Ein stilles Zeugnis der Sklaverei
Von Carlos Hanimann, 01.10.2018
Mitten in der Stadt St. Gallen, beim Autobahnanschluss Kreuzbleiche, wo heute ein Tunnel Richtung Restschweiz führt, stand einst am Fusse des Rosenbergs die Villa eines reichen Kaufmanns. Er hiess Jakob Laurenz Gsell. Sein Geld hatte er in Brasilien gemacht: mit Stoffimporten, Kaffeeexporten – und wohl auch mit dem Sklavenhandel.
Der junge Gsell stammte aus gutem Haus, sein Urgrossvater war Stadtrichter in St. Gallen gewesen, sein Grossvater Stadtammann, und als Jakob Laurenz Anfang zwanzig war, stieg er im französischen Le Havre auf ein Schiff, das ihn während einer siebenwöchigen Überfahrt nach Rio de Janeiro brachte.
Das war 1836. Brasilien boomte, und viele Europäer flohen in der Hoffnung auf bessere wirtschaftliche Perspektiven nach Übersee. Aus dem transatlantischen Sklavenhandel war Brasilien noch nicht ausgestiegen, die Sklaverei noch lange nicht verboten (erst 1888 fand sie offiziell ihr Ende), in kein anderes Land waren so viele Sklaven deportiert worden wie nach Brasilien (rund 3 bis 4 Millionen Menschen). Alltag und Wirtschaft waren entsprechend geprägt, Brasilien war zu dieser Zeit «ein afrikanisches Land», wie der nigerianische Historiker Joseph E. Inikori konstatierte.
Bald gründete Jakob Laurenz Gsell mit einem anderen St. Galler in Rio das Unternehmen Billwiller, Gsell & Co. Ihr Geschäft laut der Wirtschaftshistorikerin Béatrice Veyrassat: Textilien, Kaffee, Sklaven.
In über hundert Briefen an seine Mutter, die seine Nachfahren glücklicherweise der Geschichtsforschung zur Verfügung stellten, schilderte Gsell seinen Alltag und die ständige Präsenz der Sklaverei: wie Schwarze ihm sein Essen brachten, wie er sich von ihnen auf die Ilha das Cobras rudern liess, um dort zu schwimmen, wie sie Früchte, Käse und andere Esswaren hinter ihm hertrugen. Und auch, wie er seine Reitpeitsche einsetzte: «Wenn ich nämlich meinem Schwarzen etwas befehle und der nicht sogleich gehorcht, husch, da zuckt etwas durch die Luft, und ein guter Hieb sitzt auf dem Rücken des Negers, das ist das beste Mittel zur Aufklärung des Plebs, oder ist das nicht so?»
Gsell war in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Historischen Schätzungen zufolge waren Schweizer von 1773 bis 1830 an der Deportation von rund 20’000 Sklaven beteiligt. Rechnet man Investitionen in Kolonialgesellschaften dazu, waren Schweizer an der Deportation von rund 172’000 Sklaven beteiligt, rund 1,5 Prozent des transatlantischen Handels. Die Verwicklungen waren vielfältig: von der Finanzierung des Dreieckhandels über die Verwaltung von Plantagen bis zum Besitz von Sklaven und der Niederschlagung ihrer Aufstände.
Gsell hatte mit Aufstandsbekämpfung wenig zu tun. Als 1842 auch im nahen São Paulo Aufstände ausbrachen, wurde er besorgt. Die Unruhen waren schlecht fürs Geschäft. Als 1850 eine Gelbfieberepidemie in Rio de Janeiro grassierte und den Bruder seines Geschäftspartners dahinraffte, beschloss Gsell schweren Herzens, Brasilien nach 16 Jahren zu verlassen.
Er kehrte zurück nach St. Gallen, aber nicht ohne einen Haussklaven. Gsell heiratete, gründete eine Familie mit acht Kindern und liess sich am Fusse des Rosenbergs eine Villa bauen. In St. Gallen wurde er Schulrat und Bürgerrat, er war Bezirksrichter und arbeitete für die Postverwaltung, er gründete die Helvetia-Versicherung mit und die Deutsch-Schweizerische Kreditbank.
Jakob Laurenz Gsell starb 1896, seine Villa wurde verkauft, 1967 abgerissen.
Übrig bleiben einzig die Mauer einer späteren Einfriedung und ein Tor, das im Alltag nicht weiter Beachtung findet. Ein stilles Zeugnis der Sklaverei, das leise vor sich hinrostet.
Quelle: Hans Fässler, «Reise in Schwarz-Weiss. Schweizer Ortstermine in Sachen Sklaverei», Rotpunktverlag, 2005.
Unter diesem Titel erscheinen in loser Folge Anekdoten zur Schweizer Geschichte. Hier gehts zur Sammlung der bisher erschienenen Beiträge.
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