Geld oder Leben?
Der bundeseigene Rüstungskonzern Ruag fertigt Waffen für die Schweizer Armee – und will wieder an dubiose Regimes liefern. Wie ist es so weit gekommen?
Von Elia Blülle und Dennis Bühler, 26.09.2018
«Together ahead» – der Ruag-Slogan könnte auch am Portal einer evangelischen Freikirche stehen oder auf der Lederjacke eines Rockers. Es ist ein seltsam beschönigendes Motto für eine Firma, die Handgranaten und Minenwerfer produziert.
Zusammen vorwärts. Aber wohin und mit wem?
Dieser Frage hing bereits Adolf Ogi nach, als er im November 1998 aus vier staatlichen Waffenschmieden die Aktiengesellschaft Ruag zimmerte. An der festlichen Taufe verkündete der damalige Bundesrat, begleitet von einer Dixieland-Band, dass der internationale Markt nun endlich offenstehe. Die Ruag breche zu einer Entdeckungsreise auf, wie es einst Christoph Kolumbus getan habe.
Zwanzig Jahre später treibt die Ruag mit zerrissenen Segeln auf offener See. Der bundeseigene Waffenkonzern fährt von einem Sturm in den nächsten. Im vergangenen Jahr stürzte der Gewinn um ein Viertel ab. Im Frühling des laufenden Jahres wurde bekannt, dass ein Ruag-Manager und der Moskau-Chef der Bank Julius Bär unbemerkt die Leibgarde von Wladimir Putin mit Waffen eingedeckt hatten. Vor einigen Wochen tauchten Bilder auf, die Ruag-Handgranaten auf dem Schwarzmarkt im libyschen Tripolis zeigen. Und es drohen weitere Gewitter.
Eine unbequeme Grundsatzdebatte steht an: Soll eine bundeseigene Firma Waffen in Bürgerkriege verkaufen dürfen, um sich aus der wirtschaftlichen Misere zu befreien?
Ein Messer für Jack the Ripper?
Bis anhin hat das Gesetz die Auslieferung von Waffen in Konfliktregionen verboten. Es galt für den Handel mit Bürgerkriegsparteien dasselbe wie für den Umgang mit Risikostraftätern: Jack the Ripper drückt man auch dann kein Messer in die Hand, wenn er hoch und heilig verspricht, damit nur Karotten zu schneiden.
Die Schweiz scheute das Risiko, dass Kriegsmaterial auf Umwegen zu Terroristen gelangt oder Militärs die gelieferten Waffen doch gegen Zivilisten einsetzen. Für die Ruag und die private Rüstungsindustrie ist das ein Problem.
Seit 2008 haben die Staaten des Nahen Ostens ihre Importe mehr als verdoppelt. In den vergangenen fünf Jahren wurde weltweit fast jede dritte Waffe in diese Region verkauft. Während andere westliche Firmen das grosse Geschäft machten, lehnte der Bundesrat ein Exportgesuch nach dem anderen ab. In vielen Fällen wurde nicht einmal ein Gesuch gestellt. Zu aussichtslos schien das Unterfangen. So sah die Ruag Anfang Jahr davon ab, Katar eine Verkaufsofferte für Cobra-Minenwerfer zu unterbreiten, da das Wüstenemirat im Jemen gegen Huthi-Rebellen kämpft. Ein Millionengeschäft kippte bereits im Planungsstadium.
«Befremdlich» vs. «verständlich»
Im Herbst 2017 hatte die Schweizer Rüstungsindustrie genug. Dreizehn Chefs konkurrenzierender Unternehmen entschlossen sich, gemeinsam einen Bittbrief an die Sicherheitspolitische Kommission des Ständerates zu schreiben.
Im Brief war zu lesen, dass die Existenz der gesamten Schweizer Wehrindustrie akut gefährdet sei. Wenn nicht rasch etwas geschehe, stünden Tausende von Arbeitsplätzen auf dem Spiel. Einbussen im Heimmarkt und in Europa müssten in anderen Märkten kompensiert werden können, forderten die Waffenchefs. Dazu brauche es eine mit unseren Nachbarländern vergleichbare Exportpraxis.
Eine Unterschrift unter dem Brief ist brisant. Denn sie gehört Ruag-CEO Urs Breitmeier. Wir fragen: Ist es Aufgabe eines bundeseigenen Unternehmens, sich derart offensiv in die Gesetzgebung einzumischen?
Nein, finden viele linke Politiker. Als «sehr heikel» bezeichnet die Intervention die Genfer Grünen-Nationalrätin Lisa Mazzone, als «befremdlich» die Zürcher SP-Nationalrätin Priska Seiler Graf. Beide sind Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission. Als weniger problematisch erachtet solches Lobbying die bürgerliche Parlamentsmehrheit. Isidor Baumann, CVP-Ständerat, findet: «Es ist verständlich, dass der Ruag-CEO sich in die Politik einbringt und das Beste für sein Unternehmen herauszuschlagen versucht.»
