Wie recht hat das Volk?
Es geht weder um Arbeitsplätze noch um fremde Richter. Der Kern der Selbstbestimmungsinitiative liegt in der Frage: Sollen wir über Initiativen abstimmen, die gegen übergeordnetes Recht verstossen?
Von Urs Bruderer (Text) und Adam Higton (Illustration), 02.10.2018
Es geht angeblich wieder einmal um alles oder nichts. Doch dafür wirken Simonetta Sommaruga und Johann Schneider-Ammann ziemlich apathisch, jetzt, wo der Endkampf beginnt.
Der FDP-Bundesrat hält sich an seinen vielen Redekärtchen fest, auf denen etwas steht von brummender Wirtschaft, von Arbeitsplätzen und 600 gefährdeten Handelsverträgen. Auch Justizministerin Sommaruga spricht von der Exportnation Schweiz. Ein einziges Mal erwähnt sie den Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg, auf Italienisch. «Ein gefährliches Experiment, schadet der Schweiz, schadet der Wirtschaft», schliesst die SP-Magistratin und schaut ernst, traurig oder müde auf die Journalisten vor ihr. Die haben gerade mal zwei Fragen – und die bundesrätliche Auftakt-Offensive gegen die Selbstbestimmungsinitiative verglüht, ohne auch nur eine Flamme geschlagen zu haben.
Die Regierung steigt in diese Abstimmung wie in ein weiteres Gefecht in einem alten Grabenkampf: ohne jeden Elan und mit den immer gleichen Waffen.
Auf Mehrheitskurs bleiben
Nichts Neues, auf beiden Seiten der Frontlinie. Die SVP legt sich einmal mehr mit dem Ausland an, warnt vor fremden Richtern, dem überbordenden Machtanspruch der EU und behauptet, dass sie als einzige Partei die Schweiz, ihren Stolz und ihre Eigenarten verteidige. Ihre Gegner warnen wie immer bei solchen Attacken (Bilaterale II, EU-Osterweiterung, Masseneinwanderung) vor grossen wirtschaftlichen Schäden. Hat fast immer funktioniert, wird auch diesmal funktionieren.
SVP-Nationalrat und Rechtsprofessor Hans-Ueli Vogt hat sich den Text der Initiative ausgedacht. Er setzt ein sportlich-gequältes Lächeln auf, wenn er hört, dass Bundesräte behaupten, 600 Wirtschaftsverträge seien wegen seiner Initiative in Gefahr. Unsinn sei das. «Diese Verträge hätten gar nicht abgeschlossen werden dürfen, wenn sie der Verfassung widersprächen.» Ihn enttäuscht, wie am eigentlichen Gehalt der Initiative vorbei diskutiert wird. «Im Kern geht es um den Erhalt der direkten Demokratie, darum, dass die institutionelle Politik auf Kurs der Mehrheit der Bevölkerung bleibt», sagt er.
Vogt sieht einen zentralen Hebel des Schweizer Politsystems in Gefahr. Dieser Hebel ist die Volksinitiative. Mit ihr kann die Bevölkerung die oberste gesetzliche Ebene gestalten, die Verfassung. Denn jede angenommene Initiative führt zu neuen oder abgeänderten Verfassungsartikeln. Dieser Hebel werde immer stärker eingeschränkt, findet Hans-Ueli Vogt.
Er erwähnt ein viel diskutiertes Bundesgerichtsurteil aus dem Jahr 2012: «Eine massive Beschränkung der Volksrechte, denn mit diesem Urteil zwingt das Bundesgericht das Parlament, einen Verfassungsauftrag nur im Rahmen des internationalen Rechts umzusetzen, auch wenn ein Volksentscheid sich gerade gegen eine Vorschrift des nicht zwingenden internationalen Rechts richtet.»
Volksrechte über alles?
Der Verfassungsauftrag, um den es damals ging, war die von der SVP lancierte und von der Bevölkerung angenommene Ausschaffungsinitiative. Der Hebel funktionierte: In der Verfassung steht seither, dass Ausländer, die wegen bestimmter, auch kleinerer Vergehen verurteilt wurden, ohne Wenn und Aber aus der Schweiz verwiesen werden müssen.
Doch wenn der Hebel ein Gaspedal war, dann drückte das Bundesgericht jetzt auf die Kupplung: Der Motor heulte auf, aber das Auto fuhr nicht, oder nicht so, wie die SVP sich das vorstellte. Denn die Initiative verstiess gegen das Völkerrecht, das kein «ohne Wenn und Aber» zulässt, sondern verlangt, dass in jedem Fall geprüft wird, ob eine Ausweisung verhältnismässig und zumutbar ist.
