raum von Juli 2017 bis November 2017 der Wagen gehörte. Eine Antwort blieb sie uns bis zur Publikation schuldig.

Die Wahrheit kennt wohl nur Beat Villiger.

Villigers Anruf bei der Polizei

Noch bevor die ganze Sache ihren Anfang nahm, musste Beat Villiger etwas geahnt haben. Am 27. Juli, zwei Tage bevor die Polizei sein Auto zum ersten Mal kontrollierte, rief der Regierungsrat die Luzerner Kriminalpolizei an. Er wollte wissen, ob die Person, der er seinen Wagen geliehen hatte, fahrberechtigt sei. Aus Datenschutzgründen durfte die Polizei keine genauen Auskünfte erteilen. In der Einstellungsverfügung der Luzerner Staatsanwaltschaft heisst es denn auch, der Polizist habe «durchblicken» lassen, dass die Person nicht fahren dürfe.

Eine Beschönigung, wie jetzt Untersuchungsakten zeigen.

Um Villiger auf allfällige strafrechtliche Konsequenzen aufmerksam zu machen, erwähnte der Polizist, dass die Person keine Fahrberechtigung habe. Villiger habe daraufhin gesagt, «dass das ‹scheisse› sei». So steht es in einem Einvernahme­protokoll.

Villiger konnte also am 27. Juli 2017 wissen, dass er das Fahrzeug nicht hätte ausleihen dürfen. Statt Wagen und Schlüssel zu behändigen, liess er sich am 28. Juli von der Person eine schriftliche Bestätigung geben, dass sie fahr­berechtigt sei. Am 29. Juli wurde sie von der Polizei angehalten und kontrolliert.