Derselben Meinung ist man auch bei der Ruag. Eine Sprecherin des Unternehmens erklärt auf Anfrage, die Ruag stehe nicht am Ursprung des Schreibens. Sie habe es aber als ihre Pflicht erachtet, sich als Teil der Schweizer Industrie für die Bedürfnisse der Branche einzusetzen.
Weihnachtsgrüsse aus der Waffenschmiede
Die Lobbyarbeit beschränkte sich nicht auf diesen einen Bittbrief. Wenige Wochen nachdem die Rüstungsindustrie an die Sicherheitspolitische Kommission gelangt war, verschickte die Ruag Weihnachtskarten an die Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Jene an Mazzone war unterzeichnet mit: «Ruag und all ihre Mitarbeitenden in der Romandie».
Für Mazzone war das Signal klar: «Wir sollten im Hinblick auf die Debatte um die Anpassung der Kriegsmaterialverordnung wissen, dass in unserer Region viele Arbeitsplätze an der Ruag hängen.»
Das intensive Lobbying von Ruag und Rüstungsindustrie zahlte sich aus. Im Juni dieses Jahres passte der Bundesrat die Kriegsmaterialverordnung (KMV) an, um die wirtschaftlichen Aussichten der Rüstungsindustrie zu verbessern.
Wie es die Schweizer Industrie gefordert hat. Fortan soll sie dieselben Handelsbedingungen geniessen wie ihre europäische Konkurrenz. Der Bundesrat tauschte ein paar Wörter und verschob zwei Kommas. Das Resultat: Künftig sollen Rüstungsunternehmen Waffen wieder an Länder liefern dürfen, die in Bürgerkriegen stecken – sofern sie nicht im bewaffneten Konflikt eingesetzt werden.
Die Sicherheitspolitischen Kommissionen von National- und Ständerat winkten die Verordnungsänderung durch. Dass es heute Mittwoch im Nationalrat erneut zu einer Diskussion kommt, ist den Grünen, der SP, der BDP, der GLP und der CVP zu verdanken. Sie haben eine solche verlangt – und drohen mit einer Volksinitiative. Online haben sich 47’000 Personen bereit erklärt, zu einem späteren Zeitpunkt je vier Unterschriften zu sammeln. Benötigt werden deren 100’000.
Oder doch lieber «Together apart»?
Für die bald zwanzigjährige Ruag ist die Aufweichung des Exportverbots ein vorgezogenes Geburtstagsgeschenk. Denn obwohl der Betrieb zu hundert Prozent dem Bund gehört und primär für die Versorgung der Schweizer Armee mit Munition und anderen Kriegsmaterialien zuständig ist, erwirtschaftet er mittlerweile über sechzig Prozent seines Umsatzes im Ausland.
Die Ruag führt Werkstätten in Deutschland, Brüssel, den USA. Mehr als die Hälfte der fast 9000 Angestellten arbeitet im Ausland. Neben Munition und Panzern fertigt sie auch Flugzeugteile und entwickelt in der Wüste von Nevada Bestandteile für eine neue Nasa-Trägerrakete. Den grösseren Teil ihres Einkommens verdient sie mittlerweile im zivilen Bereich. Aufträge der Schweizer Armee hingegen nehmen von Jahr zu Jahr ab. War das Verteidigungsdepartement früher für fast neunzig Prozent des Nettoumsatzes verantwortlich, stammt heute nur noch rund ein Drittel der Ruag-Aufträge vom VBS.
Dennoch ist es nach wie vor der Bundesrat, der die Finanzziele festlegt, die Strategie bestimmt und den Verwaltungsrat wählt. Er erwartet von der Ruag, dass sie dieselben Gewinne abwirft wie ein vergleichbares europäisches Rüstungsunternehmen. Macht sie einen Reingewinn von 89 Millionen Franken, zwackt der Bund 40 Millionen ab. Trotzdem wird die Ruag dafür kaum bevorteilt: Beschafft die Armee neues Material, muss sie sich wie ihre Konkurrenten dem Wettbewerb stellen. Einzig Aufträge zu Wartungs- und Unterhaltsarbeiten vergibt das Verteidigungsdepartement direkt und ohne Ausschreibung an die Ruag.
Wir fragen: Macht es so überhaupt noch Sinn, dass die Ruag zu hundert Prozent im Besitz der Eidgenossenschaft verbleibt?
Der Bundesrat ist sich nicht mehr sicher. Im Juni entschied er, die Firmenbereiche, die für die Armee zuständig sind, von den übrigen abzutrennen. Nachdem im Jahr 2016 Hacker über eine Ruag-Aussenstelle in die Betriebssysteme der Bundesverwaltung eingedrungen sind, sollen zur Sicherheit möglichst alle Verbindungen zwischen den beiden Sphären gekappt werden.
«Together apart» statt «Together ahead» – gemeinsam auseinander. Das ist es, was der Bundesrat plant. Bis Ende Jahr prüft er zudem die Teilprivatisierung des Auslandgeschäftes. Die Ruag «begrüsst und unterstützt das Projekt», wie eine Sprecherin sagt.