Auf der einen Seite die von der Bevölkerung gewünschte neue Bestimmung in der Verfassung; auf der anderen das Völkerrecht, das die wortgetreue Umsetzung einer solchen Bestimmung nicht zulässt. Und dazwischen das Bundesgericht, das sagte: Das Völkerrecht ist mächtiger als der Wille des Volkes. Tatsächlich hat das Parlament dann eine in der Initiative – und also auch in der Verfassung – nicht vorgesehene Härtefallklausel eingeführt. Und die wirkt: Die Zahl der des Landes verwiesenen Ausländer ist nur um wenige hundert gestiegen und nicht um einige tausend, wie während des damaligen Abstimmungskampfes erwartet.
Für Hans-Ueli Vogt bringen die Bundesrichter das internationale oder Völkerrecht in Anschlag gegen den Willen des Volkes. Mit seiner Initiative will er das ändern. «Die Bundesverfassung steht über dem Völkerrecht und geht ihm vor», hielte die Verfassung neu fest. «Ich will, abgesehen vom zwingenden Völkerrecht, keine Einschränkung der Volksrechte», sagt der Rechtsprofessor.
Das Volk darf sich demnach keine Völkermorde wünschen, keine Sklaverei und keine Folter – sonst aber fast alles. Da droht ein Konflikt mit der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg. Denn der EGMR zwingt die Schweiz zur Einhaltung auch des nicht zwingenden Völkerrechts – egal, was in der Verfassung steht.
Hans-Ueli Vogt hält diesen Konflikt für überschätzt. Die Verfassung stimme mit der Menschenrechtskonvention überein. Probleme gebe es nur, wenn die Strassburger Richter die EMRK so auslegten, dass diese der Verfassung widerspreche. In solchen Fällen entscheidet sich Vogt für den Willen des Volkes: «Der Souverän hat im Gegensatz zu den 47 Strassburger Richtern die höhere demokratische Legitimation.»
Zu scharfe Verfassung
Tatsächlich tut sich das Parlament seit einigen Jahren schwer mit der Umsetzung von Initiativen. Das Berufsverbot für Pädophile, das Minarettverbot, die lebenslängliche Verwahrung von Sexualstraftätern oder die Masseneinwanderungsvorlage – all diese Initiativen hatten dreierlei gemeinsam: Sie kamen aus der SVP oder wurden von ihr unterstützt; sie wurden vom Volk angenommen; und sie mussten, als man sie in Gesetze goss, zum Teil stark zurechtgestutzt werden. Resultat: Die Gesetze erfüllen die Verfassung nicht. Oder andersrum: Die Schweizer Verfassung ist schärfer, als das Völkerrecht erlaubt – weil das Volk es so wollte.
Die SVP bedauert diese Konflikte zwischen in- und ausländischem Recht nicht, sie sucht sie mit ihren Initiativen und beutet sie aus. Die fremden Richter sind im Wahlkampf ihre besten Freunde, eine Zielscheibe, vor der sie sich mit ernster Miene als einzige wahrhaft patriotische Partei in Stellung bringt. Darum spricht die Partei auch in diesem Abstimmungskampf wieder von fremden Richtern.
Nur liegt sie diesmal damit völlig falsch. Denn eigentlich richtet sich ihre Initiative nicht gegen fremde Richter, sondern gegen ein Gericht in Strassburg, wo die Schweiz wie alle Mitglieder der EMRK einen Sitz hat. Vor allem aber kämpft die SVP jetzt gegen das Bundesgericht, also gegen die höchsten Richter der Schweiz und gegen die vielen Juristinnen, die deren Ansicht teilen: dass Völkerrecht vor Landesrecht gehe.
Ob das so sein muss, ist ein kontroverses Thema unter Juristen. Dasselbe gilt für die Frage, ob die Initiative von Hans-Ueli Vogt an inneren Widersprüchen leidet. Doch in den Schwaden der immer gleichen Nebelpetarde der SVP und unter dem juristischen Dickicht, das die Fachleute derzeit beschäftigt, berührt die Initiative einen wunden Punkt: Die Schweiz hält ihre Verfassung nicht ein.
Etikettenschwindel
«Das ist ein Problem», sagt nicht nur Hans-Ueli Vogt, sondern auch Giusep Nay, ein Mann vom anderen Ende des politischen Spektrums: Er war bis 2006 Bundesrichter und ist heute Mitglied des Club Helvétique, eines Zusammenschlusses sozialliberal eingestellter Intellektueller, die sich laut eigenen Angaben «die Pflege des eidgenössischen Staatsgedankens» vorgenommen haben. «Das Völkerrecht muss seiner Natur gemäss über dem Landesrecht der einzelnen Staaten stehen, sonst wäre es kein solches», sagt Nay. Und die Bundesverfassung sei bereits unser höchstes Gesetz und bestimme, welches Völkerrecht die Schweiz übernehme.
Die Initiative der SVP sei darum unsinnig und ein Etikettenschwindel. «Es geht nicht um Selbstbestimmung, sondern darum, den Rechtsstaat kaputt zu machen.» Man spürt seine Wut auch durchs Telefon.
