Der unerhörte Klang des Friedens
Von Michael Rüegg, 27.09.2018
Freitag vor meinem letzten Wochenende in New York. Ich sitze in der U-Bahn Richtung Midtown, auf dem Weg zum Sitz der Vereinten Nationen. Wäre ich etwas früher aufgestanden, hätte ich der Glockenzeremonie im Japanischen Garten beiwohnen können. Jeden 21. September wird am Morgen am Uno-Hauptsitz aus Anlass des Weltfriedenstages eine Glocke geläutet.
Während die Glocke am East River hallt, hört man in der U-Bahn in East Harlem ganz andere Töne. «Gottverdammt, könnt ihr uns nicht erst aussteigen lassen?», flucht eine Frau mit lauter Stimme. Gut, sie stand erst von ihrem Sitz auf, als die Türen bereits geöffnet waren. Aber sie war nun einmal wütend, und irgendwer musste als Adressat ihres Ärgers herhalten. Und weil ihre Wut richtig stank, schob sie auf ihrem Weg pöbelnd die anderen Pendlerinnen an.
Dann geht am anderen Ende des Waggons ein Geschrei los. Eine junge Frau und ein Mann mittleren Alters bekeifen sich. Offenbar geht es um einen Kopfhörer und einen Ellbogen im Gesicht. Mehr ist in der Hitze des Gefechts nicht zu erfahren. Die Frau droht, dem Mann eine reinzuhauen, und verlangt, dass irgendwer die Polizei rufe. «Verflucht, wieso tut keiner von euch was?», schimpft sie in den Wagen, während der Mann sie anschreit. Wie zwei Boxer im Ring tänzeln die beiden voreinander, mit den Fäusten zuckend. «Die Schlampe ist heftig drauf», kommentiert eine Teenagerin das Geschehen.
Derweil verstummt am East River die Glocke und läutet damit den Weltfriedenstag ein.
Ach Frieden, du zartes Pflänzchen. Mögen deine Wurzeln dereinst in die Tiefen des menschlichen Miteinanders in den U-Bahn-Schächten reichen.