Kein Wunder: Eine Teilprivatisierung hätte für die Ruag-Ableger einen grossen Vorteil. Sie müssten sich im Ausland nicht mehr an Schweizer Gesetze halten. Die Errichtung einer Waffenfabrik in Saudiarabien oder der Export von Angriffswaffen aus den USA wäre plötzlich problemlos möglich.
Die beste Kuh im Stall
Gerne hätte die Republik mit den Verantwortlichen der Schweizer Rüstungsbetriebe gesprochen. Wir wollten wissen, wie schlimm es um die Industrie wirklich steht und weshalb eine solche Verordnungsänderung nötig sein soll. Steht sie doch der Schweiz schlecht an, die sich ihrer humanitären Tradition verpflichtet sieht.
Doch sowohl bei der in Zürich ansässigen Rheinmetall Air Defence als auch bei der nidwaldnerischen Pilatus Aircraft heisst es: Kein Kommentar.
Und hinter der eigenen Kommunikationsabteilung und deren dürren Antworten verschanzen sich auch die Konzernleitung und der Verwaltungsrat der Ruag. Interviews seien nicht möglich, da man sich als bundeseigener Betrieb nicht zu einer laufenden politischen Debatte äussern möchte.
Die Ruag und ihre Konkurrenten, die die Debatte angestossen haben, ziehen sich aus ihr zurück. Es ist der Industrie zu heiss geworden.
Ganz anders im Bundeshaus. Hier ist die Debatte voll im Gang: Es treffen pazifistische Moral auf technokratische Rationalität. Hört man sich um, wird klar, dass es den militärfreundlichen Politikern bei der Diskussion um Exportlockerungen nicht in erster Linie um den wirtschaftlichen Erfolg der Ruag und der restlichen Branche geht. Nein, ein viel höheres Gut steht auf dem Spiel: die Zukunft der Schweizer Armee.
Walter Müller, St. Galler FDP-Nationalrat und Mitglied der Sicherheitspolitischen Kommission, sagt, der Schweiz gehe es so gut, dass sie angesichts ihres Wohlstands gegenwärtig problemlos auf eine eigenständige Rüstungsindustrie verzichten könnte. «Aber man sollte die besten Kühe nicht aus dem Stall jagen, nur weil man sie gerade nicht dringend benötigt.»
Ein neutrales Land wie die Schweiz brauche eine Armee, die sich im Ernstfall selber versorgen kann, unabhängig von internationalen Interessen und Konzernen. Eine Truppe ohne eigenen Nachschub, ohne unabhängige Technologien wäre im Ernstkampf so schlagkräftig wie ein Ritter ohne Ross.
IS-Deals und Initiativen-Pläne
Heiligt also der Zweck die Mittel? Soll es der Ruag und ihrer Konkurrenz erlaubt sein, Waffen in Bürgerkriegsländer zu exportieren, um die Unabhängigkeit der Schweizer Armee zu garantieren? Diese Frage hat neuen Zunder bekommen, als der «SonntagsBlick» Anfang September Bilder veröffentlich hat, die Ruag-Granaten im Besitz syrischer IS-Terroristen zeigen. Eine Woche später machte dieselbe Zeitung bekannt, dass auch Handgranaten auf einer libyschen Schwarzmarkt-Plattform im Internet zirkulieren. Die entdeckten Waffen stammen mutmasslich aus einer Lieferung an die Vereinigten Arabischen Emirate aus dem Jahr 2003. Der Wüstenstaat gab einen Teil der Handgranaten verbotenerweise nach Jordanien weiter. Von dort gelangten sie nach Syrien und auf Umwegen auch nach Libyen.
Ob solche heiklen Deals mit Kriegsparteien in Zukunft wieder möglich sein sollten, wird der Bundesrat im Winter definitiv entscheiden. Er wartet die Diskussionen im Parlament ab. Fällt er seinen Entscheid wie bereits im Frühling zugunsten der Rüstungsindustrie, droht die Volksinitiative. Andere Anliegen, die ein generelles Exportverbot forderten, scheiterten zwar in den letzten Jahrzehnten jeweils deutlich. Doch heute ständen die Chancen gut. Im Gegensatz zu den vergangenen Abstimmungen ist die geplante Initiative breit abgestützt. Sie findet Support von der Bischofskonferenz bis zu linken Hausbesetzern. Gut möglich, dass die Ruag am Gewissen ihrer acht Millionen Aktionäre scheitert.
Debatte: Schweizer Waffen für Bürgerkriegsländer?
Wie soll die Schweiz die unabhängige Versorgung der Armee gewährleisten? In welche Länder soll die Ruag exportieren dürfen? Diskutieren Sie heute im Anschluss zur Ratsdebatte ab 14 Uhr mit Ständerat Isidor Baumann (CVP) und Nationalrat Balthasar Glättli (Grüne).