Nay spricht von einer Anti-Menschenrechtsinitiative. Dies darum, weil die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) nicht mehr anwenden und darum kündigen müsste. Anders als Hans-Ueli Vogt hielte Nay das für verheerend. «Denn ja, die Menschenrechte stehen zwar auch in der Schweizer Verfassung. Aber wegen Artikel 190 können Schweizer Gerichte die Bürger nicht vor Bundesgesetzen schützen!»
Das bedeutet zum Beispiel: Wenn ein Bundesgesetz eine Form von Überwachung erlaubt, die das Menschenrecht auf Privatsphäre verletzt, kann man sich im Inland nicht dagegen wehren. Das Bundesgericht muss nämlich dem Bundesgesetz folgen und nicht der Verfassung. Schutz bietet in so einem Fall also nur die EMRK und letztlich der Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg. (Das Beispiel ist nicht hypothetisch, im Gegenteil: In der zweiten Abstimmung vom November über Sozialdetektive geht es um eine aus menschenrechtlicher Sicht wohl verbotene Form von Überwachung.)
Doch zurück zum eigentlichen Thema, zum Problem, dass das Volk zwar über den Hebel der Verfassung verfügt, dass der Hebel aber angeblich nicht richtig funktioniert, weil manche Initiativen nicht umgesetzt werden. Das darf nicht sein, findet auch Alt-Bundesrichter Giusep Nay. Nur schlägt er eine völlig andere Lösung vor als SVP-Nationalrat Hans-Ueli Vogt: «Das Volk wird hintergangen, wenn man es über etwas abstimmen lässt, das nicht umgesetzt werden kann.»
Solche Initiativen seien rechtsstaatswidrig und sollten nicht zur Abstimmung zugelassen werden, fordert Nay. Derzeit werden in der Schweiz aber nur Initiativen für ungültig erklärt, die gegen zwingendes Völkerrecht verstossen. Eine sehr niedrige Hürde.
Der Rechtsstaat muss den Rahmen vorgeben
Doch der Begriff des zwingenden Völkerrechts ist weniger klar, als er tönt. Als Kriterium für die Zulässigkeit von Initiativen wurde das zwingende Völkerrecht erst 1999 eingeführt. «Und es wurde damals ausdrücklich nicht im engen völkerrechtlichen Sinn verstanden, sondern in einem weiter gehenden eigenständigen Sinn unseres Staatsrechts», so Nay. Zum zwingenden Völkerrecht würde demnach alles gehören, was für einen demokratischen Rechtsstaat notwendig ist.
Die Grund- und Menschenrechte gehören zu diesen Notwendigkeiten. Initiativen, die sie verletzen, wären also nicht zulässig. Leider habe das Parlament diese weitere Auffassung des zwingenden Völkerrechts in der Praxis nie angewandt, sagt Nay. «Sonst hätte es die Ausschaffungsinitiative für ungültig erklärt, die ja dann auch nur beschränkt umgesetzt werden konnte.»
Giusep Nays Idee ist verblüffend einfach: Man muss den Willen des Volkes in die Schranken des demokratischen Rechtsstaates weisen. Es ist die Gegenthese zum Diktum der SVP, die behauptet, dass das Volk immer recht habe. «Das Volk hat nicht immer recht», sagt Nay und freut sich fast diebisch, dass er sagt, was in der Schweiz nur wenige zu sagen wagen.
Ihm als Alt-Richter geht dieser Satz natürlich leichter über die Lippen als Politikern und Politikerinnen, die sich vor dem drohenden Vorwurf fürchten, dass sie dem Volk den Mund verbieten wollten. Darum erleben wir jetzt diesen schiefen Abstimmungskampf, in dem alle so tun, als ob wir ein weiteres Mal zwischen Abschottung und wirtschaftlichem Erfolg wählen müssten.
Die richtige Debatte führen
Das ist nicht nur falsch, das ist eine vertane Chance. Die Selbstbestimmungsinitiative rüttelt an den Fundamenten des Rechtsstaates und des politischen Systems. Darüber sollte man reden.
Die Chancen stehen nicht schlecht, dass die SVP und ihre Initiative auch mit rechtsstaatlichen Argumenten besiegt werden können, das hat sich bei der Durchsetzungsinitiative gezeigt. Sie wurde im Namen des Rechtsstaates bekämpft und scheiterte klar. Jetzt sollte über die Grund- und Menschenrechte diskutiert werden und darüber, welche Volksinitiativen in der Schweiz nicht mehr zugelassen werden sollten.
So würde aus einer langweiligen Schlacht eine wichtige. Weil eine Debatte geführt würde, die die Voraussetzungen schafft, um das Gaspedal der direkten Demokratie – die Volksinitiative – endlich zu beschränken. Das Pedal würde dadurch nicht geschwächt, im Gegenteil: Bundesgericht und Parlament könnten den Fuss von der Kupplung nehmen. Und statt Motorgeheul wäre das Rauschen des Fahrtwindes zu hören.