Die letzte Juristin
Von Urs Bruderer und Dennis Bühler, 27.09.2018
Seit 12 Jahren ist sie im Bundesrat, seit 21 Jahren in der Politik. Was die Schweiz in dieser Zeit vergessen hat: Doris Leuthard ist eigentlich Juristin.
Sie arbeitete als Anwältin, bis sie sich für die Politik entschied. Längst hat sie die äusseren Merkmale abgelegt, die man mit ihrem ursprünglichen Beruf verbindet: Ihre Sprache ist hemdsärmlig geworden, ihr Umgang mit Worten alles andere als genau. Juristische Schärfe oder gar Brillanz liess sie nie aufblitzen, und das wohl bewusst – Juristen sind nicht beliebt.
Es gab Zeiten, da bestand der Bundesrat aus sieben Juristen. Noch zu Beginn dieses Jahrtausends verfügte diese Berufsgattung über die absolute Mehrheit in der Regierung. Und heute? Sitzen neben Leuthard im Bundesrat: ein Buchhalter (Ueli Maurer), ein Weinbauer (Guy Parmelin), eine Pianistin (Simonetta Sommaruga), ein Ökonom (Alain Berset), ein Unternehmer (Johann Schneider-Ammann) und ein Arzt (Ignazio Cassis). Mit Leuthards Abgang droht dem Bundesrat der komplette Verlust seines juristischen Gewissens.
Zwar hat auch sie sich längst ein volksnahes Auftreten zugelegt. Aus der Anwältin wurde eine Politikerin. Regieren sei nicht verwalten, sondern gestalten, fasst sie ihre Maxime zusammen. Im Amt hat sie eine gesunde Faszination für Macht entwickelt. Und das dazu passende Lachen, das ihr nie zu vergehen scheint und das für ihr Gegenüber eher gefährlich ist als freundlich – und tödlich im Verbund mit ihrer Dossiersicherheit, die ihr wenn nicht Lob, so doch Respekt und Bewunderung von allen Seiten eingetragen hat.
Aber innerlich blieb Leuthard eine Juristin. Auch ihre Hartnäckigkeit hängt mit ihrem Beruf zusammen: Man muss als Anwältin jeden Paragrafen kennen, um nicht auf dem falschen Fuss erwischt zu werden. Dass der Bundesrat mit ihr diese Qualitäten zu verlieren droht, ist gefährlich.
Denn die juristisch gewiefte Verwaltung hat ihre Macht in den letzten Jahrzehnten ausgebaut. Sie steuert den politischen Prozess inzwischen auf vielerlei Art. Mit Studien bereitet sie gezielt den Boden vor wichtigen Entscheidungen; die Verordnungen, die im Detail regeln, was in der Schweiz gilt, sind ihr Werk; und wenn ihr ein Beschluss von Regierung und Parlament nicht zusagt, hintertreibt sie ihn oder verzögert die Umsetzung.
Die zunehmende Komplexität, die Anforderungen des europäischen Rechts und der internationalen Beziehungen haben zu einer Verrechtlichung der Politik geführt. Dies verschafft der Verwaltung mit ihren Fachleuten einen Vorsprung. Umso wichtiger, dass jene, die die strategischen Entscheide fällen, rechtliches Wissen mitbringen. Im Dezember muss darum nicht nur mindestens eine Frau, sondern auch mindestens eine Person mit juristischem Sachverstand in den Bundesrat gewählt werden.
Für die FDP macht vermutlich Karin Keller-Sutter das Rennen, eine ausgebildete Konferenzdolmetscherin und ehemalige Berufsmittelschullehrerin. Ein Glück, gibt es in der CVP Juristen mit Wahlchancen.
Parteipräsident Gerhard Pfister gehört nicht zu ihnen; er hat früher Literatur und Philosophie unterrichtet. Aber der Solothurner Ständerat Pirmin Bischof erfüllt das Kriterium genauso wie Graubündens Ständerat Stefan Engler, Appenzell Innerrhodens Nationalrat Daniel Fässler, St. Gallens Regierungsrat Benedikt Würth und die beiden aussichtsreichsten CVP-Kandidatinnen: Die Walliser Nationalrätin Viola Amherd ist Anwältin und Notarin, die Baselbieter Nationalrätin Elisabeth Schneider-Schneiter hat den Titel lic. iur.
Doris Leuthard hat an ihrer Rücktrittsmedienkonferenz mit keinem Wort an ihre berufliche Vergangenheit erinnert. Aber sie machte eine wichtige Bemerkung zur Zukunft des Bundesrates: Die Landesregierung brauche wirklich unabhängige Personen, um gut zu funktionieren. Zu viel Parteipolitik sei nicht gut für das Land.
Es ist kein Zufall, dass diese Warnung vor der Polarisierung von ihr kam – einer Frau, die während ihres Jusstudiums gelernt hatte, systemisch zu denken, für das Ganze also. Auch wie wichtig dieses Denken ist, hat die Schweiz in den letzten Jahren vergessen.
Juristen mögen unbeliebt sein, doch der Politbetrieb hat sie nötig.